Berichte des Bundesinstituts ür ostwissenschaftliche mdintemaüonaleStudien 3ie sowjetische Führung und ihre *ersonalpoiitik seit d em X XY Parteitag \strid von Borcke 39-1977 INHALT Seite Kurzfassung. . . . . 1 v 1. Bresnevs wachsende Macht . . . .. 3 2. Wa.s ist von der "kollektiven Führung" geblieben? Die Maohtgtellung der übrigem Oligarchen . . . .. . . . . . . . . .. 6 a) Suslov- der "zweite Mann" . 6 b) Kirilenko - Breznevs wahrscheinlichster Nachfolger? . . . . . * . . * . . * * * * * * * * * * * < c) Podgomyjs unsichere Stellung 10 d) Weitere Rückschläge für Koaygia? 11 3. Wichtige personalpolitische Veränderungen im Jahre 1976/7 7:^K Vormarsch der Dneprope- trovsk-FraktionBrezneva 16 4. Das offene Nachfolgeproblem 24 Anmerkungen 28 Abkürzungen 33 Summary 35 Mai 1977 Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OST WISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN heraus gegebenen Berichten geäußert werden, geben ausschließ lich die Auffassung des Autors wieder. Abdruck - auch auszugsweise - #ur mit Quellenangabe und vorheriger Genehmigung des Bundesinstituts gestattet. B u n d e s i n s t i t ut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Lindenbornstraße 22, 5000 Köln 30 Kurzfassung Dieser Bericht ist eine ausführlichere Darstellung des ersten Teils des Beitrags der Verfasserin zum Jahres bericht des Bundesinstituts Sowjetunion 1976/77. der einen tiberblick über die Entwicklung der sowjetischen Innenpolitik im vergangenen Jahr bietet. Zugleich er laubt die Form eines "Berichtes", im einzelnen auf das Quellenmaterial zu verweisen, während im Jahresbericht Anmerkungen auf ein Minimum gehalten werden müssen. Die Untersuchung basiert auf Informationen aus den sowjetischen Medien und der Weltpresse. Diese sind durch das Inufend von Radio Liberty veröffentlichte Material ergänzt worden: Insbesondere die Aufsätze von Christian Duevel über aktuelle Entwicklungen in der sowjetischen Führung und über deren Personalpolitik sind von großer Hilfe gewesen. Zur Bilanz der Untersuchung ist folgendes zu sagen: v 1. Seit dem XXV. Parteitag konnte Breznev seine Stellung weiter konsolidieren. Die Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag im Dezember 1976 waren eine Demonstration seiner erhöhten Macht. Zugleich deuteten sie aber auch auf deren mögliche Grenzen hin (S. 1ff). 2. Mtt der "kollektiven Führung" ist so lange zu rechnen, wie Breznev nicht die effektive Oberkontrolle auch über den Staatsapparat gewonnen hat. Im Juni 1977 wurde er zum Staatsobfyhaupt ernannt — ein zusätzlicher Schritt in Richtung auf ein Einmannregiment, das jedoch Alter und Gesund heit ihm kaum erlauben werden, noch viel weiter auszu bauen. 3. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß -) Suslov, der Uauntarchitekt der "kollektiven Führung", seine Position erstaunlich gut halten konnte. Im übrigen ]iat es unter den Spitzenführern inzwischen bedeutsame MachtverSchiebungen gegeben (S. 6ff). v ^+* Kirilenko, Breznevs mächtigster Verbündeter, hat seinen Einfluß erhöht. Aber er ist immer noch nicht "Kronprinz", so daß die Aussichten des Siebzigjährigen, einmal Breznevs Nachfolger zu werden, mit der Zeit ab nehmen (s. 7-10). 5. Die Stellung des 73jährigen Staatsoberhauptes Pod- gornyj war nicht länger sicher, auch wenn er nach dem Oktober-Plenum zeitweilig wieder prominenter in Erschei nung trat, so besonders dank einer Afrika-Reise im März-April 1977. Doch schien er sich in der letzten Zeit weitgeheniauf seine protokollarischen Aufgaben beschränkt zu haben, wenn er auch noch zur Spitzenführung gehörte. Es ist denkbar, daß er in Fragen, die mit der neuen Verfassung im Zusammenhang standen -— wie die Reform der Staatsverwaltung und speziell Breznevs Entschluß, die höchsten Partet-und Staatsämter in einer neuen Personalunion unter sich zu vereinigen -- gegen den Parteichef opponiert hat, was seinen plötzlichen Ausseiluß aus dem Politbüro im Mai 1977 erklären würde (S. 10ff). 6. Auch Kosygtns politische Zukunft scheint ungewtß, um so mehr, seit Podgomyj nicht mehr in der Führung ist. Im Sommer 197^ erlitt der 7^iährtge Ministerprä sident einen Unfall, der auch eine wichtige politische Dimension hatte (S. 11-15). v 7. Dennoch scheint die Zukunft von Breznev und seinen Gefolgsleuten — und damit letztlich auch von Breznevs Politik -- keineswegs sicher. Denn das. Regime ist immer noch nicht in der läge gewesen, dai.. ^^uerpro- blem der Nachfolge zu regeln. - 3 - 1* Breznevs wachsende Macht Während 1974/75 Breznevs Position in Anbetracht seiner offenkundi- 1 gen gesundheitlichen Probleme ungewiß erschienen war,hat er seit 2 dem XXV. Parteitag einen Höhepunkt seiner Macht erreicht. Die No minierung zum Marschall der Sowjetunion im Mai 1976 war ein weiterer Schritt in Richtung auf eine mögliche Einmannherrschaft, und sein zunehmender "Kult" - der anläßlich seines 70. Geburtstag im Dezem ber 1976 nur noch von dem Stalins übertroffen worden ist - wirkte insofern symbolisch. In offiziellen sowjetischen Stellungnahmen wird zunehmend seine "hervorragende Rolle" bei der Entwicklung der Doktrin und Ausar beitung des politischen Kurses der Partei herausgestellt . Im Sommer und Herbst 1976 figurierte Breznev prominent in den so wjetischen Medien, so anläßlich des Staatsbesuches von I. Gandhi im Juni und des Ostberliner KP-Gipfels Ende des Monats; während seines Urlaubs-auf der Krim empfing er im Laufe von knapp zwei Monaten alle die Parteichefs des sowjetischen osteuropäischen Herrschaftsberei ches; Anfang September 1976 reiste er überraschend in die kazachi- sche Hauptstadt Alma-Ata, um sich persönlich fü-r die Ernte einzu setzen. Den Zwischenaufenthalt in Moskau benutzte er offenbar, um seinen Protege Tichonov (s. unten) zum (zweiten) Ersten Stellver tretenden Ministerpräsidenten befördern zu lassen. Im September^ wurde sein geplanter Besuch in die Bundesrepublik bekanntgegeben, womit er seine persönliche Westpolitik wieder akti vieren will. Etwas Neues für sowjetische Verhältnisse war sein "Interview" für das französische Fernsehen, das am 5. Oktober ausgestrahlt und in der gesamten sowjetischen Presse veröffentlicht wurde. - 4 - Seine Rede vor dem Oktober-Plenum wurde zum ersten Mal wieder in der Presse abgedruckt , ein Brauch, den Chruscev 1958 wieder eingeführt hatte, dem aber die "kollektive Führung" seiner Nachfolger ein Ende bereitete. Im November 1976 absolvierte Bressnev eine Reihe osteuropäischer Kontakte und Treffen, reiste nach Belgrad und Bukarest. Ende des Monats benutzte er die vierte Sitzung des Sowjetisch-amerikanischen Rates für Handel und Wirtschaft, um sich für seine USA-Politik - die "auf Jahre und Jahrzehnte" gedacht sei - einzusetzen und zugleich über "Lügen" über eine sowjetische Bedrohung zu klagen. Der Winter 1976 stand innenpolitisch zunehmend im Zeichen der Vor bereitung von Breznevs 70^ Geburtstag. In den Wochen vor dem 19- De zember empfing er die höchsten staatlichen Auszeichnungen aller Ostblockstaaten sowie Kubas, Nordkoreas und Finnlands. Eine Reihe v von Filmen über die "Breznev-Saga" - vom einfachen Schlosser zum Füh- 7 re r der* Partai-wurde gezeigt. Sogar ein Theaterstück zu seinen Ehren ist in Auftrag gegeben worden, doch das ZK soll geraten haben, 8 von diesem Schritt abzusehen . Bereits bei der Enthüllung vs r Breznevs Denkmal im Mai hatte Scer- v bickij, der ukrainische Parte. )hef und enge Gefolgsmann Breznevs, den Generalsekretär vozd', "F^i.-er" genannt (das Wort hat etwas vom Beigesohaaok des nationr/jozialistischea und faschistischen Begriffs). Kirilemke wieder))lte diesen Titel im Oktober , was einen gewissen Schock auslösti. Vereinzelt griffen Führer der Unions- Y 10 republiken - G. Aliev, Gapui:.r, Sevardnadze - das ominöse Wort auf . / v Podgornyj aber nannte Brezn<' bei der Geburtstagsfeier diplomatisch w rsuokgoavro Pdoidtgeolr'n -y"jL,e iitnedre'm) "eCrh et^ .'i :L eSnoi nw-aZri t1a9t& 1ü bCehrr udsicee vB eaduefu tduenmg X XeIiIn ePra r teitag tituliert worden, al? sein Personenkult begann. Zwar machte j 12 "unanfechtbaren Autorität" wiederholte ,eine Verbeugung vor dem neuen Führerkult, betonte 'er zugleich vielsagend: "Bire Autorität 13 jut das r.t'iHchatubare .Eigentum der kartei" "«Auch Suslov stellte v Hrezne'^c Leistungen als "Verkörperung der kollektiven Vernunft der 14 ^artei" hin Trotz des Aufwands schien der Geburtstag auch die Grenzen von Brez nevs Macht anzudeuten. Wie schon auf dem XXV. Parteitag wurde er wieder besonders als Integrator des Führerkollektivs gefeiert (wo- 15 rin er offenbar selbst seine Rolle sieht) Es fiel auf, daß noch eine Woche zuvor offiziell nicht bekanntge- 16 geben worden war, was eigentlich bei diesem Anlaß geschehen sollte Ein Volksfeiertag wurde der 19.12.1976 bezeichnenderweise Rieht. Insofern war es wohl auch bedeutsam, daß diesmal die traditionelle Neujahrsbotschaft wieder in unpersönlicher Form - im Namen des ZK, des Präsidiums des Obersten Sowjets und des Ministerrates - verlesen 17 wurde .Allerdings sorgte die Pravda für Breznevs Sonderpublizität, als sie auf derselben Seite sein Vorwort zur französischen Ausgabe seiner Reden brachte. Die Geburtstagsfeierlichkeiten schienen Breznevs Entschlossenheit zu demonstrieren, im Amt zu bleiben, denn so erklärt er: "Es steht noch viel zu tun bevor" .Der neue Kult erinnert an gewisse russische Traditionen und deutet auf eine offenbar systembedingte Logik hin. Ein Regime, das weder primär rational noch traditionalistisch,noch charismatisch begründet ist - sondern am ehesten auf einer Art "Er- 19 satz-Charisma" beruht - scheint der "Vaterfigur" zu bedürfen, zumal ein Einmannregiment den Vorteil der Effizienz verspricht.Für den Parteichef besteht die Versuchung, sich mittels seines Kultes schein bar unersetzlich zu machen, womit er aber auch riskiert, sich von 20 seinen Kollegen in der Führung zu entfremden - 6 - 2- WaaLJLH3 von de: ^.kcnektiven Führung" geblieben? Die Machtstellung dar übrigen Oligarehea Ungeachtet der gewachsenen Macht Breznevs ist die "kollektive Führung" immar noch ain wichtiger Fakter der sowjetischen Politik, da der Parteichef die sehen lange erstrebte Oberkontrolle über die Staats-und Wirtschaftsverwaltung noch nicht gewonnen hat, wenn aach in den letzten Jahren Min Einfluß ia diesem Bereich ebenfalls ge- wachsen ist, Nicht M übersehen war aber 1976/77 eine weitere Macht- versehiebuag in der Spitsenfuhrung. a) Saslew - der ^zweite Mann" Allein der "Chefideelege" Saslew konnte 1976/77 seine Position als 21 "zweiter Mann" erstaunlich g^t halten . Saalows Macht beruht para doxerweise auf der Tatsache, daß er nicht unmittelbar nach der Macht gestrebt hats Er iat daher der ideale Mann für die Rolle des 22 v Schiedsrichters im Fuhrerkollektiv . Seilte Breznev plötzlich aas dem Amt scheiden, ist nicht auszuschließen, daß der 74jährige Saslew ein (kollektives) Obergangsregiment leiten kennte, zumal er keineswegs nur ein Ideologe ist, sondern auch Breznevs Stellvertreter für die admini strativen Organe^ und alss Leiter der Kommission des Uaieassovet* für die Außenpolitik diesen Bereich zusammen mit Breznev and Gro- 23 myko mitbestimmt . Suslew hat laufbahamäßig eine nicht unerhebliche machtpolitische Erfahrung: vom Partei-Chekisten über das Amt eines Gebietssekretärs bis zum Leiter des ZK-Büros für Litauen, und er spielte offenbar eine Sehlüsselrelle in der letzten von Stalin ge planten Säuberung 1952. Ala dienstältester ZK-Sekretär (seit 19^7) und Politbüromitglied Mit 1955 dürfte er im Parteiapparat beträcht liches Ansehen genießen. Die"Äüsböotunr Podgomyjs aus dem Politbüro auf dem ^ai-Plenum 1977 und Breznevs Ernennung zum Staatsoberhaupt im Juni, eine für das Regime bislnng unbekannte Ämterkombtnatton, sind weitere Schritte auf dem Wege zu einem neuen Einmannregiment, wenn auch Breznevs Alte? und Gesundheit ihm kaum viel Zp^t lassen werden, ein solches weiter aus^'ibauen. Seine Nachfolge aber werden — wenigstens in den ersten Jahren - wahrscheinlich wieder auf die "kollektive Führnn-" zurückgreifen müssen.