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Die Verkehrte Welt: Literarische Ironie im 19. Jahrhundert PDF

217 Pages·1989·26.448 MB·German
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RALF SCHNELL DIE VERKEHKFE WELT Ralf Schnell DIE VERKEHRTE WELT Literarische Ironie im 19. Jahrhundert J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung Stuttgart Die Umschlagsabbildung gibt die allegorische Vignette des Humors wider, die E. T.A. Hoffmann 1814 als Titelzeichnung zur Erstausgabe des 2. Bandes der Fttntasiestücke in Callots Manierentworfen hat (vgl. auch die Erläuterung S. 39). CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schnell, Ralf: Die verkehrte Welt : literarische Ironie im 19. Jahrhundert I Ralf Schnell. - Stuttgart : Metzler, 1989 ISBN 978-3-476-00678-3 ISBN 978-3-476-00678-3 ISBN 978-3-476-03294-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03294-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheber rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni- schen Systemen. © 1989 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1989 INHALTSVERZEICHNIS VORWOKI' VII I. EINLEITUNG: Zum geschichtsphilosophischen Ursprung der frühromantischen Ironie-Konzeption 1 »Chaos<< 1· Selbstbewußtsein und Reflexion 5 ·Subjektivität· Objektivität 10 II. IRONISCHE ALCHEMIE Friedrich Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit 13 Exklusivität und ihre Kosten 15 · Scherz und Ernst 16 · Parodie und Selbstparodie 18 · Ironisierung der Ironie 19 ·Ironie und Religion 23 III. CHOREOGRAPHIE DER LEBENSKREISE E.T.A Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr 26 Selbstreflexion 26 · Montage 32 · Ironie 37 Jv. DAS LUSTSPIEL ALS TRAUERSPIEL Zur ironischen Struktur von Grabbes Komödie Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung 42 Szenisches und satirisches Element 43 · Verkehrung der »verkehrten Welt<< 47 · Lustspielwelt und »Welt als Lustspiel<< 49 · Ironie als Formprinzip 51 V. IRONIE UND URBANITÄ.T Adolf Glaßbrenner und das Berlin des Vormärz 55 Dichotomische Konstellationen 58· Zur Topographie des literarischen Vormärz 61 · »Regression<< 73 VI. »ABER IST DAS EINE ANTWOKI'?« Ironie in Heinrich Heines Romanzero 77 »LazaruS<< 80 · Zur triadischen Struktur des Romanzero 87 · Das Fragment der Zukunft 91 · Verschiedenartige Geschiehtsauffassung 94 · »Messias in goldenen Ketten<< 97 VII. BÜRGERLICHESPRACH-SPIELE Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel 101 Permanente Prii.zi.sierung 103· Sprachspiele 107· Personen und Perspektiven 112 · Bewegung und Stillstand 119 · Der ironische Subtext 125 VIII. KULTURPESSIMISMUS UND IRONIE Wilhelm Buschs Erzählung Eduards Traum 129 Reduktion und Entgrenzung 131· Traumstruktur und Wirklichkeit 137 · Kommentar und Konstruktion 143 · Macht und Ohnmacht der Ironie 146 IX. IRONIE ALS GEISTIGE LEBENSFORM Thomas Manns Novelle Tristan 148 Souveränität und Spiel 150· »Selbstzüchtigung<< als Selbstrettung 153 T'ristan und Wagner 156 · Ironie als Kunstprinzip 158 ·»Die Ironie der Dinge<< 161 X EPILOG Ironie und Revolte 164 Konfigurationen des ironischen Augenblicks 164 ·Ironisches Lachen 171· Open end 175 · Beilage: Der Ironiker-Versuch einer 'JYpologie 177 ANMERKUNGEN 178 LITERATURVERZEICHMS 197 PERSONENREGISTER 206 VORWOKI' »Ironie«, so klagte Theodor W Adorno Anfang der 50er Jahre, »geistige Beweglichkeit, Skepsis gegen das, was nun einmal da ist, hat nie in Deutschland hoch im Kurs gestanden.« Diesem Befund wird man - auch Jahrzehnte später - die Zustimmung kaum versagen können. Ironie, die Ausdrucksform der Uneigentlichkeit par excellence, setzt Distanz voraus, die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik, einen spielerischen Umgang mit Wirklichem und Möglichem, Vergangenern und Künftigem-Verände rungsenergien mithin, die sich mit Witz zu paaren verstehen und, nicht zuletzt, mit der Fähigkeit zu lachen. Daß dergleichen Thgenden in Deutschland uneingeschränkt in Geltung stehen, läßt sich kaum behaup ten. Zugleich jedoch scheint Adornos Befund dadurch historisch definiert, daß er selber von eben jenem Verdrängungsprozeß Zeugnis ablegt, den er beklagt. Denn daß der Kurswert der Ironie gering zu veranschlagen sei, besagt für ihre Geschichte, für ihre Entwicklung und Wandlung, selbst für ihre Wirkungen nicht viel. Im Gegenteil: Vielleicht besitzt jener Prozeß der Verdrängung seine Ursache gerade in den produktiven Ener gien, die jeder Form ironischer Äußerungkraft ihrer negatorischen Qua litäten eigen sind. In diesem Fall wäre ihre geringe öffentliche Geltung womöglich ein Indiz ihres subversiven Fortwirkens, ihre notorische Unterschätzung ein Indikator der uneingestandenen Ängste, welche die Verbindung von Negation und Offenheit seit Sokrates zu erwecken ver mocht hat. Nach der Produktivität solcher Verbindungen fragt dieses Buch. Es geht zur Antwortsuche auf den geschichtsphilosophischen Begriindungs zusammenhang der frühromantischen Ironie-Konzeption zurück, um vor diesem Hintergrund den Strukturwandelliterarischer Ironie im 19. Jahr hundert zu verfolgen. Sein Titel ist mit Bedacht gewählt: Schon in Lud wig Tiecks komödiantischem Geniestreich aus dem Jahre 1800 teilt sich im Motiv von der Verkehrten Weltinsgeheim ein Unbehagen mit, das sich nicht stillen, ein Verdacht, der sich nicht beruhigen läßt-daß es mit dem Stand, in dem die Dinge einmal sich befinden, seine Richtigkeit nicht und nicht sein Bewenden haben könne. Ein Leitmotiv mangelnden Einklangs mit der bürgerlichen Lebenswirklichkeit: Sein Ziel ist die Herstellung von Identität, seinen Impuls bildet der Antrieb, zu beklagen, zu kritisie ren, womöglich zu verändern, was nicht genügen kann. Ironie aber ist ein Medium seiner Artikulation - sie spricht von der Verkehrung der »ver kehrten Welt«. Das Interesse meiner Untersuchung gilt insbesondere der For mensprache literarischer Ironie, die ich als ästhetische Verarbeitungs form gesellschaftlicher Widersprüche begreife. Im Mittelpunkt stehen deshalb - mit einer Ausnahme - Einzelwerke, deren Analyse Aufschluß verspricht über den Zusammenhang und die Entwicklung von Struktur und Geschichtlichkeit ironischer Poesie im 19. Jahrhundert. Allerdings habe ich - dem Gegenstand »Ironie« wohl angemessen - darauf verzich tet, einen solchen Entwicklungszusammenhang in Form eines systemati schen Konstrukts zu präsentieren. Insoweit können die hier vorgelegten Einzelanalysen auch als in sich geschlossene Studien gelesen werden, als die sie zum Teil konzipiert waren. Ein diskursanalytischer Epilog disku tiert abschließend das Verhältnis von Ironie und Revolte im Blick auf die ironischen Inszenierungen der 68er-Bewegung. Sie bildeten den Anstoß, nach den verschütteten Energien der Produktivkraft Ironie zu fragen. Thkio, im Frühjahr 1989 Ralf Schnell I. EINLEITUNG Zum geschichtsphilosophischen Ursprung der frühromantischen Ironie-Konzeption »Chaos« Das Fragment ist das Organon, in welchem das zugleich antisystemati sche wie systembezogene Denken der Romantiker seinen Ausdruck ge funden hat: eine Form der Verbindung von entfaltetem System und rei ner Intuition. »Es ist zugleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keines zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden«,[!] heißt es in einem der Athenäums-Fragmente Friedrich Schlegels. Der Witz, der das Erkenntnisdunkel blitzartig erhellt, das Wort, der Begriff, der Terminus, die das Netzwerk komplex verschlungener Sinnbezüge auf Anhieb entwirren, kurz: die »mystische Terminolo gie«[2], wie August Wilhelm Schlegel seines Bruders schillernd-geniali sche Formulierungskunst genannt hat, gelten den Romantikern als jene Äußerungsformen, in denen sich ihr Vertrauen auf begriffliche Intuition darzustellen vermochte. Daß die unendliche Vielfalt der Äußerungsmög lichkeiten und deren tatsächliche Widersprüchlichkeit ihrem Anspruch auf Wahrheit widerraten könnte, bildete für die Theoretiker der Frühro mantik kein Problem, bot doch gerade die nuancierte Vielgestalt der kritischen Fragmente die Gewähr, ihre erkenntnistheoretische Prämisse zu sichern: in fortschreitender Reflexion der Vollendung in Kunst und Philosophie sich zu nähern, die doch nie erreichbar sein würde. Ein Fragment, welches in diesem Sinne - antisystematisch und system bezogen zugleich, unabgeschlossen und doch die Komplexität des Pro blems in sich bergend - die romantische Ironieauffassung einschließlich ihrer Voraussetzungen und Entgrenzungen formuliert, findet sich in Friedrich Schlegels Ideen-Sammlung (1800): »Ironie ist klares Bewußt sein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.«[3] Mit dem Begriff des Chaos verbindet sich für den frühen Schlegel Wirklichkeitsinterpre tation wie Zukunftsentwurf. Es ist ein Schlüsselbegriff für die ge schichtsphilosophische Disposition, aus welcher die romantische Ironie konzeption entspringt. »Chaos« und »Anarchie« nennt Schlegel schon in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Fbesie aus dem Jahre 1795 (veröffentlicht 1797) den Zustand, in dem sich die »moderne Poesie« befinde: »Man könnte sie ein Chaos alles Erhabenen, Schönen und Reizenden nennen, welches gleich dem alten Chaos, aus dem sich, wie die Sage lehrt, die Welt ordnete, eine Liebe und einen Haß erwartet, um die verschiedenartigen Bestandteile zu scheiden, die gleichartigen aber zu vereinigen.«[4] Dieser Gedanke kehrt in den weit ausholenden, 2 !. EINLEITUNG kritischen Reflexionen des Studium-Aufsatzes leitmotivisch wieder: »Was hilft [. .. ] ein Chaos einzelner schöner Elemente ohne eine vollstän dige, reine Schönheit?«[5], fragt der Dreiundzwanzigjährige in seinem kühnen Entwurf, um am Gegenbild eines Goldenen Zeitalters die Ver luste der zeitgenössischen Poesie desto nachdrücklicher zu beklagen: »Was ist die Poesie der späteren Zeit, als ein Chaos aus dürftigen Frag menten der romantischen Poesie, ohnmächtigen Versuchen höchster Voll kommenheit, welche sich mit wächsernen Flügeln in grader Richtunggen Himmel schwingen, und aus verunglückten Nachahmungen mißverstan dener Muster?«[6] Zwar sieht der junge Schlegel »in der chaotischen Anarchie der Masse der modernen Poesie alle Elemente der schönen Kunst vorhanden«[?], doch bleibe diese, da das Schöne als ästhetisches Prinzip in der Moderne vom nur »Interessanten« verdrängt worden sei, in jenem gemischten und unreinen Stande erhalten, zu dem die Entwick lungsgeschichte der Menschheit sie bestimmt habe: ein »labyrinthisches Chaos«.[8] Aber so sehr sich auch dieses »Chaos« dem jungen Schlegel in der Ibesie zeigt, so untrüglich ihm die Physiognomie der künstlerischen Moderne Merkmale der Zerklüftung und Zerrissenheit zu tragen scheint, so unverkennbar bleibt ihm doch deren sozialer und geschichtlicher Ur sprung. Denn Schlegel sieht die Voraussetzungen des »Chaos« in einer zutiefst anthropologischen Konstante, die er als >>zwitterhafte Spielart«, als >>zweideutige Mischung der Gottheit und der Tierheit«[9] faßt. Frei heit und Natur, Verstand und Trieb, Künstlichkeit und Natürlichkeit der Bildung geben für ihn die Pole, unter deren gegensätzlichen Strebungen die Menschheit ihre Aporien ausbildet: >>Man hat es richtig gefühlt, daß es ihr ewiger, notwendiger Charakter sei, die unauflöslichen Widersprüche, die unbegreiflichen Rätsel in sich zu vereinigen, welche aus der Zu sammensetzung des unendlich Entgegengesetzten entspringen.«[10] Die Unauflöslichkeit der Widersprüche freilich, so anthropologisch konstant diese sich auch erhalten mögen, findet erst in der Moderne ihren proble matischen Ausdruck durch den Prozeß einer Selbst-Erkenntnis, in dessen Verlauf menschliche Beschränktheit und Unvollkommenheit sich dem Bewußtsein schmerzhaft vergegenständlichen. Die Begrenztheit des Menschen setzt Schlegel als >>evident<< voraus; die Möglichkeit ihrer Überwindung zu erproben aber gilt ihm - für den modernen Menschen - gleichermaßen als notwendig und vergeblich: >>denn der zusammenge setzte Mensch kann im gemischten Leben sich seiner reinen Natur nur ins Unendliche nähern, ohne sie je völlig zu erreichen<<.[11] Erscheint derart die Wahl des Begriffs >>Chaos<< als Metapher - für den Zustand des »zusammengesetzten Menschen im gemischten Leben<< ebenso wie für die Poesie, welche diesen Zustand repräsentiert -, so ist doch Schlegels Rückgriff auf den von Hesiod überlieferten Mythos nichts weniger als willkürlich. Mit dem mythischen Chaos, >>aus dem sich die Welt ordnete<< (Schlegel), beschwört der Frühromantiker in seiner vor romantischen Zeit den voraussetzungslosen Ur-Sprung der Weltschöp-

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