ebook img

Die Psychiatrie und die Fakultäten PDF

18 Pages·1947·0.588 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Die Psychiatrie und die Fakultäten

DIE PSYCHIATRIE UND DIE FAKULTÄTEN VON KURT SCHNEIDER BERLIN UND HEIDELBERG SPRINGER -VERLAG 1947 SONDERABDRUCK AUS SCHRIFTEN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG, HEFT 2 Grundlage eines Vortrages, der am 12. Juli 1946 im Rahmen der Heidelberger Professoren-Vorträge in der Alten Aula der Uni versität gehalten wurde. KURT SCHNEIDER Crallsheim, 7. 1. 1887 ISBN 978-3-642-53078-4 ISBN 978-3-642-53077-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-53077-7 ALLE RECHTE VORBEHALTEN VERÖFFENTLICHT UNTER ZULASSUNG NR. US·W-I093 DER NACHRIOHTENKONTROLLE DER MILITÄRREGIERUNG (UNTER VERWALTUNG DER AlIlERIKANISOHEN lIlILITÄRREGIERUNG) 400 EXEMPLARE Dieser Vortrag soll einmal zeigen, welche besondere Stellung die Psychiatrie in der medizinischen Fakultät einnimmt gegen über ihren sonstigen Disziplinen. Und weiter, welche Beziehungen zwischen der Psychiatrie und den anderen Fakultäten bestehen, vor allem, was sie für die anderen Fakultäten bedeutet, inwiefern sie für diese belangvoll ist, in sie hineinreicht, wieso die andern Fakultäten mit der Psychiatrie zu tun haben. Um es gleich zu sagen: es wird sich nicht um ein überhebliches Überschreiten unserer Grenzen handeln, nicht um eine psychiatrische Aller weltswisserei, einen Pathopsychologismus, nicht um ein Hinein tragen von psychiatrischen Bewertungen in fremde Wissenschaften. Im Auge haben wir nur die vier alten Fakultäten, deren Sym bole hier auf uns herniederscha.uen. Der naturwissenschaftlich mathematischen haben wir kaum etwas zu sagen. Wir bemühen uns um Einfachheit und Verständlichkeit, wohl wissend, daß man diese Dinge auch sehr viel komplizierter sagen kann. Auch weiß ich, daß man in vielem verschiedener Meinung sein kann. Aber ich nehme an, daß es Sie weniger interessiert, zu hören, was man über diese Probleme überhaupt denken kann, sondern daß Sie meine Anschauungen hören wollen. - Zuerst die eigene, die medizinische Fakultät. In ihr nimmt die Psychiatrie eine keinem ihrer anderen Fächer vergleichbare Sonderstellung ein.. Und aus ihr ergeben sich dann auch zwar nicht alle, aber doch die meisten Beziehungen zu den andern drei Fakultäten. Die Medizin ist Wissenschaft vom Lei b, insbesondere vom kranken Leib und seiner Behandlung. Und sie braucht sich des Leibes wahrlich nicht zu schämen. Auch die Psychiatrie ist nun zum sehr großen Teil eine Wissenschaft vom Leib - oder will es werden. Eine große Anzahl der seelischen Abnormitäten und Störungen, der "Geistes"krankheiten, wie man auch unsachlich sagt, ist als Ausdruck von Gehirnkrankheiten erkannt. Es können primäre, unmittelbare Gehirnkrankheiten sein oder das Gehirn kann sekundär, mittelbar durch sonstwo im Leib sich abspielende 3 Krankheiten affiziert sein, etwa durch eine innere Erkrankung im üblichen Sinne. Diese beiden Möglichkeiten können nur unscharf voneinander abgehoben werden. Immer ist das Gehirn das, ,Erfolgs organ", dessen Erkrankung die psychische Störung "bedingt". Psychiatrie ist nun aber etwas anderes als Gehirnwissenschaft und auch etwas anderes als die Lehre von den seelischen Sym ptomen der Hirnkrankheiten. Sie ist auch längst nicht mehr nur Irrenheilkunde, sondern schlechthin die Wissenschaft vom abnormen Seelenleben überhaupt. Sie hat es dabei mit zwei ganz verschiedenen Arten von seeli schen Abnormitäten zu tun: einmal mit den soeben erwähnten Krankheitsfolgen auf psychischem Gebiet und zweitens mit den abnormen Spielarten seelischen Wesens, die eben nichts als das, die keine Krankheitsfolgen sind. Zu ihnen gehören (neben einem Teil der angeborenen Verstandesmängel und der abnormen vitalen Triebneigungen) die so besonders wichtigen abnormen Persönlich keiten, von denen man einen bestimmten Ausschnitt psychopa thische Persönlichkeiten heißt, und die abnormen seelischen Reak tionen auf Erlebnisse. Wenn etwa ein Mensch zu einer trüben, depressiven Lebensbetrachtung neigt, alles unbegründet schwer nimmt, von allem die traurige Kehrseite und den bedrohlichen Ausgang sieht, sich nie harmlos freuen kann, so ist das kein Kranker, denn sein besonderes Wesen kann nicht auf einen Krank heitsvorgang zurückgeführt werden. Höchstens bildlich, aber ohne den Anspruch strenger Sachlichkeit kann man da von "Krankheit" und "krankhaft" reden. Es handelt sich eben tat sächlich nur um eine abnorme Variation menschlichen Wesens, um eine abnorme Persönlichkeit, einen depressiven Psychopathen. Oder wenn ein Mensch, an sich ausgeglichen und keineswegs schwer an seiner Natur tragend, auf ein Schicksal mit Mutlosig keit, mit Apathie oder mit Verzweiflung und Selbstmord reagiert, so ist das wieder kein Kranker im wirklichen Sinne, sondern es liegt eben eine mehr oder weniger abnorme Erlebnisreaktion vor. Es gibt eine Fülle von ganz verschieden aussehenden abnormen, psychopathischen Persönlichkeiten; nicht nur depressive, sondern auch betriebsame, fanatische, geltungsbedürftige, gemütlose, willenlose und manche andere kann man unterscheiden. Und ebenso sind die Bilder der abnormen Erlebnisreaktionen auf deprimie rende, schreckhafte, bedrohende Erlebnisse sehr vielgestaltig. 4 Gewiß kann man nun sagen, daß auch bei diesen abnormen Spielarten seelischen Wesens "auf der körperlichen Seite" etwas anders sein müsse als bei andern Menschen. Es hat durchaus Sinn, das "Wesen" einer abnormen Persönlichkeit in einer be stimmten Körperverfassung zu suchen, die man sich als Ursache oder nur als "Entsprechung" des seelischen Zustandes vorstellen kann. Das mag so sein, aber es ist sicher, daß man sich dann solche körperlichen Ursachen oder Parallelerscheinungen eben einfach als abnorme Variationen von Bau oder Funktion des Leibes oder bestimmter Organsysteme vorzustellen hätte und nicht als Krankheiten und deren Folgen. Genau wie man sich jede Spielart des Verstandes und der Persönlichkeit, auch die positiv zu bewertenden Varianten, wie große Talente und Bega bungen, leiblich "unterbaut" denken kann. Kurz: diese Frage deckt sich dann völlig mit dem Leib-Seele-Problem und dieses ist ein metaphysisches. Wir sind gewohnt, in der Sprache eines empirischen Dualismus ~u reden. Wir finden in derErfahrung, einander unvergleichbar, die leibliche und die seelische Seins weise vor und können auch psychiatrische Erfahrungen kaum anders als empirisch-dualistisch ausdrücken. Wir sagen etwa, daß da ein bestimmter Hirnbefund eine Verblödung verursacht habe, zum mindesten, daß dem Hirnbefund die Verblödung "entspreche". Wir können uns gar nicht anders ausdrücken, jedenfalls nur mit Mühe, umständlich und gewissermaßen unnatürlich. Diese Ausdrucksweise bedeutet keineswegs ein Bekenntnis zu einem metaphysischen Dualismus, zu der Anerkennung zweier selb ständiger überempirischer Wirklichkeiten. Auch wer metaphy sisch nicht dualistisch denkt, muß und wird sich in dieser em pirisch-dualistischen Sprache ausdrücken. Sie entspricht eben der Struktur der Erscheinungswelt. Wir mußten abschweifen. Die Psychiatrie hat es einerseits mit seelischen Abnormitäten als Krankheitsfolgen zu tun und andererseits mit abnormen Spielarten seelischen Wesens. Nun steht es heute noch so, daß wir von diesen Krankheiten erst eine sehr unvollkommene und lückenhafte Kenntnis haben. Es gibt vor allem zwei psychopathologische Tatbestände, die sicherlich auf Krankheiten (d. h. für uns stets: auf körperliche Störungen) zu rückgehen, ohne daß man diese Krankheiten kennt. Und zwar spielen sie zahlenmäßig eine sehr große Rolle. Man heißt SIe 5 heute Schizophrenie und Zyklothymie. Nun sind hier nicht nur die zugrunde liegenden Krankheiten unbekannt, sondern man kann nicht einmal wissen, ob diesen Psychosen je ein einheitlicher Krankheitsvorgang entspricht, was zum mindesten bei dem, was wir Schizophrenie heißen, völlig undenkbar ist. Man kann aber über diese ganzen Fragen lediglich phantasieren. Hier sind also die zugrunde liegenden Krankheiten ein Postulat, allerdings ein sehr wohl gestütztes. Die häufige Bindung an die Generations vorgänge und die manchmal mit diesen Zuständen verbundenen körperlichen Veränderungen sind hier weniger belangvoll und überzeugend als Folgendes: Bei diesen Zuständen treten unter anderen Symptomen solche auf, die im nicht-psychotischen Seelen leben keine Analogien haben. Sie schließen sich in erdrückender Mehrzahl nicht an Erlebnisse an und sind nicht von solchen motiviert. Sie sind durch seelische Behandlung nicht entscheidend beein flußbar, wohl aber durch körperliche. Das alles, vor allem aber die Zerreißung der Sinngesetzlichkeit der Lebensent wicklung, ist trotz anderer Symptomatik genau so wie bei den Psychosen, deren körperliche Ursachen man kennt. Und so ist der Schluß auf Krankheit sehr gut begründet. Die Hirn anatomie hat bei der Erforschung dieser Störungen versagt, die Pathophysiologie ist erst in den Anfängen. Sie ist unsere Hoff nung, ihre Pflege ein großes Anliegen der Psychiatrie. Nur die Kenntnis der diesen Psychosen zugrunde liegenden Krankheiten könnte auch zu einer wirklichen Therapie führen; unsre heutige ist zwar keineswegs machtlos, aber eben "symptomatisch" und nicht auf der Erkennung der Krankheitsvorgänge aufgebaut, wie die zu erstrebende kausale Therapie es sein müßte. Unsere grundsätzliche Unterscheidung von Krankheitsfolgen und abnormen Spielarten seelischen Wesens kann hier unmöglich im einzelnen auf mancherlei Verbindungen und Verschlingungen bei der Gruppen eingehen. Nicht etwa auf die Frage, ob und welche Spielarten vielleicht zu der einen oder anderen Krankheit dis ponieren, nicht auf die Frage der Übergänge und auch nicht auf den Aufbau der psychotischen Bilder, die auch bei den Krankheits folgen von der Persönlichkeit und ihren Erlebnissen ausgestaltet werden. Und vollends nicht auf die praktisch diagnostischen Schwierigkeiten, die sich, allerdings verhältnismäßig selten, zwischen beiden Gruppen ergeben, sei es nur im Augenblick oder 6 auf die Dauer. Es kommt uns hier nur auf das Grundsätzliche an, denn dieses allein muß für unseren heutigen Zweck ver standen werden. Die Gruppe der abnormen Spielarten seelischen Wesens geht überall ohne scharfe Grenzen in die normalen Lagen über. Sie gehört nicht zur Medizin, denn sie hat nichts mit einer Wissenschaft vom Leib, vom kranken Leib zu tun. Dieser aber ist Gegenstand aller anderen Ärzte. Auch wenn sie beachten, daß das Seelische gelegentlich bei der Auslösung mancher Krank heiten eine Rolle spielt und als Komplikation, als Erleichterung oder Erschwerung der Heilung ins Gewicht fällt, steht der Lei b im Zentrum ihres Blickfeldes. Das Seelische bildet höchstens Nebenzüge, es wird nicht als solches intendiert. Anders steht die Psychiatrie. Sie hat es bei jener Gruppe der bloßen seelischen Spielarten rein mit dem Seelischen zu tun, sie intendiert es hier als solches. Und in seiner klinischen Vorlesung zeigt der Psychiater neben seelischen Folgen von Krankheiten auch nicht-kranke Men schen, die sich in äußeren oder inneren Schwierigkeiten befinden, die in schwer zu bewältigende Schicksale gerieten, die mit dem Leben infolge ihrer psychopathischen Persönlichkeit nicht fertig werden. Seine Klinik wird so auf weite Strecken zu einer "Lebens klinik" , die den Bereich der Krankheiten und der kranken Menschen überschreitet. Aber auch diesen Formen kann nur der fachkundige Arzt gerecht werden. Nur er kann sie von den see lischen Krankheitsfolgen unterscheiden und so Verkennungen ver hüten, die schwerwiegende Folgen haben können: Versäumnisse einer rechtzeitigen körperlichen Behandlung und falsche Ratschläge. In demselben Maße, wie der Psychiater rein psychologische Ab normitäten vor sich hat, fällt sein Gegenstand methodisch aus dem Rahmen der medizinischen Fakultät. - Damit stehen wir in der philosophischen Fakultät. Schon die Beschäftigung mit den psychischen Störungen bei Krankheiten ist Psychologie und wir hörten, daß wir in sehr vielen Fällen hier noch gar nichts anderes in Händen haben als psychische Symptomatik. Aber hier wird die Pathopsychologie immerhin noch mit dem Blickpunkt, Krankheitsäußerungen zu erfassen" betrieben. Gegenüber jenen bloßen almormen Spielarten menschlichen Wesens ist dies aber anders. Hier ist reine Psychologie und diese gehört zur philosophischen Fakultät. Soweit der Psychiater diese reine Psycho- 7 logie treibt, gehört sein Tun geradezu zur philosophischen Fakultät. Dies hat nichts mit jenen alten Erörterungen zu tun, ob die Psychiatrie Geschäft des Mediziners oder Philosophen sei. Man liest manchmal in historisch-psychiatrischen Einleitungen, "noch Kan t" habe die Psychiatrie dem Philosophen zugewiesen. Das ist nebenbei gesagt nicht einmal richtig. Ich kenne folgende Stelle. "Die traurigen Übel der Geisteskrankheiten lassen, wenn sie nur nicht erblich sind, noch eine glückliche Genesung hoffen, und derjenige, dessen Beistand man hierbei vornehmlich zu suchen hat, ist der Arzt. Doch möchte ich ehrenhalber den Philosophen nicht gerne ausschließen, welcher die Diät des Gemüts verordnen könnte; nur unter dem Beding, daß er hierfür, wie für seine mehrste andere Beschäftigung, keine Bezahlung fordere." (Als Gegenleistung bittet K a n t dann scherzhaft den Arzt, sich ihm bei der Kur der Narrheit, der "Tobsucht eines -gelehrten Schreiers" nicht zu versagen und macht drastische Vorschläge.) Daß die Psychiatrie wie schlechthin alles auch philosophisch betrachtet werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Philosophie ist ja kein Fach neben anderen, sondern das Umgreifende, das jeder empirischen Erscheinung Platz und Bedeutung anweist. Und so hat Kant sich auch erlaubt, einen Versuch über die Krankheiten des Kopfes zu schreiben. Nur würde ein heutiger Philosoph sich bei solchem Unternehmen mehr an die Phänomene halten, was allerdings damals auch die" Ärzte nicht taten: man spekulierte auf einer minimalen Erfahrungsgrundlage. Die Pathopsychologie des Psychiaters hat der Psychologie viel zu sagen, es ist ein wechselseitiges Geben und Empfangen. Eine Pathopsychologie, die sich nicht um die Normalpsychologie kümmert, wäre einer pathologischen Physiologie zu vergleichen, die nicht auf der Physiologie des normalen Lebens beruht. Sie wäre Dilettantismus, der leider oft genug vorkommt. Anderer seits hat die Psychologie von der Pathopsychologie manches ge lernt: sie gewann an der Herausarbeitung intensitativoder quali tativ abnormer Funktionen oft Einsichten, die ohne sie nicht möglich gewesen wären. Für die praktische Pädagogik sind die psychiatrischen Er fahrungen unentbehrlich. Man denke an jene völlig unscharfen Übergänge zwischen normalen und abnormen (psychopathischen) Persönlichkeiten, an die nur vom Arzt zu leistende Differential- 8 diagnose zwischen beginnenden Psychosen und Psychopathien, an die Möglichkeit, daß ein Verstandesmangel auch endokrin oder sonst körperlich bedingt sein kann So muß der Psychiater in den Fragen der Hilfsschule, der Verwahrlostenfürsorge, der Heil pädagogik zum mindesten vorgeschaltet sein, um Versuche am untauglichen Objekt zu vermeiden, die körperlich Behandlungs bedürftigen herauszulesen. Psychosen auszuscheiden. Es würde zu Banalitäten führen, wollte man die Rolle des Psychiaters auf allen diesen Gebieten schildern. Sie ist ja auch unbestritten. Die Philosophie im eigentlichen Sinne berührt die Psych iatrie mehr als die anderen medizinischen Fächer. Unmittelbar geht sie das Leib-Seele-Problem an; es steht mitten in ihr und es ist kein Zufall, daß wir gleich oben davon sprechen mußten. Alle ande ren Wissenschaften haben erkenntnistheoretische Vorfragen und me taphysische Ausblicke, dazwischen aber eine lange Strecke, auf der sie, von philosophischen Fragen nicht notwendig beunruhigt, frucht bare Empirie treiben können. Dies ist bei uns anders. Trotz aller Rede von "Leib-Seele-Einheit" und "Ganzheitsbetrachtung" steht das psycho-physische Problem stündlich vor uns. Denn es ist ja unsere Aufgabe, Erscheinungen der körperlichen Reihe mit solchen der seelischen Reihe in Beziehung zu setzen. Dazwischen steht nun das Leib-Seele-Problem, an das wir also dauernd stoßen, das uns ständig beunruhigt. Gewiß: wir legen es beiseite, indem wir uns an den geschilderten "empirischen Dualismus" halten, und wir kommen für den Alltag mit dieser Formulierung auch aus. Aber es ist eben nur eine praktische Formulierung, ein Bild, eine Art Selbst betrug. Wir dürfen darüber nie vergessen, daß wir eben nicht wis sen, wie das Verhältnis wirklich beschaffen ist, daß unsere Formel eine Annahme ist, eine notgedrungene Art, sich auszudrücken. Und daß tief bis ins Klinische hinein ein wesentlicher Teil unserer jetzi gen Voraussetzungen und Annahmen anders aussähe, wenn wir et was von dem tatsächlichen Verhältnis der beiden Reihen wüßten. Es kann auch sein, daß schon die grundsätzliche Möglichkeit des Wissens ein falscher Gedanke ist. Es kann sein, daß unsere Frage stellungen, unsere logischen Denkformen den metaphysischen Wirk lichkeiten überhaupt unangemessen sind, daß sie von ihnen gar nicht erreicht werden, daß sie sich mit ihnen gar nicht ausdrücken lassen, daß also ein "Wissen" gar nicht denkbar wäre. Auf alle Fälle gibt es hier für uns nur zahlreiche Denkmöglichkeiten und 9 vielleicht eine glaubens artige Entscheidung für die eine oder andere. Hier ist eben ein metaphysiscnes Problem, als solches unlösbar. Was aber nicht bedeutet, es sei unfruchtbar und sinnlos, sich damit abzugeben. Es liegt ja nun einmal im Wesen des Menschen, sich auch mit Fragen abzumühen, die unlösbar sind (NICOLAI HART MANN). Unter den Einzelfächern der philosophischen Fakultät soll uns nur die Literaturwissenschaft ausführlicher beschäftigen. Das meiste, was wir hier zu sagen haben, ist sinngemäß auch auf andere Kunstwissenschaften, auf die Geschichte, auch auf die Religions wissenschaft anzuwenden. Die Literaturgeschichte hat nicht nur die Aufgabe, historische Zusammenhänge zu zeigen, literarische Stilkunde zu treiben, Dicht werke zu deuten und zu bewerten, sondern sie befaßt sich auch mit Menschen: mit dem Dichter und seiner Lebens- und Ent wicklungsgeschichte. Damit treibt auch sie Psychologie, zeitweise weniger, zeitweise mehr. Heute ist das Interesse daran sichtlich zurückgetreten. Man interessiert sich etwa mehr für die "Mytho logie" von Nietzsche als für seine Psychologie (E. BERTRAM). Ich möchte bekennen, daß mir das sehr sympathisch ist, aber ganz wird sich das Interesse für das geschichtliche Leben eines Dichters und die Bemühung, seine reale Persönlichkeit zu verstehen und zu rekonstruieren, wohl nie ausscheiden lassen. Oft kann nun die Psychiatrie den Literaturhistoriker beim Aufhellen, beim Verstehen von Persönlichkeiten beraten. Die Persönlichkeit des Dichters ist eben meist keineswegs einfach und "normal". Der Psychiater aber hat nun eine sehr große Erfahrung mit komplizierten, unausge glichenen, an sich und dem Leben leidenden, psychopathischen Menschen und kann dem Literaturhistoriker ungewöhnliche Persön lichkeiten leichter anschaulich und verständlich machen, als das ohne die Kenntnis solcher vom Leben dargebotenen Modelle mög lich ist. Vollends dann aber braucht dieser die Belehrung des Psychiaters, wenn er es mit Dichtern zu tun hat, die krank waren, deren seelische Abnormitäten nur als Psychosen, als Folgen von Krankheiten deutbar sind. So wäre der schizophrene Hölderlin ohne psychiatrische Betrachtung ein völliges Rätsel, allem Ver stehen unzugänglich, ein unfaßbares Lebensphänomen. Das Ver ständnis des Literaturhistorikers müßte hier kapitulieren ohne psychiatrische Hilfe. Die Psychiatrie hat seit MOEBIUS eine Fülle 10

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.