Die Territorialisierung sozialer Sicherung Monika Senghaas Die Territorialisierung sozialer Sicherung Raum, Identität und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Georg Vobruba Monika Senghaas Leipzig, Deutschland Dissertation, Universität Leipzig, 2013 ISBN 978-3-658-08412-7 ISBN 978-3-658-08413-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-08413-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 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Jahrhundert zu selbstverständlich, um Gegenstand sozial- wissenschaftlicher Forschung und Reflexion zu werden. Erst die Transnatio- nalisierungsprozesse der jüngsten Vergangenheit und vor allem die Europäi- sche Integration haben dem territorialen Bezug von sozialer Sicherung die Selbstverständlichkeit genommen und seine konstitutive Bedeutung für die Entwicklung von Sozialpolitik augenfällig gemacht. Diese Konstellation nimmt Monika Senghaaas in dem Buch auf und leistet damit für ihr Verständ- nis einen wichtigen Beitrag. Die Autorin entwickelt den Ausgangspunkt ihrer Argumentation, indem sie in die beiden zentralen Themenfelder, Sozialpolitik und Nation einführt. Dann nimmt sie die wenigen vorhandenen Untersuchungen zum Zusammen- hang von (kollektiven) Identitäten und Sozialpolitik auf, in der systematischen Absicht, “die räumliche Dimension der Wechselwirkungen zwischen Identi- täten und Sozialpolitik” (S. 45) ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken; denn dazu gibt es – trotz der offensichtlichen historischen Gleichzeitigkeit der Entwicklung von staatlicher Sozialpolitik und nationaler Identitätsbil- dung – kaum Untersuchungen. Der analytische Rahmen der Untersuchung wird einerseits aus Theorieangeboten zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und andererseits aus Ansätzen zum Raumbezug von Politik entwickelt. Dies führt zu einem an Rokkan und Marshall angelehnten Verständnis der Konsti- tution von Wohlfahrtsstaaten. Daran anschließend geht es um die territoriale Dimension sozialer Beziehungen, für die Wohlfahrtsstaaten den Rahmen abgeben und insbesondere um die Frage, in welcher Weise sozialpolitische Raumbezüge einerseits Interessen formen und andererseits selbst Gegen- stand von Interessenartikulationen werden. Die Habsburger-Monarchie, mit ihren komplexen Verschachtelungen von politischen Räumen, Nationen und Sozialpolitik ist ideal geeignet, um das Wechselverhältnis von politischer Nationenbildung und Sozialstaatsentwick- lung zu analysieren. Ins Zentrum ihrer historisch-rekonstruktiven Analyse 6 Geleitwort stellt Monika Senghaas in höchste anregender Weise zwei Argumente: Aus der gesteigerten Mobilität und der Definition von Ortsansässigen gemäß dem Heimatprinzip ergaben sich absurde Verhältnisse zwischen „Einheimischen“ und „Zugezogenen“ insbesondere in Gemeinen mit aufstrebender Industrie. Daraus folgte zum einen, dass spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts das Heimatprinzip, nach dem die (vorstaatliche) kommunale Armenfürsorge organisiert war, mit der neuen Mobilität der Arbeiter kolli- dierte. Dies führte zu neuen sozialen Problemlagen und sozialpolitischem In- terventionsbedarf. Und zum anderen stand das Heimatprinzip gegen die neuen Anforderungen der sich entwickelnden kapitalistisch-industriellen Ökonomie. Daraus ergab sich ein modernisierungspolitisches Argument für die politische Neufassung des territorialen Rahmens sozialpolitischer Prob- lemdefinitionen und der sozialpolitisch Berechtigten. Der Eintritt des Staates als Adressat sozialpolitischer Ansprüche erweitert den sozialpolitischen Zugehörigkeitsraum von Kommune auf Nation und trägt damit zu ihrer Konsolidierung als dominante politische Form bei. Monika Senghaas führt diesen entscheidenden Punkt empirisch aus an- hand einer Darstellung der politischen Diskussion und Durchsetzung des Territorialitätsprinzips für die soziale Sicherung, hinsichtlich Mitgliedschaft und Leistungsbezug. Diese Rekonstruktion der Entwicklung des Raumbezugs sozialer Sicherung ist eine sozialwissenschaftliche Innovation und ein wichti- ger Beitrag zur Soziologie der Sozialpolitik; zum einen, weil eine solche, sich eng an das historisch-empirische Material haltende, Darstellung bisher nicht vorlag, zum anderen, weil sich hier Anknüpfungspunkte für weiter gehende Untersuchungen von Transnationalisierungstendenzen der Sozialpolitik, ins- besondere im Kontext der Europäischen Integration, ergeben. Monika Senghaaas erschließt der sozialwissenschaftlichen Sozialpolitik- forschung die Kategorie Raum, stellt sie in einen konflikttheoretischen Rah- men und bietet eine davon angeleitete historisch-empirische Untersuchung. Sie verknüpft die aktuelle sozialpolitische Theoriediskussion mit interessan- tem historischem Quellenmaterial – und das auch noch an einem komplexen Fall zwischen nationenbezogener und transnationaler Raumbildung. Ich kann allen Interessierten nur empfehlen, sich auf diese theoretisch anspruchsvolle und empirisch gehaltvolle Untersuchung einzulassen. Georg Vobruba Danksagung Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Kon- text der Nachwuchsforschergruppe „Sozialraum Europa“, gefördert durch die Volkswagenstiftung, an der Universität Leipzig entstanden ist. Ich danke der Leiterin der Forschungsgruppe, Dr. Monika Eigmüller, sowie Professor Georg Vobruba (Universität Leipzig) und Professor Josef Ehmer (Universität Wien), die mir fachlich zur Seite standen, wichtige Impulse gaben und sich viel Zeit genommen haben, meine Forschung zu unterstützen. Forschungsaufenthalte in Wien und Prag wurden durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst und die Deutsch-Tschechische und Deutsch- Slowakische Historikerkommission ermöglicht. Die Abschlussphase wurde durch ein Stipendium des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte gefördert. Freunde, Kollegen und meine Familie haben meine Arbeit begleitet und auf unterschiedliche Weise unterstützt. Ihre Nachfragen und Hinweise, ihre Aufmunterungen und ihre Geduld haben dazu beigetragen, dass dieses Buch entstanden ist. Ohne alle namentlich zu nennen, möchte ich Euch an dieser Stelle ganz herzlich danken. Inhalt Tabellenverzeichnis ............................................................................. 13 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... 15 1 Einleitung ....................................................................................... 17 2 Die Entstehung des Sozialstaats im Kontext von Staats- und Nationenbildung ............................................................................ 25 2.1 Von den Frühformen sozialer Sicherung zur Konstitution staatlicher Sozialpolitik ........................................................................... 27 2.2 Nationsbildung und nationale Identität ............................................... 32 2.3 Stand der Forschung ............................................................................... 37 2.3.1 Sozialpolitik und Nationalstaat ..................................................... 38 2.3.2 Sozialpolitik und kollektive Identitäten ....................................... 40 2.3.3 Sozialpolitik, Identität und Territorium ....................................... 43 2.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen ....................................... 45 3 Analytischer Rahmen ................................................................... 49 3.1 Die Konstitutionsbedingungen des Wohlfahrtsstaats ....................... 49 3.1.1 Ökonomische Rahmenbedingungen ............................................ 50 3.1.2 Akteure ............................................................................................. 53 3.1.3 Interessen ......................................................................................... 56 3.1.4 Zwischenfazit ................................................................................... 59 3.2 Der Raumbezug politischer und gesellschaftlicher Prozesse ........... 60 3.2.1 Die Territorialisierung des Politischen im Prozess der Staatsbildung .................................................................................... 60 3.2.2 Grenzbildung und Strukturierung des politischen Raums ....... 61 3.2.3 Der Raum als Rahmen und Ergebnis sozialer Prozesse ........... 66 10 Inhalt 3.3 Die Raumdimension der Entstehung des Wohlfahrtsstaats ............. 69 3.3.1 Grenzbildung und Institutionalisierung sozialer Rechte .......... 70 3.3.2 Raum und soziale Beziehungen im Wohlfahrtsstaat ................. 73 3.3.3 Raumbezogene Interessen und die Konstitution des Sozialstaats ....................................................................................... 75 3.4 Methodische Vorüberlegungen und Auswahl der Quellen .............. 76 4 Soziale Sicherung in Cisleithanien 1880 – 1918 ............................ 79 4.1 Der Kontext der sozialpolitischen Entwicklung ................................ 81 4.1.1 Die ökonomischen Rahmenbedingungen ................................... 81 4.1.2 Das politische System ..................................................................... 83 4.2 Die Konstitution eines gesamtstaatlichen Systems der sozialen Sicherung in den 1880er-Jahren ............................................................ 84 4.2.1 Die Unfall- und Krankenversicherung ........................................ 85 4.2.2 Staatliche Eliten und das Interesse des Staates an sich selbst .. 95 4.2.3 Konflikte um die Mitgliedschaft im Parlament .......................... 99 4.2.4 Kritik aus den Reihen der Arbeiterschaft .................................. 105 4.2.5 Ökonomische Interessen im Gesetzgebungsprozess .............. 109 4.2.6 Die Versicherungsträger als Interessengruppe ......................... 113 4.3 Reform und Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ..................... 117 4.3.1 Die Pensionsversicherung für Angestellte ................................ 119 4.3.2 Das Projekt einer Alters- und Invaliditätsversicherung .......... 121 4.3.3 Politische Eliten und eine zentralstaatliche Sozialpolitik ........ 123 4.3.4 Parteien als sozialpolitische Akteure .......................................... 126 4.3.5 Die Interessen von Arbeit und Kapital ..................................... 130 4.3.6 Die Entstehung einer sozialpolitischen Interessensphäre ...... 135 4.4 Zusammenfassung ................................................................................ 143 5 Die Territorialisierung sozialer Sicherung ................................. 145 5.1 Das staatliche Territorium als Interventionsraum ........................... 146 5.1.1 Die Bestimmung eines Bedarfs an öffentlicher Intervention 146 5.1.2 Die räumliche Dimension sozialer Probleme ........................... 156 5.1.3 Die Gewährleistung sozialer Rechte im staatlichen Territorium ..................................................................................... 163 Inhalt 11 5.2 Die Bindung sozialer Sicherung an das staatliche Territorium ...... 169 5.2.1 Territorial bestimmte Mitgliedschaft .......................................... 169 5.2.2 Territorial bestimmter Leistungsbezug ...................................... 175 5.3 Die Vergemeinschaftung von Risiken im Raum .............................. 177 5.3.1 Das Äquivalenzprinzip in der Unfallversicherung ................... 178 5.3.2 Das Solidarprinzip in der Krankenversicherung ...................... 187 5.3.3 Der gesellschaftliche Risikenausgleich in der Altersversicherung ........................................................................ 195 5.4 Zusammenfassung ................................................................................ 200 6 Sozialpolitik, Raum und Identitäten .......................................... 203 6.1 Sozialpolitik als Instrument der Identitätsbildung ........................... 203 6.1.1 Identitätsstiftung und Gemeinschaftsbildung über die Institutionen des Sozialstaats ...................................................... 204 6.1.2 Die Konstruktion eines „Reichsbewusstseins“ als Ziel cisleithanischer Sozialpolitik ........................................................ 208 6.2 Der Raumrahmen der Institutionen des Sozialstaats ...................... 212 6.2.1 Die Habsburgermonarchie als Vielvölkerstaat ......................... 213 6.2.2 Nation und Sozialpolitik im Vielvölkerstaat ............................. 219 6.2.3 Konflikte um den institutionellen Raumrahmen von Sozialpolitik .................................................................................... 224 6.3 Raum und Identitäten im Sozialstaat ................................................. 232 6.3.1 Raumbezogene Identitäten im Sozialstaat ................................ 232 6.3.2 Soziale Differenzierung im Raum: Die Pensionsversicherung für Angestellte ........................................ 234 6.3.3 Der Raum als Kategorie der Gemeinschaftsbildung............... 237 6.4 Zusammenfassung ................................................................................ 242 7 Zusammenfassung und Fazit ..................................................... 245 Anhang .............................................................................................. 253 Verzeichnis der Quellen .................................................................... 259 Literatur............................................................................................. 261