Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ≥ Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache Herausgegeben von Helmut Glück in Verbindung mit Ulrich Knoop und Jochen Pleines Wissenschaftlicher Beirat: Csaba Földes · Gerhard Helbig · Hilmar Hoffmann Barbara Kaltz · Alda Rossebastiano · Konrad Schröder Libusˇe Spa´cˇilova´ · Harald Weinrich · Vibeke Winge Band 3 Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002 Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001 Herausgegeben von Helmut Glück Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002 (cid:2)(cid:2)GedrucktaufsäurefreiemPapier, dasdieUS-ANSI-NormüberHaltbarkeiterfüllt. ISSN1610-4226 ISBN3-11-017541-X BibliografischeInformationDerDeutschenBibliothek DieDeutscheBibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschenNationalbibliogra- fie;detailliertebibliografischeDatensindimInternetüber(cid:2)http://dnb.ddb.de(cid:3)abrufbar. (cid:2)Copyright2002byWalterdeGruyterGmbH&Co.KG,D-10785Berlin DiesesWerkeinschließlichallerseinerTeileisturheberrechtlichgeschützt.JedeVerwertung außerhalbderengenGrenzendesUrheberrechtsgesetzesistohneZustimmungdesVerlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, MikroverfilmungenunddieEinspeicherungundVerarbeitunginelektronischenSystemen. PrintedinGermany Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Alda Rossebastiano, Turin Deutsch-italienische Vokabulare des 15.Jahrhunderts: Inhalt, Struktur, Zielgruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Oskar Pausch, Wien Lateinisch-deutsch-tschechische Vokabulare für Habsburger Regenten im 15.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Barbara Bruzzone, Bamberg Fremdsprachen in der Adelserziehung des 17.Jahrhunderts: Die Sprachbücher von Juan Angel de Sumara´n . . . . . . . . . . . . . . . 37 Sandra Miehling, Bamberg Matthias Kramer als Deutschlehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Zdenˇek Opava, Prag Bestseller in der frühen Neuzeit. Die verschiedenen Ausgaben des Gesprächsbüchleins von Ondrˇej Klatovsky´ (1540) . . . . . . . . . . . 57 Alena Sˇimeˇckova´, Prag Zum Dialog im tschechisch-deutschen Gesprächsbuch von Ondrˇej Klatovsky´ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Holger Klatte, Bamberg Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Libuˇse Spa´ˇcilova´,Olmütz Deutsch-tschechische Lehrbuchtraditionen in den böhmischen Ländern von 1740 bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 VI Inhaltsverzeichnis Vibeke Winge, Kopenhagen Wann wurde Deutsch eine Fremdsprache? Die Anfänge des Deutschunterrichts in Dänemark . . . . . . . . . . . . . 103 Helmut Glück, Bamberg Mittelalterliche Zeugnisse für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . 113 Quellen und Quelleneditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Vorwort Das Lateinische war im gesamten Mittelalter und noch lange danach, unter dem Einfluß von Humanismus und Reformation, die gemeinsame Mutter- sprache Europas und gleichzeitig die alles beherrschende Fremdsprache in Mittel-,West- undNordeuropa.Weil sieaber(fast)keines MenschenMutter- sprache war, mußte sie von jedem gelernt werden, der Zugang zu Bildung und geistigen Gütern haben wollte, auch zu solchen ganz elementarer Art. LangeZeitwardasLesen-undSchreibenlernennämlichgleichbedeutendmit Lateinunterricht, und jeder litteratus (wörtlich: jemand, der lesen und schrei- ben kann) konnte Latein, anders als der illiteratus, der analphabetische Unge- lehrte, derbeides nichtkonnte. Lange Zeitwar Lesen-und Schreibenkönnen dasPrivilegeinesStandes,derGeistlichen.DieLateinschulenwarengewisser- maßenBerufsschulenfürkünftigePriester,dievorallemdieLateinkenntnisse vermitteln sollten, die Geistliche für ihre eigentliche Ausbildung und für die spätere Ausübung ihres Amtes brauchten. Dieses Amt übten sie in lateini- scher Sprache aus: was sie lasen oder schrieben, waren lateinische Texte. Sprachlich geronnen ist dieser Sachverhalt in dem niederdeutschen Wort klerk, das zunächst niedrige Weltgeistliche, dann aber diejenigen bezeichnete, die in den Hansestädten und -kontoren den Schriftverkehr, die Verwaltung erledigten;imEnglischen undimNiederländischenlebtesals clerc,Schreiber, Büroangestellte(r), Buchhalter(in)‘ bzw. klerk ,dass.‘ bis heute fort. Es geht zurück auf lat. clericus ,Geistlicher‘. Neben den Lateinschulen entwickelte sich im deutschen Sprachraum seit demHochmittelalterallmählicheinNetzniedererSchulen,indenenmandas Deutsche lesen und schreiben und etwas Rechnen lernen konnte. Manche dieser deutschen Schulen boten auch lateinischen Elementarunterricht an, modern gesprochen Brückenkurse, die den Übergang an die Lateinschulen erleichtern sollten. Vergleichbare muttersprachliche Schulen gab es auch in anderen Sprachräumen. Moderne Fremdsprachen konnte man jedoch vor 1600 in ganz Europa fast nirgends in einer Schule lernen, weder an Latein- schulen noch an muttersprachlichen Schulen. Das muß man präzisieren: die Volkssprachen waren weder formelles Unterrichtsfach noch nennenswerter Gegenstand des Unterrichts, sie waren kein Lehrstoff (vgl. Glück 2002: 84-97). Dennoch wurden in ganz Europa schon immer jeweils ,moderne‘, VIII Vorwort ,lebende‘ Sprachen als Fremdsprachen gelernt (ich setze die Anführungszei- chen, um die große Relativität dieser Attribute anzudeuten: im 17. und 18.JahrhundertwardasLateinischeeinemoderne,lebendeSprache,während beispielsweise das Finnische, das Litauische oder das Slovenische gerade erst dabei waren, sich das Prädikat ,Sprache‘ zu erwerben und das Norwegische als Sprache verschwunden war - es erwarb sich diesen Status erst im 19.Jahrhundert wieder). Heute ist man darauf geeicht, beim Stichwort ,Lernen‘ das Stichwort ,Schule‘ mitzudenken. Für das Erlernen von Fremdsprachen gilt das ganz besonders.DieserSachverhalthatsichinderFachterminologiederSpracher- werbsforschung niedergeschlagen. Sie unterscheidet ,ungesteuerten‘ Fremd- sprachenerwerb vom ,gesteuerten‘ Fremdsprachenunterricht (vgl. die ein- schlägigen Artikel im MLS). Zwar ist diese Unterscheidung nicht sehr trenn- scharf, denn der ,ungesteuerte‘ Fremdsprachenerwerb enthält fast immer auch Momente von Steuerung (z.B. durch individuelle Lernstrategien, durch Fehlerkorrekturen, durch Antworten auf Fragen usw.). Anderseits bemühen sich Heerscharen von Didaktikern seit langem darum, dem ,gesteuerten‘ Fremdsprachenunterricht Spontaneität und Kreativität einzuhauchen, ihre Klienten zu Eigenaktivität zu veranlassen, ,das Leben‘ ins Klassenzimmer zu holen, kurz: dem Unterricht ,Authentizität‘ zu geben. Dennoch ist diese Unterscheidung brauchbar, denn sie betrifft etwas Wesentliches: auf der ,ge- steuerten‘SeitestehendasOrganisierte,Geregelte,Kontrollierte,aufder,un- gesteuerten‘ Seite das Improvisierte, Bastlerische, das der Trias von Versuch, Irrtum und korrigiertem Versuch unterworfen ist. Die Beiträge in diesem BandbefassensichehermitLetzterem,mitdemFreistil,wennicheineMeta- pher aus dem Ringersport bemühen darf, nicht mit dem zivilisierteren grie- chisch-römischenStil. ImZentrumsteht dieFrage, wievonwem warummit welchen Mitteln zu welchen Zwecken mit welchen Erfolgen seit dem Mittel- alter Volkssprachen (und namentlich das Deutsche) als Fremdsprachen er- worben worden sind. Man sollte die Unterscheidung, die im letzten Absatz skizziert worden ist, nicht über Gebühr strapazieren. Doch sei der Hinweis gestattet, daß die ,Schulen‘,dieimSpätmittelalterdamitbegannen,Volkssprachenzuunterrich- ten, natürlich im Freistil arbeiten mußten: woher hätten sie sich denn Gram- matiken,Wörterbücher,sprachdidaktischeAnweisungenholenkönnen,alses dasallesnochnichtgab?DieLehrerindiesenSchulenmußtenimprovisieren und ausprobieren und erst einmal herausfinden, was brauchbar war und was nicht. Man kann das gut studieren an der Präsentation des deutschen Verbs in den Sprachbüchern der frühen Neuzeit, bevor man die Ablautklassen ent- decktundetwasüberRektionwußte:diesePräsentationwarwidersprüchlich, Vorwort IX unsystematisch und geprägt von unermüdlichen Versuchen, sie didaktisch besserzumachenalsdiejeweiligenVorgänger.AussolchenGründenmöchte ichdenschulischenUnterrichtindenVolkssprachenbiswenigstens1750der ,ungesteuerten‘ Seite zurechnen. In diesen Schulen wurde nämlich improvi- siertundgebasteltundvoneinemVersuchzueinemIrrtum,dannzumnäch- sten Versuch und zum nächsten Irrtum, der aber oft schon nicht mehr ganz so irrig war wie sein Vorgänger, vorangegangen. Die Beiträge in diesem Band haben zwei klare geographische Schwer- punkte, nämlich Norditalien und die böhmischen Länder, und einen zeitli- chen Schwerpunkt, nämlich die frühe Neuzeit, die hier für das 15. bis 17.Jahrhundertangesetztwird.IndiesenbeidenNachbarsprachräumen(und in Polen) beginnt die Produktion von Lehrmaterialien für die Fremdsprache Deutsch am frühesten, und dort werden die ersten Schulen eingerichtet, in denen man sie lernen kann. Im 16.Jahrhundert kommen weitere Sprach- räumedazu,undim17.JahrhundertkannmanindenmeistenLändernEuro- pas Deutsch lernen, was sich daran zeigt, daß Lehrbücher für einzelne Ziel- gruppenverfaßtwerden,z.B.fürSpanier,UngarnoderEngländer,daßMen- schen aus diesen Ländern in den deutschen Sprachraum kommen, um Deutsch zu lernen und daß Sprachmeister sich ihren (bescheidenen) Lebens- unterhaltmitdemDeutschunterrichtverdienenkönnen(vgl.Schröder1980/ 1982, ders. 1985-1998, Glück 2002). Doch auch andere geographische Räume und andere Zeiträume spielen eine Rolle: Dänemark und das (z.T. historische) westslavische Sprachgebiet, das Mittelalter und der Beginn der Moderne. Das alles soll nun in der gebotenen Kürze erläutert werden. Die grande dame der neueren philologischen Forschung über vormodernes Fremdsprachenlernen, Alda Rossebastiano (Turin), eröffnet den Reigen mit ei- nem Beitrag über die ältesten deutsch-italienischen Sprachbücher, die gleich- zeitig die ältesten (größeren) Sprachbücher sind, die europäische Volksspra- chen miteinander verbinden, nämlich das Venezianische mit dem Bairischen und dem Alemannischen. Es sind keine Sprachbücher „für die Hand des Schülers“: die erhaltenen Handschriften des späten 14. und des 15.Jahrhun- derts wurden nicht benutzt, um damit Hausaufgaben zu machen oder Voka- beln zu lernen. Sie wurden von Lehrmeistern zusammengestellt, die die Er- fahrung gemacht hatten, daß man manchmal vergeßlich ist. Man muß diese Manuskripte verstehen als Gedächtnisstützen und Leitfäden, die der Lehrer verwenden konnte, wenn ihm eine Vokabel gerade nicht einfiel oder ein Flexionsschema nicht auf Anhieb präsent war. Außerdem enthielten sie Mu- sterdialoge, die man im Unterricht zur ,Sicherung‘ von gelerntem Stoff und zumÜbeneinsetzenkonnte.SolcheDialogekanneinerfahrenerLehrerzwar auch improvisieren, aber es ist doch besser, wenn er sie vorbereitet und in den Unterricht mitbringt.
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