Am Ende des realen Sozialismus (1) Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch Am Ende des realen Sozialismus Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren Herausgegeben von Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innem Band 1 Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch Herausgegeben von Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministerium des Innern Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Die einzelnen Beiträge in diesem Band stehen in der Verantwortung ihrer Autoren. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Am Ende des realen Sozialismus : Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren I Eberhard Kuhrt. .. (Hrsg.) - Opladen: Leske und Budrich, 1996 NE: Kuhrt, Eberhard [Hrsg.]; GT Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch. -1996 ISBN 978-3-8100-1608-9 ISBN 978-3-322-95834-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95834-1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich Grußwort von Manfred Kanther, Bundesminister des Innem Der Rückblick auf die untergegangene DDR ist weit mehr als eine historische Be schäftigung aus akademischem Interesse. Der SED-Staat ist, Jahre nach seinem Zu sammenbruch und der friedlichen Revolution, die ihn überwand und in die Wieder vereinigung einmündete, noch in seinen Folgelasten präsent; das Gelingen der in neren Wiedervereinigung setzt den unverstellten Blick auf diese nachwirkenden Realitäten des SED-Staates voraus. Das ist zum einen schon deshalb notwendig, um das Gewicht der Probleme richtig zu ermessen, die beim Aufbau in den neuen Bundesländern und damit in der Angleichung der äußeren Lebensbedingungen zu bewältigen sind. Man muß sich das Ausmaß der Folgelasten von fast 45 Jahren sozialistischer Zentralverwaltungs wirtschaft, Beseitigung des Mittelstandes, Auszehrung der Industrie und der Infra struktur und rücksichtsloser Belastung der Umwelt vor Augen führen, um das Ge wicht des seit 1990 schon Erreichten, aber auch die Dimension der noch anstehen den Aufgaben nüchtern einzuschätzen. Man muß sich darüber hinaus vor Augen führen, was das Charakteristische des SED-Staatcs, letztlich auch die Ursache seines Scheiteros gewesen ist; die Enquete Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Fol gen der SED-Diktatur in Deutschland" hat dies mit dankenswerter Klarheit festge stellt: ,,Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war dies nicht durch Fehlentwicklung oder indi viduellen Machtmißbrauch - der kam in einzelnen hinzu -, sondern von seinen histori schen und ideologischen Grundlagen her .... In der Substanz blieb der SED-Staat das, als was er angelegt war: ein totalitäres System, in dem der Machtanspruch der führen den Partei bzw. ihrer Führungsgruppe auf alle Bereiche des politischen, gesellschaftli chen und wirtschaftlichen Lebens erstreckt und ... durchgesetzt wurde .... Die wirkliche Grundlage der äußerlichen Stabilität des Systems war die von der Sowjetunion gegebe ne Existenzgarantie; als sie zurückgezogen wurde, stand das Regime der auf begehrenden Bevölkerung haltlos gegenüber und brach zusammen." Denn hieraus- aus der Erfahrung der Ein-Parteien-Herrschaft, der Unterdrückung, Lenkung und Kontrolle des einzelnen und der Gesellschaft im Namen einer umfas senden Ideologie - ergibt sich die auch von der Enquete-Kommission unter- 6 Grußwort strichene Konsequenz für die politische Kultur des wiedervereinten Deutschland: Zu den geistigen Grundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie gehört ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärer Konsens und damit die Absage an jedwe de Form totalitärer Ideologien, Programme, Parteien und Bewegungen. Zum dritten ist der nüchterne Rückblick auf die DDR auch wichtig für das geistige Zusammenwachsen des wiedervereinigten Deutschland. ,,Die historische Wahrheit muß uns über allem stehen"- so hat es vor kurzem Bundespräsident Her zog formuliert. Es wäre gefährlich, mit einem "Schlußstrich" unter die SED-Dik tatur zur Tagesordnung übergehen zu wollen. ;,wer das Feld der Vergangenheit nicht aufarbeiten will", so Rainer Eppelmann, "überläßt es dem Unkraut der Legen denbildung." Dies schließt, nicht zuletzt, die Erkenntnis ein, daß man beim Rückblick auf die DDR unterscheiden muß zwischen dem politischen System und seinen Organen auf der einen, den Menschen, die ihm unterworfen waren, auf der anderen Seite. Es gab eine große Bandbreite von Verhaltensweisen in der Diktatur: von der rückhaltlosen Bejahung - die selten war - bis zum offenen Widerstand - der ebenfalls selten war - über viele Zwischenformen des Sich-Arrangierens, auch des Ausweichens vor dem potentiell allgegenwärtigen Zugriff der Partei und ihrer Macht- und Lenkungs instrumente. Auf den SED-Staat zurückzublicken, heißt daher auch, seine Opfer zu würdigen; es heißt ebenso, diejenigen zu würdigen, die sich der Diktatur widersetz ten- bis hin zu dem erfolgreichen Sturz des Systems im Herbst 1989, mit dem die Deutschen in der DDR den freiheitlichen Traditionen unseres Volkes ein wichtiges Kapitel hinzugefügt haben. Und es heißt zugleich und nicht zuletzt, die Lebens leistung der vielen Menschen realistisch zu sehen, die sich darum mühten sich in der - und oftmals gegen die - SED-Herrschaft zu behaupten und auch unter den Bedingungen des realsozialistischen Alltags - soweit möglich - ihre Lebensqualität zu verbessern. Der nüchterne und realistische Rückblick auf die DDR ist, zusammenfassend gesagt, ein notwendiger Bestandteil der inneren Wiedervereinigung; er ist eine Auf gabe, die über die historische Wissenschaft hinaus die Gesellschaft als ganze, die Öffentlichkeit, die Pädagogik in Schule und politischer Bildung angeht. Die folgen den Bände wollen einen Beitrag zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit leisten, wie sie sich beim Zusammenbruch der SED-Herrschaft darstellte. Ich wün sche dem Werk in diesem Sinne guten Erfolg. Inhalt Manfred Kanther, Bundesminister des Innern Grußwort.............................................................................................................. 5 Eberhard Kuhrt Einführung . . . . . . .. . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . .. . ... .. . . . . . . ....... .. . . . . . . . .. . . . .......... ... . . . . . . . . . . . .. . . 9 Gunter Holzweißig Die "führende Rolle" der Partei im SED-Staat.................................................... 29 Anhang: Stefan Berg (Zeitzeugenbericht): Die Geschichte der eigenen Angst... 38 Gunter Holzweißig Medien und Medienlenkung . .. . . .................. ... . . . . . . ..... . . . ... . .. . . ... . . . ..... . . . ...... . . . ... . . .... 51 Anhang................................................................................................................. 69 Friedrich-Christian Schroeder Das Recht als Herrschaftsinstrument der SED-Diktatur ...................................... 83 Hans-Jürgen Grasemann Das politische Strafrecht...................................................................................... 91 WalterSüß Die Durchdringung der Gesellschaft mittels des MfS Fallbeispiel: Jena im Jahre 1989 .......................................................................... 115 Anhang ................................................................................................................. 124 Stefan Ulrich Hirtschulz, Peter-Joachim Lapp unter Mitwirkung von Dietmar Uxa Das Grenzregime der DDR .................................................................................. 143 Anhang ................................................................................................................. 161 Fred Oldenburg Das entgleiste Bündnis. Zum Verhältnis DDR-Sowjetunion im Zeichen von Perestroika und "neuem Denken"................................................................. 199 Anhang ................................................................................................................. 220 8 Inhalt WalterSüß Die Stimmungslage der Bevölkerung im Spiegel von MfS-Berichten (0 Von Anfang Mai 1988 bis Mai 1989 .............................................................. 237 Anhang ................................................................................................................. 241 (II) Die letzten Monate der Diktatur .................................................................... 253 Anhang .................................................................................................................. 257 Patrick Moreau Die SED in der Wende......................................................................................... 289 Wolfgang Jäger Der Weg zur Wiedervereinigung ......................................................................... 349 Anhang: Interview mit Bundesminister a.D. Rudolf Seiters ............................... 362 Gerhard Wettig Niedergang, Krise und Zusammenbruch der DDR Ursachen und Vorgänge ....................................................................................... 379 Günter Buch Biographische Notizen ......................................................................................... 457 Bildquellenverzeichnis......................................................................................... 501 Verzeichnis der Autoren dieses Bandes ............................................................... 503 Eberhard Kuhrt Einführung Die folgenden Bände zielen darauf ab, das Bild der DDR, wie es sich in der letzten Phase ihrer Geschichte darstellte, ins Gedächtnis zu rufen. Durch Schlaglichter auf politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Realitäten, die für das System des "realen Sozialismus" kennzeichnend waren, soll in einer Kombination von Analysen, Dokumenten und Zeitzeugenberichten ein Profil des SED-Staats in seinem letzten Jahrzehnt nachgezeichnet werden. Einige skizzenhafte Umrisse seien vorangestellt.1 I. Die Wende von den 70er zu den 80er Jahren bezeichnet einen Einschnitt in der Ge schichte der DDR. Die NATO-Nachrüstung mit den sie begleitenden öffentlichen Auseinandersetzungen und ihren Folgewirkungen, die Ereignisse in Polen und die dramatische Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation seit 1981/82 stellen ein Ge flecht von Ereignissen dar, das den letzten Abschnitt in dieser Geschichte - vor dem Ausbruch der offenen Krise im Sommer 1989 - einleitete. Wenn man dennoch zögern muß, die 80er Jahre als "Vorgeschichte" des Zu sammenbruchs der DDR zu bezeichnen, dann deshalb, weil sich die Ursachen für das Ende der DDR nicht erst in dieser letzten Phase herausbildeten, sondern viel weiter zurückreichten und weil die kritische Zuspitzung dieser Faktoren sich zwar aus der Rückschau rekonstruieren läßt, aus gleichzeitiger Perspektive aber in ihrem vollen Gewicht nur begrenzt erkennbar war. Die Ursachen des Zusammenbruchs der DDR liegen bereits in ihren Anfängen. Eckhard Jesse ist zuzustimmen: Der Anfang vom Ende der DDR ist das Ende des Zweiten Weltkrieges2, oder noch genauer gesagt: die Schlußphase des Krieges, in der die deutschen Kommunisten im Moskauer Exil die Grundlagen einer deutschen Nachkriegsstaatlichkeit zu konzipieren begannen3• Dabei hafteten diesem Staatsver such von vomherein die Konzeptionsfehler an, die er bis zu seinem Ende nicht überwunden hat: Die DDR war und blieb ein demokratisch illegitimer Staat, Dikta tur einer Partei(-Führung), die zu keiner Zeit auch nur annähernd die Mehrheit der eigenen Bevölkerung hinter sich wußte und ihre Führungsrolle nur mit offener oder strukturell institutionalisierter Repression aufrecht erhalten konnte. Sie war und
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