Die Methode Nöldekes zur chronologischen Anordnung der Suren und Verse des Korans in seinem Buch „Geschichte des Qorāns“ Eine analytisch-kritische Studie Dissertation zur Erlangung des philosophischen Doktorgrades an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen vorgelegt von Tarek Anwar Abdelgayed Elkot aus Giza, Ägypten Göttingen 2014 Die Gutachter 1. Prof. Dr. Sebastian Günther 2. Prof. Dr. Jens Scheiner Tag der mündlichen Prüfung: 27.11.2014 2 Danksagung An dieser Stelle möchte ich mich von Herzen bei allen bedanken, die mir dabei geholfen haben, die vorliegende Dissertation zu realisieren. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Sebastian Günther, der mir in allen Phasen der Arbeit nützliche und konstruktive Ratschläge und Hinweise angeboten und dabei seine kostbare Zeit aufgewendet hat. Mit Rat und Tat stand er mir immer zur Seite. Ich möchte an dieser Stelle auch meinem Mitbetreuer Herrn Prof. Dr. Jens Scheiner meinen besonderen Dank aussprechen. Ich bin ihm sehr dankbar für seine wertvolle Vorschläge und seine hilfreiche Unterstützung. Von ihm habe ich gelernt, wie man mit den Texten wissenschaftlich und kritisch umgeht. Ferner schulde ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Kolleginnen und Kollegen am Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen meinen Dank. Vor allem bedanke ich mich bei Frau Dr. Dorothee Lauer, Herrn Akram Bishr, Herrn Christian Mauder, Herrn Mohamed Shehata, Herrn Mahmud El-Wereny und Herrn Ahmad Sagheer. Mein besonderer Dank gilt weiterhin meinen Lehrern und Kollegen an der Sektion für islamische Studien in Deutsch der Fakultät für Fremdsprachen und Translatologie der al- Azhar Universität in Kairo/Ägypten. Ich fühle mich Herrn Prof. Dr. Muhammad Shama, Herrn Dr. Mohammed Abdel Rahem und Herrn Dr. Mahmoud Haggag zu Dank verpflichtet. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Thomas Weische, Herrn Fabian Wagener, Frau Jana Newiger und Dr. Christiane Paulus für ihr Korrekturlesen dieser Arbeit. Für die finanzielle Unterstützung danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der ägyptischen Regierung sowie dem Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz. Meinen herzlichen Dank spreche ich meinen Eltern und meinen Geschwistern für ihre geistliche und moralische Unterstützung aus. Ganz herzlich danke ich meiner geliebten Frau Maha Gindia und meinen Kindern Mahmoud, Rawda und Muhammad für die Unterstützung und die Geduld. 3 Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................................... 7 1. Allgemeiner Überblick über die Methoden der Orientalistik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ........................................................................................................................... 7 2. Fragestellungen ................................................................................................................ 11 3. Forschungsstand ............................................................................................................... 14 4. Aufbau der Arbeit ............................................................................................................. 16 5. Formalia ........................................................................................................................... 17 1. Zur allgemeinen Frage der historisch-kritischen Methode und deren Spezifika in der Bibelwissenschaft ..................................................................................................................... 19 1.1. Begriff, Grundprinzipien und Aufgaben ....................................................................... 19 1.1.1. Begriff ..................................................................................................................... 19 1.1.2. Grundprinzipien ...................................................................................................... 21 1.1.3. Aufgaben ................................................................................................................. 23 1.2. Spezifika in der „Bibelwissenschaft“ ............................................................................ 25 1.2.1. Begriff und Ziel der „Bibelwissenschaft“ ............................................................... 25 1.2.2 Anfänge .................................................................................................................... 26 1.2.3. Arbeitsschritte am Beispiel der Bibel ..................................................................... 30 1.2.3.1. Textkritik .......................................................................................................... 30 1.2.3.2. Literarkritik ...................................................................................................... 34 1.2.3.3. Formgeschichte ................................................................................................ 36 1.2.3.4. Redaktionsgeschichte ....................................................................................... 38 1.3. Generelle Kritik an der historisch-kritischen Methode ................................................. 40 2. Die historisch-kritische Methode in der Koranforschung .................................................... 42 2.1. Zur muslimischen und nicht-muslimischen Rezeption des Korans .............................. 42 2.2. Die historisch-kritische Methode in der Koranforschung ............................................. 49 2.2.1. Anfänge im 19. Jahrhundert: „Die Wissenschaft des Judentums“ ............................. 49 2.2.2. Kritische Koranforschung im 19. Jahrhundert ........................................................ 61 2.2.2.1.Theodor Nöldeke (1836-1930) .......................................................................... 61 2.2.2.2. Julius Wellhausen (1844-1918) ........................................................................ 62 2.2.3. Kritische Koranforschung im 20. und 21. Jahrhundert ........................................... 64 2.2.3.1. Heinrich Speyer (1897-1935) ........................................................................... 64 2.2.3.2. Johann Fück (1894-1974)................................................................................. 65 2.2.3.3. Rudi Paret (1901-1983) .................................................................................... 68 2.2.3.4. Tilman Nagel (geb. 1942) ................................................................................ 69 4 2.2.3.5. Angelika Neuwirth (geb. 1943) ........................................................................ 72 2.2.4. Ziele des historisch-kritischen Umgangs mit dem Koran ................................... 77 3. Die chronologische Anordnung des Korans aus muslimischer Sicht .................................. 81 3.1. Offenbarung und Übermittlung des Korans .................................................................. 81 3.2. Sammlung und Niederschrift des Korans ...................................................................... 83 3.3. Auffassungen bedeutender muslimischer Korangelehrter zur Chronologie des Korans .............................................................................................................................................. 88 4. Theodor Nöldeke und sein Werk „Geschichte des Qorāns“ ................................................ 93 4.1. Zur Person Nöldekes ..................................................................................................... 93 4.1.1. Auffassungen einiger nicht-muslimischer Gelehrter zu Nöldeke ........................... 94 4.1.2. Auffassungen einiger muslimischer Gelehrter zu Nöldeke .................................... 96 4.2. Das Werk „Geschichte des Qorāns“ .............................................................................. 97 4.2.1. Rezeption durch nicht-muslimische Gelehrte ......................................................... 99 4.2.2. Rezeption durch muslimische Gelehrte ................................................................ 100 5. Die chronologische Anordnung des Korans bei Nöldeke .................................................. 102 5.1. Die chronologische Anordnung als Forschungsaufgabe in der europäischen Koranwissenschaft ............................................................................................................. 102 5.2. Nöldekes Chronologie des Korans .............................................................................. 110 5.2.1. Analyse von Nöldekes Quellen und Hilfsmittel ................................................... 112 5.2.1.1. Historische und exegetische Überlieferungen ................................................ 112 5.2.1.2. Inhalte und Sprache des Korans ..................................................................... 117 5.2.2. Nöldekes Periodisierung der Suren „Mekkanisch“ und „Medinensisch“ ............. 119 6. Analyse von Nöldekes Behandlung der mekkanischen Suren (610-622) .......................... 121 6.1. Nöldekes generelles Verständnis der mekkanischen Suren ........................................ 121 6.2. Nöldekes Auffassungen zu Suren der „ersten“ mekkanischen Periode ...................... 124 6.2.1. Analyse zu formalen Charakteristika der Suren ................................................... 125 6.2.1.1. Die Kürze der Verse und der Suren ............................................................... 125 6.2.1.2. Der Schwur ..................................................................................................... 127 6.2.1.3. Die Reimprosa (saǧʿ) ..................................................................................... 131 6.2.2. Analyse zu inhaltlichen Aussagen Nöldekes ........................................................ 135 6.2.2.1. Sure 96, Verse 1-5 (Die älteste Offenbarung des Korans) ............................. 135 6.2.2.2. Sure 53, Verse 19-22 (Die Ġarānīq-Episode) ................................................ 142 6.2.2.3. Suren 113 und 114 („Altarabische Vorlagen“) .............................................. 146 6.3. Nöldekes Auffassungen zu Suren der „zweiten“ mekkanischen Periode ................... 149 6.3.1. Analyse zu formalen Charakteristika der Suren ................................................... 151 5 6.3.1.1. „Weitschweifige“ und „langweilige“ Verse ................................................... 151 6.3.1.2. Allmählich zunehmende Länge der Verse und Einzeloffenbarungen ............ 154 6.3.1.3. Schwache Schlussfolgerung ........................................................................... 155 6.3.2. Analyse zu inhaltlichen Aussagen Nöldekes ........................................................ 158 6.3.2.1. Sure 17, Vers 1 („Die nächtliche Reise Muḥammads“) ................................. 158 6.3.2.2. Sure 17, Vers 35/33 („Gesetz der Blutrache“) ............................................... 166 6.3.2.3. Sure 18 („Sagenkreise“) ................................................................................. 169 6.4. Nöldekes Auffassungen zu Suren der „dritten“ mekkanischen Periode ..................... 174 6.4.1. Analyse zu formalen Charakteristika der Suren ................................................... 176 6.4.1.1. Wortwiederholung .......................................................................................... 176 6.4.1.2. Diffuse Argumentation ................................................................................... 177 6.4.2. Analyse zu inhaltlichen Aussagen Nöldekes ........................................................ 182 6.4.2.1. Sure 16, Vers 124/123 (Zweifel an mekkanischer Herkunft des Verses) ...... 182 6.4.2.2. Sure 29, Verse 1-10/1-11 (Zweifel an mekkanischer Herkunft der Verse) ... 186 6.4.2.3. Sure 29, Vers 45/46 (Zweifel an der mekkanischen Herkunft des Verses) ... 189 7. Analyse von Nöldekes Behandlung der medinensischen Suren (622-632) ....................... 194 7.1. Nöldekes generelles Verständnis der medinensischen Suren ..................................... 194 7.2. Die religiöse Situation in Medina und die Aufnahme Muḥammads ........................... 197 7.3. Muḥammads Verhältnis zu den Juden von Medina .................................................... 201 7.4. Muḥammads Verhältnis zu den Christen .................................................................... 207 7.5. Analyse zu inhaltlichen Aussagen Nöldekes .............................................................. 209 7.5.1. Sure 2 (Änderung der Gebetsrichtung ) ................................................................ 209 7.5.1.1. Muḥammads Entschluss ................................................................................. 210 7.5.1.2. Historischer Hintergrund ................................................................................ 211 7.5.1.3. Die Gebetsrichtung nach Jerusalem vor der Auswanderung ......................... 213 7.5.2. Sure 2, Vers 109/115 (Kritik an der alten Gebetsrichtung der Juden) .................. 216 7.5.3. Sure 2, Verse 136-145/142-150 und Vers 172/177 (Kritik an der neuen Gebetsrichtung) ............................................................................................................... 218 7.5.4. Sure 2, Vers 183 (Das Ramaḍān-Fasten) .............................................................. 220 7.5.5. Sure 4, Verse 8/7,12/11 und 175/176 (Die Erbschaft) .......................................... 226 Schlussfolgerungen ................................................................................................................ 238 Literaturverzeichnis ................................................................................................................ 254 6 Einleitung 1. Allgemeiner Überblick über die Methoden der Orientalistik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert war nach Volkhard Krech „nicht nur ein Jahrhundert des Wandels, sondern auch eines der gesteigerten Reflexion dieses Wandels.“1 Dieser Wandel betraf auch die Wissenschaft insofern, als dass wissenschaftliche Gegenstände historisch erforscht wurden. Da das Interesse in dieser Zeit der Geschichte gewidmet war, entwickelte sich damals der so genannte „Historismus“. Die Beschäftigung mit der Geschichte bedeutete aber nicht nur die Sammlung historischer Gegebenheiten, sondern auch die Frage nach dem historischen Verhältnis der eigenen Situation zu anderen Situationen.2 Deshalb informierte man sich durch die Geschichte über „Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge.“3 Dies bildet die Grundlage für das Auftreten verschiedener Theorien.4 Das 19. Jahrhundert wird deshalb von Krech als „das Jahrhundert der Ursprungstheorien“5 beschrieben. Er ist der Auffassung, dass die Forscher unterschiedlicher Herkünfte zu dieser Zeit die Anfänge aller Erscheinungen in der Geschichte ergründen wollten.6 Auch die gesellschaftliche Diskussion über Religionen und ihre Zukunft entstand laut Krech im 19. Jahrhundert. Der Grund dafür liegt ihm zufolge darin, dass zum einen die Kirchen dieser Zeit ihren Einfluss auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene verloren hätten. Zum anderen wurde – vor allem in Deutschland – der „Modernisierungsprozess“7 kritisiert und nach „einer Kultur der Persönlichkeit“8 getrachtet. Das 19. Jahrhundert brachte auch Veränderungen innerhalb der Orientalistik mit sich. Während sich die orientalischen Studien an den deutschen Universitäten zuerst der Philologie zuwendeten, befassten sich gleichzeitig einige deutsche Orientalisten mit historischen Themen. Das Aufkommen der historischen Methode hatte Auswirkungen auf die orientalische Philologie und veränderte sie nachhaltig. Trotzdem wurde die Geschichtsforschung des Orients von Orientalisten bis 1914 als ein Teil der Philologie wahrgenommen. Die Schriften orientalischer Geschichtsforscher, die zu den seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen Texteditionen und Übersetzungen zählten, sind zu wichtigen Quellen historischer Forschung über den Orient geworden. Der Historismus als Methode wie als Denkrichtung hatte seinen 1 Krech, Volkhard: Wissenschaft und Religion: Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933, Mohr Siebeck, Tübingen 2002, S. 39. 2 Vgl. Ebd., S. 39. 3 Ebd., S. 39. 4 Vgl. Ebd., S. 39. 5 Ebd., S. 40. 6 Vgl. Ebd., S. 40. 7 Ebd., S. 49. 8 Ebd., S. 49. 7 stetig zunehmenden Einfluss auf einige deutsche Orientalisten, die sich neben den philologischen Studien wiederum mit historischen Gegenständen befassten.9 Daraus geht hervor, dass die Beeinflussung einiger deutscher Orientalisten durch den Historismus dazu führte, dass neben philologischen Studien auch historische Gegenstände behandelt wurden. Die Entwicklung der Methode bei den deutschen, und hier vor allem den jüdischen Orientalisten, ist auf den Einfluss der Aufklärung zurückzuführen. Die Orientalisten suchten im Falle der Religion nach den diesseitigen und menschlichen Grundlagen. Religionen galten für sie als ein Zeugnis einer spezifischen Zeit und eines spezifischen Volkes, weshalb sie durch den kritischen Historismus erfasst werden können.10 Die Erforschung des Islams im 19. Jahrhundert zeichnete sich nach der Auffassung des deutschen Philologen und Islamwissenschaftlers Rudi Paret (1901-1983) dadurch aus, dass sie diesen wissenschaftlichen Methoden unterworfen wurde. Das unterscheidet sie von der Lage der Islamforschung im Mittelalter, in dem Arabistik und Islamkunde von der Apologetik oder Polemik nicht weit entfernt waren. Dazu schreibt Paret: „Wenn wir Orientalisten heutzutage Arabistik und Islamkunde treiben, tun wir das keineswegs in der Absicht, die Minderwertigkeit der arabisch-islamischen Welt nachzuweisen. Im Gegenteil. Wir bekunden damit eine besondere Wertschätzung der geistigen Welt, die durch den Islam und seine verschiedenen Erscheinungsformen repräsentiert wird und in der arabischen Literatur ihren Niederschlag gefunden hat. Wir nehmen freilich nicht alles unbesehen hin, was die Quellen berichten, lassen vielmehr nur gelten, was der historischen Kritik standhält oder standzuhalten scheint. Dabei legen wir an den Islam und seine Geschichte und an die arabischen Werke, mit denen wir uns befassen, denselben kritischen Maßstab an, wie an die Geistesgeschichte und an die Quellenschriften unserer eigenen Welt. Auch wenn die Möglichkeiten unserer Erkenntnis beschränkt sind – wie sollte es anders sein –, dürften wir mit gutem Gewissen behaupten, bei unseren Studien keine unlauteren Nebenabsichten zu hegen, vielmehr nach der reinen Wahrheit zu forschen.“ 11 Aus dem Zitat geht hervor, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wandel sowohl in der Arabistik als auch in der Islamkunde erfolgte. Paret zufolge zielten die Orientalisten seit dieser Zeit nicht mehr auf die Herabwürdigung der arabisch-islamischen Welt ab. Der Islam sei seit dieser Zeit unter Zuhilfenahme der historisch-kritischen Methode wissenschaftlich erforscht worden. Darüber hinaus zeigt das Zitat, dass diese Methode nicht nur auf die eigene Religion angewendet worden sei, sondern auch auf andere. Nach der Auffassung des 9 Vgl. Mangold, Sabine: Eine Weltbürgerliche Wissenschaft – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, S. 103-104. 10 Vgl. Stauth, Georg: Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie, Campus Verlag, Frankfurt u. New York 1993, S. 152. 11 Paret, Rudi: Arabistik und Islamkunde an deutschen Universitäten, Deutsche Orientalistik seit Theodor Nöldeke, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1966, S. 3. 8 deutschen Orientalisten Johann Fück (1894-1974) gab es keine Bewegung im 19. Jahrhundert, die einen so großen Einfluss auf die Arabistik gehabt hätte wie der Historismus, d. h. „die Einsicht in die Zeitgebundenheit jeder geschichtlichen Erscheinung.“12 Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Arabistik und Islamkunde ihre Gegenstände seit der Mitte des 19. Jahrhunderts historisch-kritisch untersuchten. An dieser Stelle könnte die Frage aufgeworfen werden, ob die historisch-kritische Methode nur auf historische Themen anzuwenden ist oder auch auf alle Fachbereiche der Arabistik und Islamkunde. In seinem Artikel Geschichte der Arabistik spricht Fück von der Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Arabistik und Islamkunde. Theodor Nöldeke (1836-1930), ein Schüler Heinrich August Ewalds (1803-1875), untersuchte „das Arabische in allen seinen Sprachperioden bis in die heutigen Dialekte hinein und förderte seine Erforschung erheblich.“13 Durch seine Chronologie der Suren in seinem Werk Geschichte des Qorāns aus dem Jahre 1860 wurde „ein festes Gerüst für die historisch- kritische Koranforschung“ 14 gelegt. Die Untersuchungen eines anderen Schülers Ewalds, Julius Wellhausen (1844-1918), wendeten sich der politischen Geschichte zu. Sein Buch Das arabische Reich und sein Sturz (1902) stellte die Umaiyadenzeit auf Basis der Ergebnisse einer umfassenden Quellenkritik dar. Seine Werke Muhammed in Medina, das ist Vakidis Kitab al Maghazi in verkürzter deutscher Wiedergabe, (1882), Hudhailitendiwan (1884) und Reste arabischen Heidentums beteiligten sich durch die philologische Kleinarbeit an der Lösung historischer Fragen.15 Ignaz Goldziher (1850-1921), ein Schüler des deutschen Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (1801-1888), wendete den historischen Blick auf die islamische Theologie an. Seine Schrift zu den Zahiriten wird von Fück als die erste Untersuchung, in der das fiqh historisch- kritisch erforscht wurde, betrachtet. Gemäß Goldzihers Muhammedanische Studien II (1890), sei der größte Teil des ḥadīṯes nicht authentisch: er sei als das Ergebnis der Entwicklung in den beiden ersten Jahrhunderten des Islams zu betrachten, die auf religiöse, historische und gesellschaftliche Aspekte bezogen war.16 Wie Fück anmerkt, untersuchte Goldziher den Islam aus historischer Perspektive nicht in bestimmten Fachbereichen, sondern es blieb ihm vorbehalten, mit dem Islam total historisch-kritisch umzugehen und ihn als ein 12 Fück, Johann: Geschichte der Arabistik, in: Spuler, Bertold (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik, Dritter Band Semitistik, E. J. Brill, Leiden/Köln1964, S. 346. 13 Ebd., 346. 14 Ebd., 347. 15 Vgl. Ebd., S. 347. 16 Vgl. Ebd., S. 347. 9 kulturgeschichtliches Phänomen aufzufassen, dessen Entwicklung grundsätzlich auf religiöse Gedanken zurückzuführen ist.17 Daraus lässt sich entnehmen, dass sämtliche Fachgebiete der Islamwissenschaften historisch- kritisch erforscht wurden. Worauf also zielte die historische Forschung des Islams seit der Mitte des 19. Jahrhunderts? Diese Frage wird von Gerhard Endreß wie folgt beantwortet: „Die Ereignisse, Gestalten und Epochen der Vergangenheit in ihrer Einmaligkeit, Verschiedenheit und Fülle zu erfassen und im Bewusstsein ihrer Gleichwertigkeit zu würdigen, war das Ziel, mit dem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Islamhistoriker bekannte Quellen ausschöpften und neue Quellen erschlossen.“18 Hans Zirker antwortet anders auf die oben gestellte Frage. Die christlichen Theologen seien „gerne auf eine solche traditionsgeschichtliche Betrachtungsweise“19 eingegangen, „denn darin sahen sie die Überlegenheit ihrer eigenen Glaubenszeugnisse bestätigt.“20 Dies impliziert, dass der Islam – so die Überzeugung einiger christlicher Theologen – vom Christentum beeinflusst war. Ohne das Christentum sei der Islam nicht zu denken. In welcher Beziehung aber steht die historische Islamforschung zur so genannten „Überlegenheit der christlichen Glaubenszeugnisse“? Vor allem nicht-muslimische Forscher sind davon überzeugt, dass mit der Anwendung der historisch-kritischen Methode das Verhältnis des Islams zu anderen religiösen Weltanschauungen seiner Zeit, im Besonderen zum Christentum, verdeutlicht werden könne. Nicht-muslimischen Forschern ging es vorrangig darum, den Islam auf die jüdischen und christlichen Quellen zurückzuführen: In diesem Sinne schreibt der katholische Theologe und Philosoph Hermann Schell (1850-1906) in seinem Buch Apologie des Christentums: „Alle Ideen, aus denen der Islam Mohammeds entstand, waren im Alten und Neuen Testament, sowie in der christlich-jüdischen Überlieferung der dortigen Sekten enthalten.“21 Aus diesen Gedanken ergibt sich, dass die Erforschung des Korans im Geiste des Historismus einen lohnenden Gegenstand weiterer Forschungen darstellt. 17 Vgl. Fück, Johann: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Otto Harrassowitz, Leipzig 1955, S. 226. 18 Endreß, Gerhard: Einführung in die Islamische Geschichte, Beck, München 1982, S. 22-23. 19 Zirker, Hans: Der Koran – Zugänge und Lesarten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 13. 20 Ebd., S.13. 21 Schell, Hermann: Apologie des Christentum, 2. Band, Jahwe und Christus, Minerva, Unveränd. Nachdruck der Ausgabe Paderborn 1905, Frankfurt/Main 1967, S. 240. 10
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