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Die neue türkische Diasporapolitik : Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforderungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entscheidungsträger in Deutschland PDF

29 Pages·2014·0.434 MB·German
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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Yaşar Aydın Die neue türkische Diasporapolitik Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforde- rungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entscheidungsträger in Deutschland S 14 September 2014 Berlin Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2014 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3­4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN 1611-6372 Die großzügige Unter- stützung durch die Stiftung Mercator, Essen, hat diese Untersuchung und ihre Veröffentlichung ermöglicht. Inhalt 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik 8 Rückblick – historische Stationen der türkischen Diasporapolitik 10 Die Entwicklung einer transnationalen türkeistämmigen Diaspora 11 Die gesellschaftlichen Machtverschiebungen 12 Die Neuorientierung in der türkischen Außenpolitik 14 Was ist das »Neue« an der neuen Diasporapolitik? 15 Ökonomische, politische und kulturelle Interessen 15 Ökonomische Interessen 16 Politische Interessen 17 Kulturelle Interessen 18 Zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik 18 Die Türkisch-Islamische Union (DİTİB) 18 Das Amt für Auslandstürken (YTB) 19 Die Yunus-Emre-Kulturzentren (YEKM) 21 Die türkische Diasporapolitik – Folgen, Reaktionen und Kontroversen 23 Konvergenzen und Schnittmengen 24 Diasporapolitik als Konfliktstoff 26 Beschränkte Zugriffsmöglichkeiten der türkischen Regierung 27 Neue Akteure in der türkeistämmigen Diaspora: UETD und CHP 28 Schlussfolgerungen und Implikationen für deutsche Entscheidungsträger 29 Abkürzungen Dr. Yaşar Aydın ist 2013/2014 Mercator-IPC-Fellow an der SWP Problemstellung und Schlussfolgerungen Die neue türkische Diasporapolitik Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforderungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entschei- dungsträger in Deutschland Warum fällt es hierzulande oft so schwer, das Inter- esse der türkischen Regierung an den Türkeistämmi- gen in Deutschland in ausgewogener Weise zu be- werten? Der Grund dafür ist offenbar einerseits die Skepsis vieler Entscheidungsträger in Deutschland gegenüber transnationalen Bindungen von Türkei- stämmigen, die als Hindernis für deren Integration in die deutsche Gesellschaft betrachtet werden. Und andererseits gibt es eine verbreitete Sorge vor einer »außengesteuerten Durchdringung« durch den Herkunftsstaat Türkei. Die deutsche Politik lässt sich bei der Beurteilung der türkischen Diaspora und der von Ankara betriebenen Diasporapolitik häufig vom Schreckbild einer »fünften Kolonne« bzw. eines »troja- nischen Pferdes« leiten, wodurch die integrativen Komponenten sowohl der Diaspora als Lebensform als auch der Diasporapolitik aus dem Blick geraten. Poli- tische Entscheidungsträger und Institutionen sollten sich von solchen Vorstellungen verabschieden und die Vermittlungs- und Brückenfunktionen transnationaler Bindungen von Türkeistämmigen zur Türkei anerken- nen. Das Hauptproblem ist nicht, dass sich die türki- sche Regierung für die Türkeistämmigen in Deutsch- land einsetzt, sondern dass sie eine konservative Sozial- moral und eine religiös geprägte kollektive Identität fördert, die nicht nur die Skepsis der deutschen Ent- scheidungsträger evoziert, sondern zugleich zur Ver- festigung kultureller Fragmentierungen der türkei- stämmigen Diaspora beiträgt. Der bisherige Verlauf der deutschen Debatte über das Engagement der türkischen Regierung für die Türkeistämmigen in Deutschland und für deren politische Aktivitäten zeigt, dass die Problematik dringend einer Versachlichung und historischen Einordnung bedarf. Dazu müssen zwei Vorbedingun- gen erfüllt sein: eine Analyse des Verhältnisses der neuen türkischen Diasporapolitik zu den Integrations- bedürfnissen der deutschen Gesellschaft und zu den Integrationsbemühungen der Türkeistämmigen in Deutschland und eine realistische Einschätzung der Kontroll- und Lenkungskapazitäten der türkischen Regierung. Deshalb werden im Folgenden zunächst die Wurzeln der neuen Diasporapolitik Ankaras SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 5 Problemstellung und Schlussfolgerungen rekapituliert, die soziopolitischen und wirtschaft- lichen Triebkräfte hinter dieser Strategie beleuchtet und anschließend die dafür relevanten zentralen Institutionen vorgestellt. Abschließend werden die Reaktionen der türkischen Migrantenorganisationen auf die türkische Diasporapolitik diskutiert. Egal, um welches Thema es geht, Interventionen türkischer Politiker in Angelegenheiten, die die Türkei- stämmigen in Deutschland betreffen, ziehen in den deutschen Medien und in der deutschen Politik in der Regel Kritik auf sich und sorgen für Verstimmungen in den deutsch-türkischen Beziehungen. Entgegen weit verbreiteter Einschätzungen ist das zunehmende Interesse der türkischen Regierung an den Türkei- stämmigen in Deutschland keinesfalls konjunkturell bedingt, sondern Teil einer politischen Strategie, die auf den Ausbau und die Stärkung von Diasporaorgani- sationen und die Erweiterung ihrer Handlungsfähig- keit zielt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die türkeistämmige Diaspora in Deutschland weiterhin im Fokus Ankaras bleiben wird, woraus sich nicht nur Herausforderungen für die bundesdeutsche Außen-, sondern auch Chancen für die Integrationspolitik ergeben. Was der frühere türkische Premier und jetzige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Türkeistämmigen in Deutschland nahelegt, nämlich die hier gegebenen Bildungschancen besser zu nutzen, sich stärker um den sozialen Aufstieg zu bemühen, aktiv am gesellschaftlichen Leben und auch an der politischen Willensbildung teilzunehmen, ist nur zu erreichen, wenn sich die Angesprochenen moderne Verhaltensdispositionen und einen aufgeschlossenen Habitus zu eigen machen. Die mit diesen Fragen befassten Entscheidungsträger und Institutionen in Deutschland sollten daher offen sein für eine Zusam- menarbeit mit der türkischen Diaspora und der türki- schen Regierung, und sie sollten gleichzeitig darauf drängen, dass Letztere die Autonomie der Migranten- verbände achtet und mit ihrer Politik die kulturellen Fragmentierungen innerhalb der türkeistämmigen Diaspora in Deutschland nicht weiter verfestigt. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 6 Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik Mit seinem selbstbewussten Auftritt in Köln im Jahr denen Erdoğan seine – wie sich inzwischen gezeigt 2008 hat der damalige türkische Ministerpräsident hat, erfolgreiche – Bewerbung bekanntgegeben hatte. Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland eine Welle der Bereits im Jahr 2007 kritisierte Armin Laschet, der Kritik und Entrüstung ausgelöst. In seiner Rede hatte frühere Integrationsminister Nordrhein-Westfalens er Assimilation als »Verbrechen gegen die Menschlich- von der CDU, das Vorhaben der türkischen Regierung, keit«1 verurteilt und die Türkeistämmigen in Deutsch- den türkischen Staatsbürgern im Ausland das Wahl- land dazu eingeladen, ihre Bindungen zur Türkei und recht zuzuerkennen, als »integrationspolitisch schäd- zur türkischen Kultur aufrechtzuerhalten und sich für lich«.3 Wie ist dieses zunehmende Interesse der Regie- die Belange der Türkei einzusetzen. Sein Appell an die rung in Ankara an den Türkeistämmigen in Deutsch- Türkeistämmigen, die deutsche Sprache zu lernen, land und die Kritik, die sie damit in Deutschland aus- sich politisch zu engagieren und die Chancen des löst, zu erklären? Welche Gründe, Motive und Trieb- deutschen Bildungssystems besser zu nutzen, wurde kräfte lassen sich für dieses Interesse und für die Skep- jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Erdoğan, so sis auf deutscher Seite identifizieren? das Urteil eines Spiegel-Autors, dessen Stimme als Die neue türkische Diasporapolitik muss im Zusam- durchaus repräsentativ für das Medienecho gelten menhang mit drei Entwicklungen gesehen werden: kann, instrumentalisiere mit seiner »aggressive[n] erstens mit der Entstehung einer transnationalen Dia- Diaspora-Politik« die türkeistämmige Gemeinschaft in spora in Deutschland, in anderen europäischen Staa- Deutschland, führe sich als »Ersatzkanzler« auf und ten und in den USA. Die türkeistämmige Bevölkerung gebe vor, »sich für die Integration türkischer Einwan- in Deutschland kann als eine »Diaspora« angespro- derer und ihrer Kinder in Deutschland einzusetzen«. chen werden, weil deren Mitglieder sich bezüglich Tatsächlich bewirke er jedoch das Gegenteil davon.2 ihrer Identität, ihrer Lebensform und aufgrund der Erdoğans erneuter Auftritt in Köln am 24. Mai 2014 erfahrenen und gefühlten Benachteiligung von der löste ebenfalls heftige Reaktionen unter deutschen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Das Engagement Politikern aus. Der Besuch erfolgte offiziell anlässlich und die Strategie der türkischen Regierung gegenüber des zehnten Jahrestags der Union Europäisch-Türki- der türkeistämmigen Gemeinschaft in Deutschland scher Demokraten (UETD), tatsächlich aber wegen der lassen sich als »Diasporapolitik« bezeichnen, weil sie damals in der Türkei bevorstehenden Wahlen für das auf den Ausbau und die Stärkung der türkischen Ver- Amt des Staatspräsidenten, an denen auch türkische eine und Organisationen und die Erweiterung ihrer Staatsbürger im Ausland teilnehmen dürfen und zu Handlungsfähigkeit zielen.4 Die neue türkische Dia- sporapolitik steht zweitens im Zusammenhang mit der Etablierung einer neuen Staatselite und der Durchset- 1 »Erdoğans Rede erzürnt deutsche Politiker«, in: Die Welt, zung eines neuen Modernitätsdiskurses und muslimi- 28.2.2011. Zum Thema Assimilation hatte Erdoğan unter schen Nationsverständnisses in der Türkei. Drittens muss anderem Folgendes gesagt: »Ich verstehe die Sensibilität, die Sie gegenüber Assimilation zeigen, sehr gut. Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand 3 Auch der türkeistämmige Politiker Cem Özdemir von den kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation Grünen hält ein »Auslandswahlrecht« für Türkeistämmige in unterwerfen. Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die zweiter und dritter Generation für »kaum förderlich, [um] in Menschlichkeit. Sie sollten sich dessen bewusst sein«, zitiert der Moderne anzukommen«, siehe »Warum das Heim-Wahl- nach »Das sagte Ministerpräsident Erdogan in Köln«, in: Die recht der Türken die Integration behindert«, Spiegel online, Welt, 11.2.2008, <www.welt.de/debatte/article1660510/Das- 28.3.2007, <www.spiegel.de/politik/ausland/diaspora-warum- sagte-Ministerpraesident-Erdogan-in-Koeln.html> (Zugriff am das-heim-wahlrecht-der-tuerken-die-integration-behindert-a- 9.1.2014). Erdoğans Assimilationsunterstellung richtet sich 474170.html> (Zugriff am 18.4.2013). gegen die deutsche Integrationspolitik, die dem Türkeibezug 4 Johann Heiss/Maria Six-Hohenbalken, »Diaspora«, in: der Türkeistämmigen in Deutschland kritisch gegenüber- F. Kreff u.a., Lexikon der Globalisierung, Bielefeld 2011, S. 44f.; steht. Alan Gamlen, Diaspora Engagement Policies. What Are They, and 2 Maximilian Popp, »Ersatzkanzler in Ankara«, in: Der Spiegel, what Kinds of States Use Them, Oxford: University of Oxford, (2013) 19, S. 36–37. Centre on Migration, Policy and Society, 2006. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 7 Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik die neue Diasporapolitik in den Kontext der außen- darin, die in Deutschland arbeitenden Staatsbürger politischen Neuorientierung der Türkei eingeordnet dazu zu motivieren, ihre Ersparnisse im Heimatland werden, zu der es ohne die gesellschaftlichen Macht- zu investieren. verschiebungen womöglich nicht gekommen wäre. Die späten 1970er Jahre markieren einen Wandel in Bevor jedoch auf die zentralen Triebkräfte und der Wahrnehmung der türkeistämmigen Arbeits- Interessen der aktuellen Diasporapolitik eingegangen migranten auf Seiten der türkischen Politik. Zum wird, soll ein Rückblick die frühen Etappen dieser einen drang ins Bewusstsein, dass die »Gastarbeiter« in Strategie beleuchten. den verschiedenen europäischen Staaten auf Dauer präsent bleiben würden, als diese ihre verbliebenen Familienmitglieder nachholten statt in die Türkei Rückblick – historische Stationen der zurückzukehren. Zum anderen setzte sich aufgrund türkischen Diasporapolitik von Devisentransfers, die damals einen beachtlichen Anteil des türkischen Bruttosozialprodukts ausmach- Die Türkei förderte ab den 1960er Jahren die Migration ten, die Erkenntnis durch, dass die fortwährende ihrer Bürger nach Europa, unter anderem, um den Niederlassung von Türkeistämmigen in den europäi- eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten und auf diesem schen Einwanderungsländern für die Türkei vorteil- Wege möglichen soziopolitischen Spannungen vor- hafter sein könnte als ihre Rückkehr. zubeugen. Die Regierung in Ankara ging damals da- Eine noch wichtigere Zäsur stellt das Jahr 1982 dar: von aus, dass die »Gastarbeiter« nach einigen Jahren Mit einem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz gestand Aufenthalt in Westeuropa mit neuen Fertigkeiten und die Regierung in Ankara türkischen Staatsangehörigen Qualifikationen in die Türkei zurückkehren und so den Erwerb einer weiteren Staatsangehörigkeit (dop- zur Linderung des Fachkräftemangels beitragen wür- pelte Staatsbürgerschaft) zu. Darüber hinaus bekamen den.5 Mit einer eher defensiven Lenkungs- und Iden- die Ziele und Selbstverpflichtungen der »Diaspora- titätspolitik versuchten die türkischen Regierungen in politik«, nämlich die Belange der Türkeistämmigen jenen Jahren, die Bindungen der Arbeitsmigranten an im Ausland zu vertreten und deren Bindungen an die ihr Heimatland und ihre Loyalität zum türkischen Türkei zu stärken, Verfassungsrang.6 Staat zu konservieren und zu stärken. Es galt zu ver- In den 1980er Jahren verschob sich der Fokus des hindern, dass sich die im Ausland arbeitenden Bürger türkischen Staates in der Frage der Arbeitsmigranten an die jeweiligen Landeskulturen assimilierten und von wirtschaftlichen hin zu politischen Gesichtspunk- mit der Türkei und der »türkischen Kultur« brachen. ten. Dies wurde an zwei neuen Aktionsfeldern sicht- Da in jener Phase auch die deutschen Regierungen mit bar.7 Zum einen etablierte die türkische Regierung einer Rückkehr der türkischen Arbeitskräfte und ihrer eine Praxis der koordinierten Interessenvertretung Familien rechneten, wirkten sie diesem Herkunfts- gegenüber den jeweiligen Residenzstaaten, den Kom- landbezug nicht entgegen. munen und lokalen staatlichen Institutionen. Zum Bis in die 1980er Jahre konzentrierte sich der türki- anderen mobilisierte sie nun die türkischen Staats- sche Staat bei der Betreuung türkeistämmiger Arbeits- angehörigen im Ausland bei Angelegenheiten, die die migranten auf fachliche Beratung bei Renten- und »nationalen Interessen« der Türkei betrafen, und anderen sozialen Angelegenheiten in den türkischen bemühte sich, die Migranten in ihre Auseinanderset- Konsulaten durch eigens dafür eingestellte Sozial- zung mit islamistischen, kurdisch-nationalistischen attachés. 1984 wurde in Köln die Türkisch-Islamische und linksradikalen Gruppierungen einzuspannen, die Union des staatlichen Amtes für Religionsangelegen- ihrerseits – das gilt vor allem für die linksradikalen heiten (DİTİB) als Verein eingetragen. Damit erweiterte Kräfte und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – mit Ankara sein Dienstleistungsportfolio gegenüber den in Deutschland lebenden Türken um die Fürsorge für 6 O. Can Ünver, »Changing Diaspora Politics of Turkey and die Pflege der religiösen Praxis. Public Diplomacy«, in: Turkish Policy Quarterly, 12 (2013) 1, Die wirtschaftliche Dimension der türkischen Len- S. 183 und S. 184. Siehe auch ders., 35 Jahre Zeitzeuge der Migra- kungs- und Identitätspolitik bestand in erster Linie tion und der Bürokratie (türkisch), Ankara 2008. 7 Özge Bilgili/Melissa Siegel, Understanding the Changing Role of the Turkish Diaspora, Maastricht: United Nations University/ 5 Sabri Sayarı, »Migration Policies of Sending Countries«, in: Maastricht Economic and Social Research Institute on In- Annals of the American Academy of Politcal and Social Science, (1986) novation and Technology (UNU-MERIT), September 2010 485, S. 87–97. (UNU-MERIT Working Paper Series 39/2011). SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 8 Rückblick – historische Stationen der türkischen Diasporapolitik den von ihnen kontrollierten Vereinen versuchten, die Sozialstruktur der Einwanderungsstaaten ein- die Türkeistämmigen gegen den Militärputsch vom gegliedert sein sollten, eine Angleichung an die 12. September 1980 in Stellung zu bringen. Zu diesem Landeskultur oder Anpassung an die jeweiligen natio- Zweck förderte die Regierung in Ankara in den späten nalen Wertvorstellungen und Traditionen wurde 1980er Jahren den Aufbau von Koordinierungsräten, weiterhin abgelehnt. Auf eine sozialpolitische Integra- die sozusagen als Dachverbände der nationalistisch- tion legte die türkische Diasporapolitik Wert, weil sich religiösen und konservativen Vereine sowie der ultra- in Politik und Bürokratie der Türkei die Erkenntnis nationalistischen, der Partei der Nationalistischen durchgesetzt hatte, dass ein Mangel an Anpassung in Bewegung (MHP) nahestehenden Idealisten-Vereinigun- diesem Bereich die außenpolitische Handlungsfähig- gen fungierten. Damit sollten all jene Kräfte gebündelt keit der Türkei in der Europapolitik einengen und zu werden, die bereit waren, den »nationalen Interessen« zwischenstaatlichen Spannungen mit den Zielländern der Türkei in Deutschland durch Beeinflussung der führen würde.11 Vor diesem Hintergrund appellierte bundesrepublikanischen Politik Geltung zu verschaf- 1995 der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel fen. Während die Institution der Türkischen Gemein- an die Türkeistämmigen in Europa, die Staatsbürger- de in Deutschland (TGD) eine eher neutrale Position schaft des jeweiligen Staates zu erwerben. Ein Jahr einnahm, bestand etwa die »Öffentlichkeitsarbeit« der später senkte Ankara die rechtlichen Hürden für den PKK-nahen Organisationen in Deutschland und ande- Austritt aus der türkischen Staatsbürgerschaft.12 ren europäischen Staaten unter anderem darin, die Alles in allem bewegte sich die türkische Diaspora- dortigen Entscheidungsträger in kurdenfreundlichem politik in den 1990er Jahren vor allem auf drei Hand- Sinne zu beeinflussen. Zu diesem Zweck schmiedeten lungsfeldern: Erstens war sie auf die Bekämpfung sie Bündnisse mit deutschen Parteien und politischen sicherheitsgefährdender Aktivitäten von »extremisti- Gruppierungen.8 In den späten 1980er und frühen schen« bzw. »radikalen« politischen Organisationen 1990er Jahren ging es der Türkei also hauptsächlich ausgerichtet. Dabei setzte sie stark auf die Koordinie- darum, jene Bestrebungen der PKK und anderer links- rungsräte, die wegen ihrer strikten Orientierung an radikaler Gruppierungen abzuwehren, die sich auf die der türkisch-nationalen Kultur und Ablehnung einer »Unterminierung« der Loyalität gegenüber dem Staat »eigenständigen deutsch-türkischen Kultur« in der richteten. deutschen Öffentlichkeit kritisiert wurden. Zweitens In den 1990er Jahren wurde im türkischen Sprach- sollte die Diasporapolitik dazu dienen, den Forderun- gebrauch die Bezeichnung »Euro-Türken«9 (»Avrupa gen der Türkeistämmigen gegenüber dem jeweiligen Türkleri«) geläufig. Darin kam zum Ausdruck, dass die Zielland Nachdruck zu verleihen. Und drittens schließ- Tatsache des permanenten Aufenthalts von Türkei- lich war es ihre Aufgabe, den Einfluss auf die in stämmigen im europäischen Ausland nun allseits an- Deutschland (und anderen europäischen Staaten) erkannt wurde. Institutionell ging dieser Paradigmen- lebenden Türken und deren Organisationen nicht zu wechsel mit der Gründung des Ausschusses für Staats- verlieren. In den 1990er Jahren verlagerte sich der bürger im Ausland einher.10 Zwei Ziele bzw. Vorsätze Aufmerksamkeitsschwerpunkt der Migrantenvereine waren für die türkische Diasporapolitik in diesem von einer Herkunftsorientierung hin zu migrations- Jahrzehnt zentral: die erfolgreiche Integration aller spezifischen Themen, ohne dass das Interesse am Türkeistämmigen in die jeweiligen Aufnahmeländer Heimatland erloschen wäre. Dies zeigt sich beispiels- und die Unterstützung der Migranten bei ihrer Forde- weise in den Appellen der Islamischen Gemeinde Millî rung nach kulturellen Rechten. Die Vorstellung der Görüş (IGMG) an ihre Anhänger, die deutsche Staats- türkischen Regierung von »Integration« war jedoch bürgerschaft anzunehmen, die deutsche Sprache zu sehr eng. Sie beschränkte sich in den 1980er und 1990er Jahren darauf, dass die Türkeistämmigen in 8 Canan Atilgan, Türkische Diaspora in Deutschland. Chance oder Risiko für die deutsch-türkischen Beziehungen, Hamburg 2002, 11 Atılgan, Türkische Diaspora [wie Fn. 8], S. 153f und S. 166ff. S. 219. 12 Mit dem Gesetz Nr. 4112 vom 7.6.1995 wurden ehemali- 9 Ayhan Kaya/Ferhat Kentel, Euro Turks: A Bridge or a Breach gen türkischen Staatsbürgern, die mit amtlicher Erlaubnis between Turkey and the European Union, Brüssel 2005. aus der türkischen Staatsangehörigkeit ausgetreten waren, in 10 Offizielle Internetseite der YTB, <www.ytb.gov.tr/ Angelegenheiten des Aufenthalts, des Erwerbs von Immobi- index.php/yurtdisi-vatandaslar-danisma-kurulu.html> lien etc. Rechte zugestanden, die Nichtstaatsbürgern ver- (Zugriff am 4.2.2014). wehrt werden. SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 9 Triebkräfte und zentrale Institutionen der neuen türkischen Diasporapolitik erlernen und sich an der deutschen Politik zu betei- sind laut Migrationsbericht 2012 etwa 1,6 Millionen tür- ligen.13 kische Staatsangehörige, etwa 1,4 Millionen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. In dem halben Jahrhundert hat sich das Profil der Die Entwicklung einer transnationalen Mobilität zwischen Deutschland und der Türkei stark türkeistämmigen Diaspora gewandelt. Das aktuelle deutsch-türkische Migrations- geschehen besteht nicht nur aus Familienmigration, Im Jahr 1961 wurde zwischen Deutschland und der die in den letzten Jahren an Bedeutung verloren hat, Türkei ein Abkommen zur Anwerbung von türkischen und Pendelmigration deutscher wie türkeistämmiger Arbeitskräften abgeschlossen, das für beide Staaten Pensionierter. Es finden auch viel mehr Geschäfts- und unvorhergesehene Folgen hatte, weil dadurch Migra- Urlaubsreisen und temporäre Wanderungen von Stu- tionsbewegungen einsetzten, die bis heute anhalten.14 denten, Wissenschaftlern und sonstigen Hochqualifi- Später folgten ähnliche Anwerbeabkommen mit Bel- zierten in beide Richtungen statt. Diese immense gien, Österreich (1964), den Niederlanden (1967) und Intensivierung und Diversifizierung des Austauschs ist Frankreich (1973). Ab den 1970er Jahren suchten nur ein Kennzeichen der Transnationalisierung, die türkische Arbeiter sodann auch nach Beschäftigungs- die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tür- möglichkeiten in arabischen Staaten, und mit dem kei in der Vergangenheit erfahren haben. Die Trans- Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion nationalität kommt in den bikulturellen Orientierun- öffnete sich mit Russland, der Ukraine, den Turk- gen, in den Doppelidentitäten und Doppelloyalitäten republiken und später Rumänien und Polen eine von Türkeistämmigen in Deutschland zum Ausdruck, weitere Zielregion für türkische Arbeitsmigranten.15 aber auch in deren Aktivitäten, die sich auf beide Heute leben mehr als fünf Millionen türkische Staats- Länder beziehen. Diese Entwicklung ist begünstigt bürger außerhalb der Türkei: etwa vier Millionen in worden durch die aktuellen Globalisierungsprozesse Westeuropa, 300000 in Nordamerika, 200000 im im Allgemeinen, die neuen Kommunikations- und Mittleren Osten und 150000 in Australien.16 Verkehrsmöglichkeiten und durch die Ausweitung Deutschland ist weltweit das Land mit den meisten bürgerlicher, sozialer und politischer Rechte auf die Türkeistämmigen. Zwischen 1961 und den 1990er Migranten. Jahren kamen über vier Millionen Menschen aus der In Deutschland hat sich eine türkeistämmige trans- Türkei nach Deutschland, von denen etwa die Hälfte nationale Diaspora herausgebildet, in der soziale, wieder in das Land am Bosporus zurückkehrte. Von kulturelle und politische Elemente aus der Türkei den drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland weiter wirken und sich mit hiesigen Elementen ver- mischen und beide Gesellschaften und politische Systeme beeinflussen. Dabei spielen die türkischen 13 Oğuz Üçüncü (zum Zeitpunkt des Interviews General- sekretär der IGMG) betont, dass der Schwerpunkt der Arbeit Medien mit ihren Deutschland- und Europa-Redak- der IGMG in Deutschland liege, obwohl weiterhin Interesse tionen eine wichtige Transmissionsrolle. Sie bilden an der Türkei bestehe: »Ich muss eine vitale Beziehung zu quasi eine »Zwischenwelt« deutsch-türkischer Bezie- meiner Heimat haben. Es gibt nach wie vor viele Dinge, die hungen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass die Inter- mich betreffen, auf die ich Einfluss nehmen möchte« (Inter- essen der Türkeistämmigen in den deutschen Medien view am 29.10.2013). Andere Dachverbände machten ähn- wenig behandelt und bedient werden, besonders liche Entwicklungen durch. Vgl. auch Betigül E. Argun, Turkey in Germany: The Transnational Sphere of Deutschkei, New York/ wichtig. Eine nicht zu vernachlässigende Vermittler- London 2003. funktion im Kommunikationsprozess zwischen Ein- 14 Zuvor gab es eine Arbeits- und Bildungsmigration wäh- heimischen und Türkeistämmigen übernehmen auch rend des Ersten Weltkriegs aus dem Osmanischen Reich in die migrantischen Selbstorganisationen, die zumeist das Deutsche Kaiserreich sowie eine Exil- und Hochqualifi- transnational ausgerichtet sind. Die Türkeistämmigen zierten-Migration während des Nationalsozialismus aus Deutschland in die Türkei. prägen mit ihren wirtschaftlichen, soziopolitischen 15 Ahmet İçduygu/Deniz Sert, Länderprofil Türkei, Hamburg/ und kulturellen Aktivitäten nicht nur die Gesellschaft Bonn, April 2009 (Focus Migration 5/2009), <http://focus- und Politik in Deutschland nachhaltig mit, sondern migration.hwwi.de/Tuerkei-Update-04-2.6026.0.html> (Zugriff auch einen Teil der deutsch-türkischen und der EU- am 22.8.2014). Türkei-Beziehungen. Doch welche Identitätsmerkmale 16 Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs, Turkish lassen sich ausmachen, die berechtigen, von einer Citizens Living Abroad (online), <www.mfa.gov.tr/the-expatriate- turkish-citizens.en.mfa> (Zugriff am 13.1.2014). »türkeistämmigen Diaspora« zu sprechen? SWP Berlin Die neue türkische Diasporapolitik September 2014 10

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