Torsten Selck · Tim Veen Die politische Ökonomie des EU-Entscheidungsprozesses Torsten Selck · Tim Veen Die politische Ökonomie des EU-Entscheidungs- prozesses Modelle und Anwendungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . .1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15406-0 Danksagung Wir möchten uns bei Constanze Kathan und Damaris Mattner für ihre wertvolle Unterstützung während des Editierens dieses Bandes bedanken. Inhalt Die politische Ökonomie des EU- Entscheidungsprozesses: Modelle und Anwendungen 1. Torsten J. Selck/Tim Veen Die Europäische Union aus der Sicht der Politischen Ökonomie .......................................................................... 9 2. Thilo Bodenstein/Achim Kemmerling Die politische Ökonomie der EU-Integration am Beispiel der EU-Osterweiterung ........................................................ 29 3. Constanze Kathan/Torsten J. Selck Zum Stand der Dinge: Spieltheoretische Modelle des Gesetzgebungsprozesses in der Europäischen Union .............................. 49 4. Christian Fahrholz/Philipp Mohl Machtindexanalyse und Europäische Zentralbank .................................. 71 5. Torsten J. Selck/Constanze Kathan Eine Analyse des europäischen politischen Entscheidungsraumes .............................................................................. 91 6. Arndt Wonka Die Europäische Kommission in EU-Entscheidungsprozessen ............. 111 7. Frank M. Häge Politischer Konflikt im Entscheidungsprozess des Ministerrats der Europäischen Union: Eine empirische Analyse institutioneller Einflussfaktoren .............................................. 133 8 Inhalt 8. Michael Kaeding Die Auswahl der Berichterstatter im Europäischen Parlament: Informationsbeschaffer oder Verteilungskämpfer? ............................... 163 9. Gerald Schneider/Daniel Finke/Konstantin Baltz Korporatismus oder Etatismus? Formierung von Verhandlungspositionen zu EU-Gesetzgebungsvorhaben ..................... 183 10. Ellen Mastenbroek Jenseits des Stichtags. Die Umsetzung von EU Richtlinien in den Niederlanden .............................................................................. 211 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 241 Schlagwortregister ......................................................................................... 245 Die Europäische Union aus der Sicht der politischen Ökonomie Torsten J. Selck/Tim Veen 1 Einleitung 0B Im März 2007 unterzeichneten die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) unter Federführung der deutschen Ratspräsidentschaft feierlich die ‚Berli- ner Erklärung‘. 50 Jahre nach der offiziellen Ratifizierung der Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschafts- Gemeinschaft (EWG) in Rom bekannte sich die EU in dieser Erklärung zu erneuten grundsätzlichen Reformen sowie zur Schaffung einer neuen vertraglichen Grundlage bis zum Jahre 2009. Dieser Fahrplan wurde auf dem EU-Gipfel unter deutscher Ratspräsidentschaft in Brüs- sel Juni 2007 noch einmal bekräftigt. Zum Zeitpunkt des Drucks dieses Sammel- bands befindet sich die EU in der Ratifikationsphase des ‚Vertrags von Lissa- bon‘, wie die neue vertragliche Basis der Europäischen Union genannt wird, nachdem sich die Regierungsführer im Dezember 2007 über dessen Inhalt auf dem Ratsgipfel ebenjener Stadt einig geworden waren. Durch den Vertrag von Lissabon werden die institutionellen Hemmnisse Vertrags von Nizza (2001) weitestgehend entschärft, wodurch eine effizientere Entscheidungsfindung auf EU-Ebene gewährleistet sein soll. Vorrangiges Ziel ist es, die institutionellen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Union auch mit der geplanten Aufnahme weiterer Beitrittskandidaten, wie z.B. Kroatiens und der Türkei, in Ihren Ent- scheidungsverfahren handlungsfähig bleibt. Die Berliner Erklärung und der daraus resultierende Vertrag von Lissabon werden darum auch als ersehnte Impulse, von manchen gar bereits als historische Meilensteine der Integrationsgeschichte der Europäischen Union gesehen. War noch 2003 durch die Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden die Errichtung einer stabileren vertraglichen Basis durch den Vertrag über eine Verfassung von Europa (VVE) gescheitert, so ist die Berliner Erklärung nun ein „Glücksfall für Europa und die Welt“, wie es der luxemburgische Ministerpräsi- dent Jean-Claude Juncker in einem Interview mit dem Deutschlandfunk be- schrieb. Nach den Rückschlägen von 2003 sowie der im Zuge dessen neu ent- 10 Torsten J. Selck/Tim Veen fachten Kritik an Brüssel und seinen Institutionen, wurden in Berlin und Lissa- bon die benötigten Zeichen zur Trendwende gesetzt. Der Europäische Rat bezog dabei eindeutig die Position, dass die Europäische Union mit ihrem Leitmotiv der „ever closer union“ (Dinan 1999) allen Widerständen zum Trotz bestrebt sei, gemeinsam und geeint an einer Zukunft für die Europäische Union und ihrer nunmehr 27 Mitgliedsstaaten zu arbeiten. In den 50 Jahren, die seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 verstrichen sind, hat der europäische Integrationsprozess manche Höhen und Tiefen erlebt. So musste sich dieses größte politische und wirtschaftliche Ge- meinschaftsprojekt Europas, bisweilen sogar als eine „never ending succes sto- ry“ (Schneider 2002) beschrieben, so manches Mal mühsam aus Fasen der „Eu- rosklerose“ und Stagnation befreien. Langsam jedoch wuchs die Europäische Union in diesem halben Jahrhundert zu jenem quasi-föderalen System und fried- vollen Verbund von Staaten zusammen (Wallace 1983), wie wir sie heute ken- nen, einem „middle ground between the cooperation of existing nations and the breaking of a new one” (Scharpf 1988: 242), auf dem der wirtschaftliche Wohl- stand und die politische Stabilität Europas in weiten Teilen begründet liegen. Dies konnte jedoch nur dadurch erreicht werden, dass die Mitgliedsstaaten Euro- pas bereits im frühen Stadium ihrer intereuropäischen Kooperation begonnen hatten, wichtige Entscheidungen auf intergouvernementaler Ebene zu treffen sowie nationalstaatliche Befugnisse auf die „supranationale“ Ebene, d.h. auf die der Europäischen Union, zu übertragen. Im Laufe der Zeit wurde die Verflech- tung der Mitgliedstaaten mit der EU stets vielschichtiger. Auch das interinstitu- tionelle politische Gefüge der EU durchlief manche Revidierung und Überarbei- tung. Diese Entwicklungen trugen ihrerseits dazu bei, dass sich die Entschei- dungsfindung der EU zu einer in der Welt einmaligen Kooperation von National- staaten entwickelte. Dieser Sammelband soll einen Beitrag leisten, die komplexen Entschei- dungsprozesse auf den diversen Ebenen der Europäischen Union sowie ihrer Organe und Mitgliedsstaaten durch Anwendung politikökonomischer Theorien und Modelle verständlich zu machen. Gleichzeitig stellt der Band eine ange- wandte Einleitung in das Rational-Choice-Paradigma dar, das in den Autorenbei- trägen vornehmlich zu Rat gezogen wird, um die EU erklären und verstehen zu lernen. Bevor dies jedoch en détail in den nachfolgenden Kapiteln geschieht, soll in dieser Einleitung eine theoretische Grundlage hierfür geschaffen werden. Wir gehen daher in diesem Abschnitt nachfolgend auf die Integrationsgeschichte der Europäischen Union, die Entwicklung ihrer Entscheidungsprozesse sowie auf die Positionierung der politischen Ökonomie innerhalb europäischer Integrations- theorien ein. Abschließend wird die Struktur dieses Sammelbandes erläutert und werden die nachfolgenden Kapitel im Einzelnen kurz zusammengefasst. Die Europäische Union aus der Sicht der politischen Ökonomie 11 2 Die Integrationsgeschichte der EU: Von Vernunftehe zu Liebe auf den 1B zweiten Blick? Um die politische und ökonomische Entwicklung der Europäischen Union ver- stehen zu können, sollte man noch in die Zeit vor der Gründung der Europä- ischen Gemeinschaften im Jahre 1957 zurückblicken. Denn bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ging in Europa erneut die Angst vor einem Krieg um. Diese Angst wurde zum einen durch die Furcht vor einem möglicher- weise widererstarkenden Westdeutschland geschürt (McCormick 2005), sowie zum anderen durch Befürchtungen vor weiteren kommunistischen Expansions- plänen der UdSSR in Richtung Westen bestärkt.1 Es sollte sich im Laufe der PF FP folgenden Jahre zeigen, dass diese beiden Motive als eine Art Katalysator auf die politische und wirtschaftliche Integration der westlichen europäischen Nach- kriegsstaaten wirkten. Denn nur durch eine Gemeinschaft der europäischen Staa- ten konnte gleichzeitig eine wirksame Blockbildung gegen Russland stattfinden, als auch Deutschland effektiv in diesen Prozess eingebunden werden, wodurch ein weiterer deutscher ‚Sonderweg’ verhindert werden sollte. Die Vereinigten Staaten wollten nach dem Zweiten Weltkrieg den Einfluss Russlands auf West-Europa möglichst zügig eindämmen. Der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten nationalen Volkswirtschaften Europas war hierfür von größ- ter Wichtigkeit. Die Amerikaner stellten dazu den Marshallplan, offiziell als das European Recovery Program bezeichnet, als wirtschaftliche Starthilfe auf. Hier- durch wurden rund 12,5 Milliarden US Dollar in den Aufbau West-Europas investiert (Milward 1984: 94). Neben seinen wirtschaftlichen Effekten hatte der Marshallplan jedoch auch eine politische Bedeutung. Die Wirtschaftshilfe führte zu ersten Schritten der Zusammenarbeit der Länder Europas. Dabei wurde den Nationen vor Augen geführt, wie groß die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Öko- nomien untereinander war (Urwin 1995), und dass nur eine enge Kooperation den Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg bedeuteten konnte. In diesem Sinne wurde alsbald mit dem Wirtschaftsplan OEEC (der Europäische Wirtschaftsrat in Paris) eine europäische Initiative zur direkten Unterstützung des Marshallplans beschlossen, die die gemeinsamen Wiederaufbaubemühungen der Volkswirt- schaften weiter verstärken sollte und gleichzeitig eine erste institutionalisierte Zusammenarbeit der (west-)europäischen Nationen darstellte. Zusammenfassend waren die sicherheitspolitischen Aspekte sowie das Bestreben nach einem schnellen wirtschaftlichen Wiederaufbau die Gründe für den Beginn einer Ver- nunftehe im Westen Europas; gleichzeitig fiel dabei auch der Startschuss für die 1 Der Überfall Nordkoreas auf Südkorea am 25. Juni 1950 und der Konflikt um Berlin in den Jahren PP nach dem Zweiten Weltkrieg machten deutlich, dass die sowjetische Ideologie nach dem Zweiten Weltkrieg expansiv geprägt war.