DIE THEOLOGIE DER FROHEN GRIECHISCHEN DENKER VON WERNE.R JAEGER W. KOHLHAMMER VERLAG STUTTGART Nachdruck verboten / Alle Rechte vorbehalten Copyright 1953 by W. Kohlhammer Verlag Stuttgart Druck: W. Kohlhammer Stuttgart 1953 VORWORT Das Buch enthält die Gifford Lectures, die ich vor Jahren an der Universität St. Andrews in Sd10ttland zu halten die Ehre hatte. Sie sind erweitert durch ausgedehnte Anmerkun gen, die zum Teil den Charakter selbständiger kleiner Unter suchungen haben, also den Text wesentlich ergänzen. Ober den Zweck der Gifford Lectures ist im ersten Kapitel ge sprochen; er hat das Thema meines Buches bestimmt. Indessen war das nur der äußere Anlaß, in Wahrheit ist es eine Frucht lebenslanger Beschäftigung mit dem Problem einer philoso phischen oder 'natürlichen' Tlfeologie und ihres Ursprungs im gried1ischen Geiste. Es liegt mir fern, eine vollständige Darstellung der Philo sophie der 'Vorsokratiker' geben zu wollen. Mein Buch hat zum Gegenstand eine besti~mte Seite des frühen griechischen Denkens, die von Forschern der positivistischen Schule wie Tannery, Burnet oder Th. Gomperz vernachlässigt worden ist, weil sie in den alten Denkern vor allem die Schöpfer der Naturwissenschaft sahen.· Ich möchte aber auch nicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen und etwa die Naturphilo sophie aus dem. Geiste der Mystik herleiten, wie es die Gegner jener positivistischen Richtung zu tun versucht haben. Wenn wir beide Einseitigkeiten meiden, so bleibt die Tatsache be stehen, daß die großen neuen Gedanken der ältesten Denker über 'Natur' und 'Universum' für sie mit einer neuen An schauung des Göttlid1en unmittelbar verbunden waren. In dieser Einheit von geistiger Gottesanschauung und denkender Erschließung des Seienden liegt der Ursprung aller späteren philosophischen Theologie der Griechen. In diesem Buche wird die Entwicklung von den Anfängen bis zu den Sophisten ver folgt. Eine spätere Fortsetzung soll die Untersuchung bis zu dem Punkt führen, wo zuerst die jüdische, dann die christliche Religion mit dieser theologischen Tradition der griechischen 5 Philosophie zusammenstößt und unter ihrem Einfluß selbst die Form einer philosophisch begründeten Theologie annimmt, um ihren Eintritt in die griechische Geisteswelt zu erzwingen. Bei der fragmentarischen Natur unseres Wissens wird unser Bild der älteren Epoche der griechischen Philosophie im einzel nen stets unsicher bleiben, doch ich habe es weniger mit solchen kontroversen Einzelheiten hier zu tun; es geht mir um die Auf deckung einer konstanten Grundstruktur des Geistes, deren Kontinuität sich im ganzen Verlauf der Geschichte der philo sophischen Theologie der Griechen behauptet. Die englische Fassung der Gifford Lectures erschien in der Oxford University Press in Oxford 1947, eine spanische Aus gabe in Mexico 1952; eine italienische ist in Vorbereitung. Die deutsche Ausgabe bietet den originalen Wortlaut des Textes; nur die Anmerkungen, die ich ursprünglich englisch geschrieben hatte, mußten ins Deutsche übersetzt werden. Für ihre Ober tragung und für Hilfe bei der Korrektur der Druckbogen des Anmerkungsteils bin ich Fräulein Gefion Schadewaldt in Tübingen zu Dank verpflichtet. Die 'Fragmente der Vor sokratiker' sind nach der 6. Auflage von H. Diels zitiert. Obersetzungen einzelner Fragmente sind teils aus Diels über nommen, öfter mit leichten Änderungen, teils stammen sie von mir, wo ich mit Diels nicht übereinstimme, was meist ausdrück lich vermerkt ist. Auf Vollständigkeit in der Anführung der Literatur ist im Hinblick auf die Natur der Vorträge kein Wert gelegt. Harvard University Cambridge, Mass. Werner Jaeger 6 INHALT Erstes Kapitel a) Einleitung: Der Begriff der natürlichen Theologie b) Die Theogonie des Hesiodos . . . . . . . . . . . . . . 9 Zweites Kapitel Die Theologie der milesischen Naturphilosophen 28 Drittes Kapitel Die Lehre des Xenophanes von dem einen Gott 50 Viertes Kapitel Die sogenannten orphischen Theogonien . . . . . . 69 Fünftes Kapitel Der Ursprung der Lehre von der Göttlichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Sechstes Kapitel Parmenides' Mysterium des Seins ............ 107 Siebentes Kapitel Heraklit ........... „ ........... „. „ „ .. 127 Achtes Kapitel Empedokles ............................... 147 Neuntes Kapitel Die teleologischen Denker: Anaxagoras und Diogenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . • 177 Zehntes Kapitel Die Theorien über Wesen und Ursprung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 7 ERSTES KAPITEL a) Einleitung: Der Begriff der natürlichen 1beologie b) Die 1beogonie des 'Resiodos Das Ziel dieser Vorlesungen ist festgelegt durch den Willen ihres Stifters, denn er hat ein für allemal als ihren Gegenstand den Kreis philosophischer Probleme bezeichnet, den wir her kömmlich unter dem Namen der „natürlichen Theologie" zu sammenfassen. Wenn ich ein Recht habe, als klassischer Philo loge und Humanist meine Bemühungen um diesen Gegenstand derjenigen von Philosophen und Theologen zur Seite zu stellen, so kann sich dieses Recht nur auf die Bestimmung des Stifters gründen, wonach auch die yescbicbte des Problems in diesen Vorträgen behandelt werden soll. Die goldene Kette der ehrwürdigen Tradition, welche diese Geschichte zusammenhält, schlingt sich durch zweieinhalb Jahr tausende. Ihr Wert ist keineswegs nur ein antiquarischer. Der Zusammenhang des philosophischen Denkens mit seiner Ge schichte ist weit enger und unauflöslicher als in den Einzel wissenschaften. Man könnte vielleicht sagen, daß die moderne Philosophie sich zu der alten ähnlich verhält wie die Werke der späteren Dichter zu den klassischen Dichtungen des Altertums. Sie atmen und leben alle von dem Anhauch seiner Unsterb lichkeit. Die Griechen sind es, an die wir in erster Linie denken, wenn wir von der Urschöpfung der Philosophie im europäischen Sinne sprechen. Auch der Ursprung der natürlichen oder philo sophischen Theologie führt uns zu ihnen zurück. Der Begriff der theologia naturalis stammt aus dem das christliche Abend land begründenden Werk des Kirchenvaters Augustinus De civitate Dei. Nachdem er in den ersten fünf Büchern seines Werks den Glauben an die Götter der Heiden als lrrwahn be- 9 kämpft hat 1, geht er vom sechsten Buche an dazu über, die christliche Lehre von dem einen Gott darzulegen, und beginnt damit, daß er sie als mit den tiefsten Erkenntnissen der Philo sophie übereinstimmend erweist. Diese Auffassung der christ lichen Theologie als Bestätigung und Vollendung der Wahrheit der vorchristlichen Philosophie drückt das Verhältnis der neuen Religion zur heidnischen Antike nach der positiven Seite in allgemeingültiger Weise aus. Für Augustinus ist vor allem Plato der Repräsentant dessen, was er unter griechischer Philosophie versteht. Die übrigen Denker gruppiert er als Sockelfiguren um Platos riesiges Monument herum, wie es der Neuplatonismus seines Jahrhunderts ansah 2• Diese beherrschende Stellung hat Plato im Mittelalter mehr und mehr an Aristoteles abtreten müssen, um erst seit der Renaissance erneut in Wettstreit mit diesem zu treten. Aber ob Plato oder Aristoteles, die Philo sophie ist in jedem Falle neben den dürftigen Resten des un entbehrlichsten sachlichen Wissens der Teil der griechischen Kultur, der im Abendland lebendig blieb, auch nachdem die Kenntnis der griechischen Sprache hier mit dem Niedergang der Bildung verlorengegangen war. Wenn die Kontinuität der Oberlieferung der griechischen Antike in Europa niemals ganz abgerissen ist, so ist dies der Tatsache zu verdanken, daß die griechische Philosophie sie aufrechterhielt. Das aber hat sie vermocht, gerade in ihrer Eigenschaft als theologia naturalis, die der übernatürlichen christlichen Theologie als Grundlage diente. . Der Begriff der natürliChen :Theologie ist nun aber ursprüng lich nicht als Gegensatz zur übernatürliChen :Theologie gedacht. Augustinus hat ihn, wie er selbst sagt, dem Werk des Römers M. Terentius Varro Antic(uitates rerum humanarum et divi narum entnommen 3. Varro, der fruchtbare Schriftsteller und Enzyklopädist des Endes der römischen Republik (116-27 v. Chr.), hatte in diesem Werk von monumentalen Proportionen die Lehre von den römischen Göttern mit ebensoviel pietät voller Gelehrsamkeit wie systematischer Konsequenz auf gebaut. Er hatte nach dem Zeugnis des Augustinus drei Arten der Theologie unterschieden: die mythische, die politische und die natürliche 4• Die mythische Theologie hat zum Objekt die 10