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Die Methode der Gleichheit PDF

131 Pages·2014·10.188 MB·German
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Der intellektuelle Werd gJacques Rancieres DIE METHODE DER GLEICHHEIT egan wird -statt als Linearität und Kausalität -in PASSAGEN FORUM Szenen und Momenten vor Augen gefühn: die Ausarbeitung seines philosophischen Projektes, die Ausbildungsjahre, der methodologische und politische Bruch mit Louis Althusser, die Lehren aus dem Mai 1968, die F e nach der rag Aufgabe der Intellektuellen. Das Buch geht der Einheit seines Werkes nach, das falschli­ cherweise zu oft in einen politischen und einen ästhetischen Teil gespalten wird. Es beleuchtet Rancieres Denkstil sowie die Übergänge und verborgenen Verbindungen zwischen seinen Büchern und Kategorien. In Konfrontationen mit den Werken anderer Denker werden Kon­ troversen und Missverständnisse angesprochen. Das Buch entwickelt damit die Perspektive eines Lebens und Denkens, das dem Entwurf neuer gedanklicher Welten gewidmet ist. Jacques Ranciere, geboren 194ist0 em,e ritlener Professor für Philosophie und Kunsttheoretiker in Paris. Jacques Ran eiere DiMee thdoedGrel eichheit Gespräch mit Laurent Jeanpierre und Dork Zabunyan Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard Herausgegeben von Peter Engelmann Passagen Verlag Inhalt Deutsche Erstausgabe Titel der Originalausgabe: La methode de legalitl. Entretim avec Laurent ]eanpierre et Dork Za.bunyan Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard Ouvrage publie avec le concours du Ministere franc,ais charge de la culture - Centre national du livre. 11 Cet ouvrage a beneficie du soutien des Programmes d' aide a la publication Vorwort de l'Instirut franc,ais et de l'aide a la traduction de l'ambassade de France en Autriche dans le cadre du „Programme Musil". Erster Teil: Genesen 15 Zweiter Teil: Linien 75 Dritter Teil: Schwellen 137 Vierter Teil: Gegenwarten 205 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Anmerkungen 259 Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-7092-0141-l © 2012 by &litions Bayard, Paris © der de. Ausgabe 2014 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien http://www.passagen.at Grafisches Konzept: Gregor Eichinger Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien Druck: Ferdinand Berger & Söhne GmbH, Horn Vorwort Jacques Ranciere gehört unter den französischen Philosophen sei­ ner Generation sicherlich zu jenen, die sich in den letzten Jahren besonders häufig mit Gesprächspartnern aus verschiedenen Kon­ texten ausgetauscht haben. Diese Besonderheit ist nicht einfach dem Zufall geschuldet. Auch wenn das Interview nicht mit einer Forschungsarbeit zu verwechseln ist, die im Interview immer Ge­ fahr läuft, kurzgeschlossen oder vereinfacht zu werden, so stellt es doch, wie Ranciere hier erläutert, einen nicht zu vernachlässigenden Teil der „Methode der Gleichheit" dar, die diesem Buch seinen vom Philosophen selbst gewählten Titel gibt, und die er seit den 1970er-Jahren unaufhörlich verteidigt. In einem Interview wird nicht weniger gedacht als in einem geschriebenen Buch, und eine Charakteristik der genannten Methode besteht in der Annahme, dass „es keinen dem Denken eigenen Ort gibt. Das Denken ist überall am Werk."1 Warum nun aber ein neues Interview-Buch den bisherigen Interviews hinzufügen, von denen mehrere schon in Buchform2 versammelt sind? Unsere Vorgangsweise hat sich an zwei Zielen orientiert. Zuerst sollte diese lange, in vier Abschnitte gegliederte Unterhaltung in das Denken eines gegenwärtigen Theoretikers einführen, der be­ reits reichlich gelesen und kommentiert wird. Es ging darum, den Ursprung, die Funktion und die Definition bestimmter Begriffe oder gewisser Schlagwörter (Aufteilung des Sinnlichen, Dissens, unwissender Lehrmeister, Unvernehmen, Anteil der Anteillosen und so weiter) genauer zu fassen, welche die Leser manchmal automatisch übernehmen und unhinterfragt verwenden. Wir ha- 11 ben Jacques Ranciere an mehreren Stellen um Präzisierung dieser scheinen sich damals herauskristallisiert zu haben. Sie sind auch routinierten Formulierungen gebeten, im Versuch, einige Elemente Resultat der Lehren, die Ranciere aus den Ereignissen des Mai 68 seines Denkens zu vertiefen oder zu erhellen. Diese Absicht ging zieht, und der sich daraus ergebenden Neubestimmung der Aufgabe mit unserem zweiten Ziel einher, das darin bestand, die Einheit der Intellektuellen wie der Bewertung ihres Wissens und Diskurses. von Rancieres philosophischem Projekt wiederherzustellen, welches Der zweite Teil (,,Linien") erprobt die Hypothese einer Werkein­ aufgrund eines hartnäckigen Missverständnisses beinahe immer in heit, indem Lektürewege innerhalb der Forschungen Rancieres ein sogenanntes „politisches" Moment und ein darauffolgendes vorgeschlagen werden. Es geht nicht primär darum, dieses Denken sogenanntes „ästhetisches" Moment zu spalten versucht wird. Da­ und seine Hauptkategorien zu wiederholen, noch darum, seine bei hat das ganze Werk des französischen Philosophen von seiner Konturen und Unterteilungen nachzuzeichnen, sondern darum - Die Nacht der Proletarier Doktorarbeit (1981 )3 an darin bestanden, wie Ranciere auf anderen Bühnen dazu einlädt -, Übergänge diesen Gegensatz wie alle apriorischen Abgrenzungen festgelegter und unterirdische Verbindungen zu suchen. Das wird manchmal Kompetenzbereiche anzufechten und über die Interferenzsysteme dadurch bewerkstelligt, dass das Werk mit klassischen Problemen und Kreisläufe zwischen den Weisen des Sehens und des Denkens, der Philosophie konfrontiert wird. Besonderes Augenmerk wurde zwischen den Formen des Sich-Zusammenschließens und des dabei auf die philosophische Aussage gelegt, was darauf hinausläuft, Kämpfens nachzudenken. Auf diese Weise wird auch eine Methode dem Ranciere'schen Werk eine Anzahl von Fragen zu stellen, mit der Gleichheit bestimmt, die ihre Konsistenz durch eine Neugestal­ denen er andere Produzenten autorisierter Diskurse konfrontiert sowie tung der Territorien und Fahigkeiten durch die sich daraus er­ hat. Wir haben also versucht, weniger eine allgemeine Philosophie gebende Bedeutungsveränderung der Worter und der Dinge erhält. als vielmehr einen theoretischen Stil zu erfassen. es ,, Das Werk ist einheitlich in seiner Perspektive und Methode, aber Das darauffolgende Moment unseres Gesprächs ( Schwellen") hat Wendepunkte, Momente und Wiederaufnahmen gekannt und besteht darin, das Werk mit anderen Denkern derselben Epoche zu kennt sie noch immer -von diesen wird auf den folgenden Seiten konfrontieren und es einigen der geläufigen Einwände sowie neuen die Rede sein. kritischen Befragungen auszusetzen. Es gibt große Annäherungs­ Der erste Teil des Buches (,,Genesen") beschäftigt sich, von Ran­ und Differenzierungspotenziale zwischen Rancieres Werk und cieres (geboren 1940) Ausbildung und Jugendarbeiten an, mit der anderen großen Werken seiner Epoche, und wahrscheinlich wird Ausgestaltung seines intellektuellen Projekts. Der erste bekannte es in Zukunft nicht an Forschern mangeln, die sich systematischer öffentliche Text, der seinen Namen trägt, ist ein Beitrag zu dem oder genauer damit beschäftigen werden. Wir haben uns bemüht, Das Kapital lesen, Buch das von Louis Althusser koordiniert wurde die Bezüge zu anderen Autoren zu beschränken und eher einige und 1965 erschien. 1974 bestätigt die Veröffentlichung von La Kontroversen, Missverständnisse oder Streitpunkte hervorzuheben, Le;on d'Althusser einen seit 1969 manifesten methodologischen jedoch ohne diese zuzuordnen. Wir bewegen uns dabei an den und politischen Bruch mit dem marxistischen Philosophen der Rue Rändern von Rancieres Begriffsmassiv. d'Ulm. 1980 legtRanciere einevonJean-Toussaint Desanti betreute Der letzte Teil unseres Gesprächs (,,Gegenwarten") zielt darauf ab, La formation de la pensee ouvriere en Doktorarbeit mit dem Titel dieses Denken auf die Aktualität und das.Mögliche hin zu projizie­ France: lep rolitaire et son double vor, die im darauffolgendenJ ahr als ren. Dabei werden verschiedene Themen angesprochen. Aufgrund Nuit desp rolitaires (Die Nacht der Proletarier) La veröffentlicht wird. seiner Methode kann der Philosoph nicht im Modus der Expertise oder der Wissenschaft in Beziehung zu ihnen stehen. Es geht also Die Probleme, die die Gesamtheit seines Denkens strukturieren, 13 12 ErsTteeirl darum, eine bestimmte Sichtweise auf unsere Zeit zu isolieren, in­ dem gewisse Fragen angesprochen werden, die für die gegenwärtigen Genesen Praktiken der Emanzipation unumgänglich sind. Diese Sichtweise berücksichtigt insbesondere die Vielfalt der Gegenwarten, die den · aktuellen Moment durchdringen. Rancieres intellektuelles Projekt wird, auch wenn es noch so kohärent und einheitlich ist, von diese� Diskordanz der Zeiten ständig neu angetrieben. Diese vier Momente unseres Gesprächs skizzieren eine mögliche · Lesart dieses Buchs. Aber nichts wäre einer theoretischen Vorgangs­ Kindheit und Jugend weise, die sich von Anfang an auf die Seite der ,,Ablehnung des hierarchischen Denkens" schlägt, angemessener, als es in anderen Beginnen wir mit Ihren Ausbildungsjahren und den ersten Bausteinen Richtungen zu durchlaufen. Ihres Denkens bis zur Veröffentlichung von Die Nacht der Proletarier. L.J. Archive des Arbeitertraums (1981). Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit vor Ihrem Eintritt in die Ecole normale superieure? Ob es D.Z. einem gefallt oder nicht, wir leben in Frankreich, wo dieJ ahre der ¼r­ bereitungsklassen und der Aufnahmeprüfungenfü r die Ecole normale superieure4 oft wichtige Elemente in den intellektuellen Laufbahnen darstellen. Vielleicht haben auch Sie besondere Erinnerungen daran? Ich bin fast „automatisch" an die ENS gekommen, auch wenn es dafür nötig war, zur Auswahlprüfung anzutreten und sie zu beste­ hen. Mit zwölf Jahren wollte ich Archäologe werden. Man hat mir gesagt, dass man dafür die ENS machen und Latein und Griechisch lernen müsse. Ich schlug also die humanistische Richtung ein. Die Lust auf die Archäologie ist mir vergangen, aber ich habe die eingeschlagene Richtung weiterverfolgt. Ich war ein guter Schüler im literarischen Zweig und bin diesen vermeintlichen Königsweg weitergegangen. Die Vorbereitungsjahre habe ich letztlich nicht als besonders traumatisierend erlebt, abgesehen von ernsthaften gesundheitlichen Problemen, sondern eher als eine etwas son".' derbare Erfahrung. Wir hatten eine unglaublich hohe Anzahl an schlechten Professoren. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass an der Spitze der professoralen Hierarchie zu sein nichts mit Kompetenz oder pädagogischen Fähigkeiten zu tun hat. Ich habe auch die . 15 14 sonderbaren Gesetze der Prüfungen und Auswahlverfahren ken­ Gymnasium Pasteur, das in der schicksten Banlieue überhaupt lag, nengelernt, nämlich ihren rituellen Charakter von gleichzeitiger wurde von Leute besucht, die von überall herkamen. Und bei den Inthronisierung und Erniedrigung. Ich erinnere mich an ein hohes Fußballspielen auf der Insel Puteaux, die eine andere Art Niemands­ Tier der Sorbonne, das mich im ersten Satz mit „Mein Herr, das land war, spielte man in einer Woche mit den Gymnasiasten von ist der Archetypus einer schlechten Erklärung." unterbrochen hat. Janson de Sailly und in der nächsten mit den Mannschaften von Danach habe ich mein Zeugnis mit der Note Gut bekommen. Das Lehrlingsanstalten. Ich lebte in diesem zugleich konfliktreichen und ist Teil meiner Erfahrung, die erst viel später eine Rolle spielte. Denn durchmischten Universum, dessen Erinnerung von den Klischees sobald ich in die ENS eingetreten war, habe ich trotz allem recht von Wirtschaftswunder und Babyboom verzerrt wurde. leicht die Rolle desjenigen eingenommen, der eine sehr schwierige Meine Erfahrung war durch ein vage fortschrittliches katholisches Aufnahmeprüfung bestanden hatte und also im Namen des Wis­ Bewusstsein gefiltert. Ich war in der Christlichen Studentenjugend sens und der Wissenschaft sprechen konnte. Man kann sagen, dass und lernte Marx zuerst deshalb kennen, weil mir der Geistliche des ein gewisser Widerspruch bestand zwischen meiner Erfahrung als Gymnasiums ein Buch zeigte, das er gerade mit Bewunderung las, Student, der Auswahlverfahren und Prüfungen bestand, mit all Calvez' Buch über Marx (La pensee de Karl Marx, 1956). Ich habe den damit verbundenen Integrations- und Erniedrigungsritualen mich also für Marx ausgehend von Themen interessiert, die der konfrontiert war, und meinem späteren problemlosen Anschluss an Althusserianism�s danach weggefegt hat, vor allem die Kritik der den Althusser'schen Kampf der Wissenschaft gegen die Ideologie. Entfremdung. Ich habe Marx auch durch Sartre entdeckt, denn mein erster Zugang zur Philosophie war Sartre, über seine Romane \Wiren Sie Gymnasiast in Paris? und Thesenstücke. Vor dem Eintritt in die letzte Gymnasialklasse hatte ich ihn als einen philosophischen Schriftsteller gelesen. Das Ja, ich habe Algier im Alter von zwei Jahren verlassen. Zwischen war die Zeit, als man noch die großen philosophischen Fragen 1942 und 1945 habe ich in Marseille gelebt. Danach verbrachte über die Existenz, ihre Absurdität, das Engagement und so weiter ich meine ganze Kindheit in Paris, genauer gesagt an der Porte erörterte. Also mitten in der Zeit Sartre-Camus, wenn man so will. de Champerret, was auch eine gewisse Rolle spielte, weil dort die Meine erste philosophische Lektüre war Der Existenzialismus ist ein Grenze zwischen mehreren Welten verlief. An der Porte gab es Humanismus. Als ich in die Philosophieklasse kam und die Kurse eine Zone, die noch nicht komplett zerstört war, und dann links über Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis und so weiter Neuilly, die bürgerliche Stadt, und rechts Levallois, damals noch über mich ergehen lassen musste, war ich völlig verzweifelt. Zum eine Arbeiterstadt. Ich bin in Neuilly zur Schule gegangen, aber es GI ück besuchte ich im Jahr darauf, in der ersten Vorbereitungsklasse gab kaum Kinder aus Neuilly im Gymnasium, weil dort die ganze des Gymnasiums Henri IV Philosophieklassen bei Etienne Borne. Die „großen Philosophen" in einer zugleich sehr leidenschaftlichen nordwestliche Banlieue zur Schule ging, also auch die Kinder aus den noch armen Banlieues. Ich verbrachte meine Kindheit in ei­ Form zu entdecken, das war für mich eine Offenbarung. Da ich zufällig ein Referat über die Unterscheidung zwischen Körper und ner Atmosphäre, die sehr von der 4. Republik geprägt war. Damit Seele bei Descartes halten musste, habe ich mich Hals über Kopf meine ich eine Nachkriegsatmosphäre, geprägt von Rationierung, in die Meditationen, die Einwände und die Erwiderungen auf die Stromausfällen, Pannen und Streiks (man fuhr damals im Militär­ Einwände gestürzt. Meine philosophische wie meine allgemeine lastwagen zur Schule), und es war eine noch sehr durchmischte Bildung vollzog sich immer plötzlich, lokal, lokalisierbar, punktuell, soziale Welt. Es gab kommunistische Stadträte in Neuilly. Das 17 16 niemals enzyklopädisch, entweder sehr oft neben dem Unterricht oder von präzis umfassten Arbeiten ausgehend, die ich im schu- ·, Bevor wir die „Festung" der ENS betreten, sollten wir vielleicht zur Frage Ihresfa miliären Umfelds zurückkommen, das Sie kurz angespro­ lischen Rahmen machen musste, aber denen ich sofort eine andere chen haben. \für das eines, in dem es bereits Karrieren als Lehrer oder Ausweitung gegeben habe. Universitätsprofessor gab? Nein, meine Familie hatte nichts mit dem akademischen und uni­ Konnten Sie diese beiden Aspekte in Einklang miteinander bringen? versitären Milieu zu tun. Mein Vater hatte Deutsch zu studieren Denn schließlich war da die Aufnahmeprüfung ... begonnen, das aber aufgegeben und in der Präfektur zu arbeiten Vorneweg: Ich habe nicht verstanden, wie das ablief. Als ich im begonnen. Er starb aber im Juni 1940 im Krieg. Ich habe ihn nie Gymnasium Henri IV war, ließ man uns glauben, wir seien die kennengelernt. Und meine Mutter war in der Verwaltung, wie Stärksten, die anderen seien nur Stümper, Nichtskönner. Das Er­ mein Vater, mein Onkel auch. Meine Mutter ist in die Verwaltung gebnis war ein Massaker beim Auswahlverfahren. Im Gymnasium eingetreten, als sie beginnen musste zu arbeiten. Ich habe überhaupt Louis-Ie:..Grand, wo die Professoren sehr farblos waren, wo auch die keine Wurzeln in einem akademischen oder universitären Umfeld. Schüler farblos erschienen, habe ich verstanden, dass die Aufgabe darin bestand, jeden beliebigen Auszug aus Homer auf Anhieb Ist Ihr vater im Kampfg efallen? übersetzen zu können. Bei der mündlichen Prüfung in Griechisch gab es einen Text, den man vorbereitete und danach eine Überra­ Ja, im Juni 1940, kurz vor dem Waffenstillstand. Meine Mutter schungsfrage, bei der man zehn Zeilen von Homer vorgelegt bekam, hat nicht mehr geheiratet. Sie hatte die Kraft, die nötig war, um die man spontan übersetzen musste. Ich begriff, dass die großen alleine drei Kinder großzuziehen. Das Umfeld, in dem ich lebte, philosophischen und literarischen Dinge eine Sache sind, aber die war beschützend, voller Zusammenhalt und Herzlichkeit. Ich war Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung eine akkurate Übung war, ein vaterloses Kind, aber ich war nie ein unglückliches Kind. Das die man machen musste. Letztlich habe ich sie gemacht, und offen­ Einzige, woran ich wirklich gelitten habe, war der Eintritt ins Gym­ bar auch in Erinnerung behalten, während all die Leute, die heute nasium, weil ich zuhause wie auch in der Grundschule in einem leidenschaftliche_Aufsätze über den republikanischen Unterricht vorwiegend weiblichen Universum gelebt hatte. Die Entdeckung und die großen Themen schreiben -in die humanistische Kultur der männlichen Welt war das Haupttrauma meiner Jugend. eintauchen, denken lernen, Kritikfähigkeit erlernen - vergessen haben, dass sie, wie ich, die Aufnahmeprüfung auf Grundlage einer Sie haben kurz Algier angesprochen. Vor Ihrem Eintritt in die ENS Kultur der Vorlesungsskripte (denn damals bestand das Studienpro­ fand der Algerienkrieg statt. Hatte das für Sie eine Bedeutung? gramm der Geschichte aus Vorlesungsskripten) oder von Tabellen mit den Bedeutungen aller griechischen Endungen bestanden ha­ Sagen wir so: Ich hatte eine gespaltene Einstellung zu Algerien. ben. Und auf Grundlage dessen, was man damals das kleine Latein Ich lebte inmitten von Gegenständen und Dokumenten, die aus und das kleine Griechisch genannt hat, das heißt der täglichen Algerien stammten, Büchern, Postkarten mit Landschaften des Übung, um jeden beliebigen Text spontan übersetzen zu können. · kolonisierten Algeriens: die Reede von Bougie ganz in Rosa, Chrea ganz in Blau, Timgad in Schwarzbraun ... Insofern sah ich Algerien wie eine Art Traumland. Ansonsten bekam ich den Algerienkrieg 18 19 nach dem Indochinakrieg zu einem Zeitpunkt mit, als ich zum · Nein, am Anfang des ersten Jahres der ENS war ich nicht sicher, politischen Leben erwachte. Aber ich erlebte ihn nicht als ein ob ich Literatur oder Philosophie machen sollte. Ich war im lite­ aus Algier Stammender. Ich erlebte ihn als ein Jugendlicher, der • rarischen Zweig eingeschrieben, ich ging zu Althusser, der mich L'Express las, zwischen der Bewunderung für Mendes France und nicht besonders dazu ermutigte, Philosophie zu studieren. Ich der Abneigung gegen Guy Mollet.5 Das Gymnasium Pasteur war , habe lange gezögert, erst im zweiten Jahr bin ich ins kalte Wasser politisch ziemlich rechts. Ich erinnere mich, dass ich in der Klasse gesprungen, da ich mich ja doch für etwas entscheiden musste, und extrem heftige Flugblätter für die Verteidigung der christlichen ich habe die Philosophie gewählt. Man ging an die Sorbonne, um und westlichen Zivilisation zirkulieren sah. Ich war ein wenig • sich einzuschreiben und die Prüfungen abzulegen, ansonsten betrat schwankend, muss ich sagen, aber das katholische Milieu, im dem · man sie nie, außer wenn man Literatur studierte, dann besuchte ich verkehrte, war eher progressiv. man die Philologievorlesungen, denn das ist etwas, was man nicht Später, als ich in die ENS gekommen bin, war die Zeit der OAS erfinden kann, und man braucht viel Zeit, wenn man ohne Profes­ Organisation armee secrete)6 ( und der großen Demonstrationen gegen soren lernen will. Im ersten Jahr, als ich noch Literatur studierte, sie. 1961-1962 war in dieser Hinsicht von wesentlicher Bedeutung. habe ich die Vorlesungen für Grammatik und Philologie besucht, Eine der ersten Demonstrationen gegen die anti-maghrebinischen zu den Philosophievorlesungen an der Sorbonne ging ich hingegen Ausschreitungen ging von der ENS aus. Wir waren ein paar Dutzend nie. An der ENS gab es auch keine Vorlesungen. Damals gab es Leute, ein paar Hundert am nächsten oder übernächsten Tag, die auf dort keinen Lehrkörper. Es gab nur die Repetitoren, Althusser war dem Boulevard du Montparnasse demonstrierten. Davor habe ich da oder auch nicht, er hielt kaum Vorlesungen, aber er lud Leute keiner politischen Gruppe angehört. Ich war in unterschiedlichen ein, Vorlesungen oder Seminare zu halten, deren Besuch nicht ver­ katholischen Jugendbewegungen, aber sie waren nicht politisch, pflichtend war. Ich habe sehr wenig philosophischen Unterricht an auch wenn dort eine eher linke Atmosphäre herrschte. In der ENS der Sorbonne erhalten und auch sehr wenig an der ENS. Ich habe nicht besonders viel Philosophie an der Ecole gemacht, außer im gab es eine ständige Agitation und Generalversammlungen. Die .. 7 • Jahr der Aggregation Organisatoren dieser Versammlungen waren Kommunisten, sie ) gaben die Parolen vor und man folgte ihnen oder nicht. Das ist Das war damals die Zeit von Persönlichkeiten, die zuweilen an der meine Erfahrung, die nicht damit zusammenhängt, dass ich in · Grenze zur Philosophie erschienen, wie Bataille und Blanchot. Haben Algier geboren wurde. Erst als Algerien unabhängig geworden war, Sie die literarischen Debatten verfolgt? habe ich mir gesagt: Warum nicht einmal dort hinfahren? Ich habe sogar einen Antrag gestellt, als Lehrer nach Algier zu gehen, aber · ' Überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wann ich zum ersten Mal von das war bereits 1965. Blanchot und Bataille gehört habe, aber ich denke, ich war damals bereits aggregiert. Ich übertreibe ein wenig, aber das war völlig außerhalb meines Universums. Noch einmal, mit siebzehn Jahren Ausbildung war mein Horizont Sartre und eventuell jene, von denen er sprach, Als Sie in die ENS eingetreten sind, hatten Sie eine Karriere als Ar­ die großen Romanciers der 1930er-Jahre, wie Faulkner oder Dos chäologe bereits verwoifen. �ren Sie da bereits entschlossen, den Weg Passos. Er sprach zwar auch von Blanchot und Bataille, aber die in Richtung Philosophie einzuschlagen? Kapitel habe ich wohl übersprungen. Mein Universum war anson- 21 20 sten Rilke, weil die erste Philosophievorlesung, die ich gehört habe, ·· ·• Ich wollte nicht über ein philosophisches Thema arbeiten, sondern eine Vorlesung Jean Wahls über Rilke war. Das war die öffentliche über eine Denkpraxis. Ich habe viel vom frühen Marx gelesen. Ich Vorlesung der Sorbonne, die ich im Radio hörte, wenn ich vom habe meine philosophische Laufbahn mit einem Referat über Marx' Gymnasium heimkam. Ich wusste zwar, dass es so etwas wie den Text über das Holzdiebstahlsgesetz begonnen, das war im Winter Nouveau Roman gab, ich las ein wenig davon. Ich kannte Barthes' 1961-1962. Das war ziemlich lustig, denn kurz zuvor sprach ich Mythologi.en des Alltags. Mit Zwanzig hatte ich eine modernistische mit Alrhusser, der mir sagte: ,,Hören Sie, ich kann Ihnen keinen Bildung, die man vielleicht schon strukturalistisch nennen konnte, Erfolg in der Philosophie garantieren, aber wenn Sie wollen, dann aber sagen wir, dass ich mich mit einer Kultur identifizierte, die machen Sie es." Er hat dann am Ende des Jahres 1961, glaube ich, man „avantgardistisch" nennen kann, selbst wenn sie das nur für dieses Seminar über Marx begonnen, ich habe das Referat über mich, aber nicht unbedingt auch auf geschichtlicher Ebene war. den Diebstahl von Totholz gehalten. Danach ist Althusser zu mir Meine Bezüge waren der Nouveau Roman, die Nouvelle Vague gekommen und hat mir gesagt, dass ich die Aggregation ohne Pro­ im Kino, die Konzerte der Domaine musical 8u nd die abstrakte bleme schaffen und keine Schwierigkeiten in der Philosophie haben Kunst. Kurz gesagt, die Modeme der 1950er-1960er-Jahre, mit würde. Zwei Jahre lang habe ich mich im Wesentlichen dieser Arbeit Ausnahme der ganzen Tradition des Surrealismus, die überhaupt · gewidmet. Zugleich habe einen Abschluss in Psychologie gemacht, nicht Teil meiner Welt war. mit Sozialpsychologie, Kinderpsychologie und so weiter, was eine Reihe praktischer Arbeiten implizierte. Da ich über die Fragen der Würden Sie in der Philosophie Hippolyte, Canguilhem oder Alquie als Ideologie und der Repräsentation arbeiten wollte, dachte ich, dass Ihre Lehrer bez:eichnen? Sie lebten ja dama� noch. es interessant wäre, in diese Richtung zu gehen. Aber das hat mir nichts gebracht. Wir kannten Hippolyte als Direktor der ENS, aber er spielte keine Ich habe sehr wenig Philosophiegeschichte studiert, sobald man Rolle mehr als Philosoph oder Lehrer. Dann war da Althusser, aber die Prüfung über Philosophiegeschichte an der Sorbonne abgelegt er war kein Professor. Er inspirierte uns eher durch die Gespräche hatte, gab es keinen Grund mehr dazu, außer vielleicht, um sich mit ihm und durch �.estimmte Texte als durch Unterricht. Dann einen bestimmten Philosophen genauer anzusehen, wenn eine gab es die Leute, die Althusser einlud. Ich erinnere mich an gewisse Vorlesung oder ein Seminar einen interessierte. Ich habe erst nach Vorträge von Serres, die ziemlich brillant waren. Ich erinnere mich dem zweiten Jahr, im Jahr der Aggregation, Philosophiegeschichte auch an Foucault, der ein Seminar angekündigt hat, aber dann nie zu lernen -oder wieder zu lernen -begonnen. Ich erinnere mich, wiedergekommen ist. Also nein, ich habe in dieser Zeit sehr wenige . dass am Anfang des Jahres der Aggregation Canguilhem Juryprä­ Philosophievorlesungen besucht. Im zweiten Jahr begann ich eine sident war. Die Vorlesung über Wissenschaftsgeschichte, in der Arbeit über den frühen Marx. Mir scheint, sobald ich mich für die gewöhnlich nur fünf oder sechs Personen saßen, Balibar, Macherey Philosophie entschieden hatte, hatte ich mich auch entschieden, und zwei oder drei andere, war plötzlich voll. Canguilhem sagte, das Hochschuldiplom über die Idee der Kritik beim frühen Marx dass er sich keine Illusionen mache, dass alles schon entschieden zu machen. Ich bin zu Ricreur gegangen, der mich fragte, ob ich sei, man verstehe etwas von Philosophiegeschichte oder eben nicht. nicht lieber über die Entfremdung oder den Fetischismus arbeiten · Ich sagte mir: ,,Hör mal, nein, ich kenne nicht die ganze Philoso­ wolle. Ich entgegnete ihm, dass ich lieber über die Idee der Kritik phiegeschichte, aber am Ende des Jahres werde ich alles wissen, was arbeiten wolle. man darüber wissen muss." Ich habe das Jahr damit verbracht, den 23 22

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