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Die Realität der Literatur. Autoren und ihre Texte PDF

180 Pages·1971·23.739 MB·German
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Max Bense Die Realität der Literatur mm#&**mm>-&* Max Bense geht in seinem Buch »Die Realität der Literatur«, das er als Gegenstück zu dem ebenfalls in der Reihe »pocket« erschiene- nen Buch »Artistik und Engagement« verstanden wissen will, von der Überlegung aus, daß der Begriff »Wirklichkeit« kein im eigent- lichen Sinne wissenschaftlicher Begriff ist. »Wirklichkeit« könne nur interpretiert, nicht festgestellt werden. Sie erscheint im Akt der Reflexion, aber nicht im Akt der Beobachtung. Daher ist nicht von literarischer Realität, sondern von literarischen Realitäten die Re- de. Sie werden durch Autoren und ihre Werke in eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit eingeführt und sind stär- ker am materiellen Sprachkörper, an seinen linguistischen und ästhetischen Bestimmungsstücken als an psychologischen und ge- sellschaftlichen Bezügen orientiert. Mehr Zeichenwelt als Objekt- welten. Daraus wird verständlich, daß das Buch mit einem Essay über d'Alemberts Sprachphilosophie beginnt, die von den heutigen Linguisten gern übergangen wird. Auch versteht aus diesem Grund der Leser die Vorliebe des Autors für die abstrakte, theoretische Seite der von ihm behandelten Schriftsteller, die zumeist Zeitge- nossen sind oder als solche bewertet werden: Gertrude Stein, Francis Ponge, Henri Michaux, Helmut Heissenbüttel, Alfred Andersen, Ferdinand Lion, Ludwig Harig, Ernst Jandl u. a.. Es sind immer Autoren, denen die artistischen, experimentellen, ästhetischen Mo- tivationen ihrer Schriftstellerei wesentlich sind. Mit dieser Intention hängt natürlich auch die starke Einbeziehung der Konkreten und maschinellen Poesie zusammen: desgleichen die Transgression der sprachlichen Mittel in die visuellen Wahrnehmungsbereiche. Doch wird keineswegs immer nur der theoretische Hintergrund der Sprachkunstwerke anvisiert, die Essays berücksichtigen auch per- sönliche Erfahrungen, die der Autor als analytischer Kritiker im Umgang mit seinen schriftstellerischen Freunden gewann. Max Bense Die Realität der Literatur Autoren und ihre Texte & Kiepenheuer Witsch podbcf 26 © & 1971 by Verlag Kiepenheuer Witsch Köln Umschlag Hannes Jahn Köln & Gesamtherstellung Butzon Bercker Kevelaer Printed in Germany 1971 ISBN 346200835 8 1 Es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust. NIETZSCHE F. Es war ihm unmöglich, die Wörter nicht in dem Besitz ihrer Bedeutung zu stören. G. CH. LICHTENBERG Digitized by the Internet Archive 2012 in http://www.archive.org/details/dierealittderliOOObens Über die Realität der Literatur Vorwort Der Begriff des Wirklichen gehöre nicht in die Wissenschaft, be- merkt Paul Bernays, der Mathematiker, in seinem Aufsatz »Von der Syntax der Sprache«; daß »die Natur im Ganzen« wirklich ist, sei keine wissenschaftliche »Feststellung« fügt er hinzu. Tat- sächlich handelt es sich bei dem Ausdruck >Wirklichkeit< nicht um einen objektbezogenen Begriff, der »Feststellbares« bezeichnet, son- dern um einen bewußtseinsbezogenen Begriff, der »Bedeutungen« interpretiert. Wirklichkeit, das wollen wir sagen, ist also nicht feststellbar, sondern nur interpretierbar; sie fixiert keine Einzel- heit, sondern einen Zusammenhang, einen Nexus, keine Singulari- tät, einen Kontext, kein Fakt. Wenn es aber so ist, dann ist es in gleicher Weise sinnvoll, von sprachlicher Wirklichkeit, konstituiert in einem Kontext, wie von physikalischer Wirklichkeit, konstitu- iert in einem Naturgesetz, zu sprechen, und die platonische Wirk- lichkeit der Ideen kann nur durch einen Interpretanten und seine Interpretation von der materialen Wirklichkeit der Atome separiert werden. Die physikalische Wirklichkeit des Naturgesetzes ist dabei mathematisch, aber die sprachliche Wirklichkeit des Kontextes grammatisch legitimiert. Diese Voraussetzungen sollten, so meine ich, berücksichtigt werden, wenn von der Realität des Literarischen die Rede ist. Daß die Sprache eine kontexterzeugende, interpretierte Realität ist, die als Konfinium zwischen >Sein< und >Bewußtem< besteht, ist eine Tatsache, die erst unsere Epoche kreativ ernst nimmt und ausnützt. Als kreierte Realität hat sie ihren informativen, kommu- nikativen und konstruktiven Aspekt, und indem wir den letzteren weniger grammatisch als vielmehr ästhetisch verstehen, gestehen wir in der literarischen Produktion dem Wort eine seinssetzende Kraft zu wie in der mathematischen Rechnung der Zahl. Nur in dieser seinssetzenden Kraft des Worts im Rahmen der sprachlichen Wirklichkeit der Literatur sind artistische Freiheit und engagierte Bescheidenheit möglich und effektiv. Texte so nennen wir die beobachtbaren Objekte einer Wirklichkeit, die als solche nicht beobachtbar, sondern, wie gesagt, nur inter- pretierbar ist. Die Realität der Literatur ist eine Realität der materialiter gegebenen Texte. Sie bilden das Konfinium, das sich real zwischen Welt und Ich, zwischen Seiendem und Bewußtem, zwischen Objekten und Zeichen ausbreitet. Jedes intellektuelle We- sen bewohnt dieses Konfinium in dem Maße, als sein Bewußtsein Teil hat an der Welt und Welt in sein Bewußtsein eindringt. Der effektive Zusammenhang alles Seienden, aus dem das denkende Ich nicht ausgeklammert werden kann, ist in jedem Falle ein Zusammenhang der Wörter. Insofern geht selbst der physikali- schen Realität die sprachliche voran. Die Veränderung der Welt ist eine Veränderung durch Wörter, die in ein Bewußtsein ein- dringen, das an der Welt Teil hat. Genau in diesem Sinne ist Sprache auch intersubjektiv und intersensual möglich wie jedes System von Zeichen, dessen materiale Gegebenheit im Prinzip jeder Ebene der Sinnesempfindung angehören kann. Auch diese erweiterten Voraussetzungen müssen heute berücksich- tigt werden, wenn der kreative Aspekt der literarischen Produk- tion, übrigens in der ganzen Welt, unter der verdoppelten Pro- gressivst des Artistischen einerseits und des Engagements anderer- seits, beobachtet und interpretiert wird. Denn ich habe immer die Auffassung vertreten, daß Literatur heute und im Sinne einer sprachlichen Realität stärker auf einem theoretischen, als auf einem emotionalen Hintergrund verständlich und wirksam wird. Auch betonte ich stets, daß die sprachliche 8

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