Uwe Jun Oskar Niedermayer Hrsg. Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Uwe Jun · Oskar Niedermayer (Hrsg.) Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017 Aktuelle Entwicklungen des Parteienwettbewerbs in Deutschland Hrsg. Uwe Jun Oskar Niedermayer Universität Trier Berlin, Deutschland Trier, Deutschland ISBN 978-3-658-29770-1 ISBN 978-3-658-29771-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Inhaltsverzeichnis Die Entwicklung des Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2017 ...................................... 1 Oskar Niedermayer Die CDU: Volkspartei am Ende der Ära Merkel ................... 43 Torsten Oppelland Die Krise der SPD: Kaum Licht am Ende des Tunnels .............. 71 Uwe Jun Konkurrenz am rechten Rand: Die Etablierung der AfD im Parteiensystem ............................................ 105 Oskar Niedermayer Die FDP zwischen Wahlerfolgen, Regierungsflucht und Stagnation ............................................... 133 Benjamin Höhne und Uwe Jun Die Linke zwischen internen Konflikten, der ersten Koalition im Westen, Niederlagen im Osten und dem Ramelow-Effekt ............ 159 Hendrik Träger Bündnis 90/Die Grünen: Grüne Erfolgswelle nach enttäuschendem Wahlergebnis .................................. 187 Lothar Probst Baustelle CSU. Das Experiment einer postmaterialistisch ergänzten Volkspartei ......................................... 221 Michael Weigl V Autorenverzeichnis Benjamin Höhne, Dr., stellvertretender Leiter des Instituts für Parlamentaris- musforschung in Berlin. Uwe Jun, Dr., Professor für Politikwissenschaft (Westliche Regierungssysteme/ Das politische System Deutschlands) an der Universität Trier. Oskar Niedermayer, Dr., Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr- Institut der Freien Universität Berlin. Torsten Oppelland, Dr., Akademischer Oberrat, außerplanmäßiger Professor und Leiter des Arbeitsbereichs Vergleichende Regierungslehre an der Friedrich- Schiller-Universität Jena. Lothar Probst, Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Hendrik Träger, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politik- wissenschaft der Universität Leipzig. Michael Weigl, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politik- wissenschaft der Universität Passau. VII Die Entwicklung des Parteiensystems bis nach der Bundestagswahl 2017 Oskar Niedermayer 1 Einleitung Das deutsche Parteiensystem wandelt sich. Mit der Bundestagswahl 2009 vollzog es erstmals seit seinem Bestehen einen Typwechsel von einem System mit Zwei- parteiendominanz zu einem pluralistischen System. Bei der nächsten Wahl 2013 kehrte es wieder zur Zweiparteiendominanz zurück. Die Bundestagswahl 2017 brachte den erneuten Typwechsel zu einem pluralistischen System und in den zwei Jahren nach der Wahl vollzogen sich weitere gravierende Veränderungen. Im Folgenden werden zunächst die einzelnen Parteiensystemeigenschaften und die Systemtypologie kurz erläutert, danach wird analysiert, warum es zu diesen Typwechseln kam, und schließlich wird die Entwicklung des Parteiensystems in den ersten beiden Jahren nach der Bundestagswahl 2017 in den Blick genommen. 2 E igenschaften und Typen von Parteiensystemen Unter einem Parteiensystem versteht man „die Gesamtheit der Parteien in einem politischen System sowie deren Beziehungsgeflecht“ (Niedermayer 2007, S. 197).1 Das für die Systemebene konstitutive zwischenparteiliche 1Der Abschnitt wurde übernommen aus Niedermayer 2015a, S. 2 ff. Eine ausführliche Dis- kussion der Parteiensystemeigenschaften und Systemtypologien findet sich in Niedermayer 2013a, b. O. Niedermayer (*) Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 1 U. Jun und O. Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2017, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29771-8_1 2 O. Niedermayer Beziehungsgeflecht lässt sich durch eine Reihe von relationalen, auf die Koexistenz von mehreren Parteien bezogenen Parteiensystemeigenschaften struktureller und inhaltlicher Art charakterisieren, die auf der Wähler- und Parla- mentsebene gemessen werden können. Die Struktur eines Parteiensystems wird wesentlich durch sein Format, d. h. die Anzahl der das System bildenden Parteien, bestimmt. Gemessen wird das Format auf der elektoralen Ebene durch die Anzahl der an einer Wahl teil- nehmenden und auf der parlamentarischen Ebene durch die Anzahl der im Parla- ment vertretenen Parteien. Neben der Gesamtzahl der Parteien werden in der Literatur noch Kriterien diskutiert, mit deren Hilfe sich relevante von irrelevanten Parteien trennen lassen.2 Für Deutschland stellt sich die Frage, wie mit den beiden christdemokratischen Parteien umgegangen werden soll. Auf der Einzel- parteienebene sind CDU und CSU ohne Zweifel getrennt zu behandeln. Auf der Parteiensystemebene werden in Analysen demokratischer, d. h. kompetitiver Parteiensysteme Parteien nur dann als getrennte Analyseeinheiten betrachtet, wenn sie miteinander im Wettbewerb stehen. Da dies für CDU und CSU weder auf der elektoralen noch auf der parlamentarischen Ebene der Fall ist3, bilden sie hier eine Analyseeinheit. Die zweite strukturelle Eigenschaft ist die Fragmentierung. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien in den Blick und gibt den Grad an Zersplitterung oder Konzentration eines Parteiensystems an. Zur Messung dieser Eigenschaft wurde eine ganze Reihe von Indizes vorgeschlagen, wobei die „effektive Anzahl der Parteien“ (vgl. Laakso und Taagepera 1979) aufgrund ihrer Anschaulichkeit die größte Verbreitung gefunden hat. Der Index ist so gestaltet, dass die effektive Anzahl der Parteien auf der elektoralen bzw. parlamentarischen Ebene der realen Parteienanzahl entspricht, wenn alle Parteien den gleichen Stimmenanteil bzw. Mandatsanteil aufweisen, also ein ausgeglichenes Machtverhältnis existiert. Je ungleicher das Machtverhältnis ist, d. h. je mehr sich die Parteien in ihrer Größe unterschieden, desto geringer ist die effektive im Vergleich zur realen Anzahl, und bei Dominanz nur einer Partei nähert sich der Index dem Wert 1. 2Meist handelt es sich dabei um eine bestimmte numerische Größe der Parteien. In Deutschland z. B. hat der Gesetzgeber ein Relevanzkriterium dadurch festgelegt, dass nur Parteien, die bestimmte Stimmenanteile erreichen (1 % bei Landtags- und 0,5 % bei Bundestags- und Europawahlen), an der staatlichen Parteienfinanzierung teilnehmen. 3Die CDU tritt bei Bundestagswahlen nur außerhalb Bayerns, die CSU nur in Bayern an, und beide bilden im Bundestag eine feste Fraktionsgemeinschaft. Die Entwicklung des Parteiensystems … 3 Für Parteiensysteme, die durch zwei große Parteien dominiert werden, wie es für die Bundesrepublik im ersten halben Jahrhundert der Fall war, ist es für die Analyse ihrer Funktionslogik sinnvoll, zusätzlich die Stärke dieser Dominanz und das Größenverhältnis der beiden Großparteien zu betrachten. Die Dominanz der beiden Großparteien zeigt sich auf der Wählerebene am gemeinsamen Anteil der für die beiden Parteien abgegebenen Stimmen an der Gesamtheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Vor allem bei einer geringen oder im Zeit- verlauf sinkenden Wahlbeteiligung ist es zusätzlich sinnvoll, den Anteil der beiden Parteien an der Gesamtheit der Wahlberechtigten zu betrachten, um ihre Mobilisierungsfähigkeit aufzuzeigen. Auf der parlamentarischen Ebene wird die Dominanz am gemeinsamen Mandatsanteil der beiden Großparteien gemessen. Neben der Frage, wie stark die beiden Großparteien das Parteiensystem dominieren, ist deren Größenverhältnis von Interesse. Sind beide in etwa gleich stark oder ist eine der beiden über längere Zeit hinweg deutlich stärker als die andere, sodass eine Asymmetrie im Größenverhältnis vorliegt? Das Vor- liegen einer solchen Asymmetrie zwischen den beiden Parteien wird einfach an der Differenz der Stimmen- bzw. Mandatsanteile gemessen. Wie leicht sich der dadurch gegebene Wettbewerbsvorteil einer der Parteien in Regierungs- macht umsetzen lässt oder ob er sogar von der benachteiligten Partei durch Koalitionsbildungen konterkariert werden kann, hängt von den inhaltlichen Eigenschaften eines Parteiensystems ab. Eine parlamentarische Asymmetrie zugunsten einer Großpartei bedeutet daher nicht zwingend, dass diese Partei auch immer die führende Regierungspartei ist. Die Gründe für ein asymmetrisches Größenverhältnis zwischen den beiden Parteien können kurz- oder langfristiger Natur sein. Hat eine der Parteien dadurch Wettbewerbsvorteile, dass ein größerer Anteil der Wähler durch eine starke, längerfristige Identifikation an sie gebunden ist, so wollen wir von einer strukturellen Asymmetrie sprechen. Die bisherigen Struktureigenschaften messen den Status eines Parteiensystems zu einem bestimmten Zeitpunkt und Aussagen über Entwicklungstendenzen können daher nur im Rahmen komparativ-statischer Analysen durch den Ver- gleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Der Wandel selbst lässt sich durch die sogenannte Volatilität eines Parteiensystems (vgl. Pedersen 1980) wiedergegeben, die durch die halbierte Summe der absoluten Veränderungen des – in Prozent der gültigen Stimmen ausgedrückten – Wahlergebnisses aller Parteien zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wahlen gemessen wird. Spätestens seit den Arbeiten Sartoris (1976) werden die Struktureigenschaften durch eine inhaltliche, die ideologisch-programmatischen Distanzen zwischen den Parteien in den Blick nehmende Eigenschaft ergänzt, die als Polarisierung bezeichnet wird. Bei der Operationalisierung dieser Eigenschaft ist zum einen 4 O. Niedermayer danach zu fragen, welches die grundlegenden Konfliktlinien des Parteienwett- bewerbs sind, und zum anderen muss festgestellt werden, wie sich die Parteien auf diesen Konfliktlinien positionieren, um sagen zu können, wie homogen oder heterogen das gesamte Parteiensystem ist. Der Parteienwettbewerb in Deutsch- land wird seit längerer Zeit durch eine wirtschafts- und eine gesellschafts- politische Konfliktlinie geprägt, die auf unterschiedlichen Wertgrundlagen fußen. In der als Sozialstaatskonflikt zwischen den Grundwerten soziale Gerechtigkeit und Marktfreiheit bezeichneten wirtschaftspolitischen Konfliktlinie geht es um die Rolle des Staates im ökonomischen Wettbewerb. Der gesellschaftspolitische Konflikt dreht sich um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens. Hier stehen linksliberale, multikulturell und international orientierte Wertvorstellungen auf der einen und konservative bis autoritäre, die nationale Identität und Kultur betonende Werte auf der anderen Seite. In enger Beziehung zur Polarisierung steht die Segmentierung eines Parteien- systems. Sie gibt den Grad der gegenseitigen Abschottung der einzelnen Parteien wieder. Auf der elektoralen Ebene sind Parteiensysteme stark segmentiert, wenn zwischen den einzelnen Parteien kaum Wettbewerb stattfindet, weil alle Parteien ihre jeweilige Wählerschaft aus klar voneinander abgegrenzten und gegenseitig abgeschotteten Segmenten der Wählerschaft rekrutieren. Auf der parlamentarischen Ebene sind extrem segmentierte Parteiensysteme dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien untereinander alle nicht koalitionswillig sind, während in nicht segmentierten Parteiensystemen alle Parteien untereinander prinzipiell zu Koalitionsbildungen bereit sind. Anhand dieser Systemeigenschaften lässt sich die Vielzahl der existierenden Parteiensysteme in Gruppen einteilen. Zu finden sind in der Literatur zum einen Klassifikationen, d. h. die Einteilung von Parteiensystemen in sich gegenseitig ausschließende Klassen mithilfe einer einzigen Systemeigenschaft, und zum anderen Typologien, die mehrere Eigenschaften kombinieren. Die folgende Typologie (vgl. Niedermayer 2013b, S. 850), die sich in international ver- gleichenden Analysen bewährt hat, kombiniert die Struktureigenschaften von Parteiensystemen auf der parlamentarischen Ebene, d. h. die Systeme werden nach ihrer Wettbewerbsstruktur im Parlament typologisiert. Unterschieden werden Parteiensysteme mit einer prädominanten Partei, Parteiensysteme mit Zweiparteiendominanz, pluralistische Parteiensysteme und hoch fragmentierte Parteiensysteme. Zur Abgrenzung der ersten beiden Typen ist es notwendig, die Größenrelationen der zwei bzw. drei größten Parteien zu definieren. Um willkür - liche bzw. rein empirisch gewonnene Abgrenzungen weitgehend zu vermeiden, wird als zentrales Kriterium die qualitative Veränderung der Machtposition von Parteien in Parlamenten beim Überschreiten zweier Grenzen des Mandatsanteils