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Die Lust zu gehen. Weibliche Flanerie in Literatur und Film PDF

223 Pages·2017·6.956 MB·German
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Georgiana Banita · Judith Ellenbürger · Jörn Glasenapp (Hg.) DIE LUST ZU GEHEN Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 1 08.03.17 09:24 inter|media Herausgegeben von Andrea Bartl, Jörn Glasenapp und Claudia Lillge Band 3 Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 2 08.03.17 09:24 Georgiana Banita · Judith Ellenbürger · Jörn Glasenapp (Hg.) DIE LUST ZU GEHEN Weibliche Flanerie in Literatur und Film 2017 Wilhelm Fink Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 3 08.03.17 09:24 Umschlagabbildungen: Saul Leiter: Modeaufnahme für Harper‘s Bazaar Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn 978-3-7705-6191-9 Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 4 08.03.17 09:24 INHALT G B, J E, J G Die Lust zu gehen: Flanierende Frauen und die Entgrenzung der Moderne ............................................... 7 M L Weibliche Straßenerfahrungen bei Irmgard Keun und Klaus Mann: Entgrenzung und Ekstase in der Großstadt ......................... 15 G B Hochprozentig weiblich: Flanerie und Alkohol ...................... 41 R M »Gehen am äußersten Rand der Fußsohlen«: Zur Adaption des Flanerietopos in Herta Müllers Reisende auf einem Bein und Angela Krauß’ Milliarden neuer Sterne ............................ 59 C R Die Kunst des Gehens: Weibliches Flanieren in Siri Hustvedts The Blindfold und Tessa McWatts Out of My Skin .................... 77 L F Die Flaneurin als Maus: Zoopharmazeutische Essenzen in Yoko Tawadas Das nackte Auge .................................. 101 A B Bewegung, Wahrnehmung, Kunst: Zu einer möglichen Analogie von Flanerie und Amoklauf – und der Frage, warum Frauen flanieren, aber nicht Amok laufen ....................................... 113 J E Die bewegte Frau: Audrey Hepburn und die Flanerie ................. 133 F L Flanieren auf Leben und Tod: Elementare Konstellationen in C     ............................................  N L Prekäre Flanerie: Filmische Streif- und Beutezüge durch Berlin ......... 167 Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 5 08.03.17 09:24 6 INHALT J G Bewegungsbilder: Béla Tarrs cinema of walking ...................... 195 Über die Autorinnen und Autoren ............................... 215 Personenregister ............................................. 221 Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 6 08.03.17 09:24 G B, J E, J G DIE LUST ZU GEHEN Flanierende Frauen und die Entgrenzung der Moderne Frauen, die sich zunächst langsam und zögerlich auf den Straßen und in den öf- fentlichen Räumen der modernen Metropolen bewegen, sind auch in deren litera- rischen und filmischen Narrativen keinesfalls eine ungewöhnliche Erscheinung. Ob sie ihrer Arbeit oder einem anderen Erledigungsdrang nachgeht – zumeist zeu- gen die entschlossenen Schritte der mobilen Frau von der Anständigkeit ihres Ziels. Dass sie überhaupt ein Ziel hat, schirmt sie im Straßenwirbel von lauernden Gefahren ab. Doch hält sie nicht genau und erst recht nicht immer an ihrem Kurs fest. Wo zieht es sie hin, wenn sie, vom routinierten Weg abschweifend und oft in geradezu exzentrischer Selbstvergessenheit, die großstädtischen Eindrücke auf sich einströmen lässt? Die Einsicht, dass nur diese Eindrücke, diese Reize aus der Um- gebung den Gang der zugleich flinken wie nachdenklichen Betrachterin diktieren, wirkt ungewohnt und irritierend. So geht – dies zumindest bekunden bekannte Porträts moderner Passantinnen – von der schlendernden Stadtbeobachterin eine unheimliche Bedrohung aus. Wo weilt sie, wenn sie keinen bürgerlichen Zweck verfolgt? Was für eine Substanz mag es sein, die ihren Blick so intensiv wie verwir- rend macht? Aber auch: Inwiefern unterstreicht die Flaneurin Elemente einer mo- dernen Erzähl- und Bildästhetik? Welche Modelle unsittlicher Weiblichkeit lässt sie entstehen – und wie unterscheidet sich die weibliche Flanerie von ihrem kulturell prädominanten männlichen Pendant? Diesen und anderen Fragen nachgehend, zielen die Beiträge des vorliegenden Bandes darauf ab, die flanierende Frau durch einschlägige Literatur- und Filmsich- tungen als eigenen Wahrnehmungstopos der Moderne zu entdecken. Dabei soll die Engführung medientheoretischer und materiell-ökonomischer Fragestellungen ei- nen Blick auf die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Mo- derne erlauben, die in den bisherigen, oft nostalgischen Bildern eines weltfremden Flaneurs unsichtbar blieben. Medientechnisch – so die rahmende Theorie des Ban- des – charakterisiert die Flaneurin zunächst ihr Weg an der Schnittstelle zwischen Literatur und Film. Die Beiträge zu Texten und Filmen zeigen auf, wie narrative Ausschweifung und bildliche Dissonanz eine hybride Form der Betrachtung und Notation erschaffen. Die französische Regisseurin Agnès Varda – die in ihrem Nou- velle-Vague-Meisterwerk C     (1962) eine der bekanntesten Flaneurin- nen der Filmgeschichte in Szene setzt – prägte für diese Form das Wort cinécriture.1 1 Vgl. »Agnès Varda: A Conversation With Barbara Quart«, in: Film Quarterly, Jg. 40 (1986/87), H. 2, S. 3-10. Zu C     und speziell zum Verhältnis von Flanerie und Film vgl. Janice Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 7 08.03.17 09:24 8 GEORGIANA BANITA, JUDITH ELLENBÜRGER, JÖRN GLASENAPP In jedem Beitrag gilt das Augenmerk der Reflexivität von räumlicher und medialer Entgrenzung. Die weibliche ›Lust zu gehen‹ testet zugleich die Grenzen moderner Medialität aus und stellt dadurch eine kulturelle Herausforderung dar, die, um ihr gerecht zu werden, eines dezidiert heterogenen kritischen Instrumentariums be- darf. Der Sammelband zielt somit auf einen gender- und kulturtheoretisch avan- cierten, oft experimentellen Diskurs, der bewusst von den bekannten Wegen mo- derner Stadtmobilität absieht und stattdessen gemächlich – neue Eindrücke auskostend – der Entdeckungslust nach einer weiblichen Art des Gehens nachgibt. Als bedeutendes frühes Beispiel, das auch in unserem Band den Auftakt gibt, gilt Irmgard Keuns 1932 erschienener Flanierroman Das kunstseidene Mädchen, dessen Protagonistin ihre Ausdrucksweise immer wieder an die Filmsprache anpasst und der folglich völlig zu Recht als prominenter Vorstoß in die kineastische Fiktion ge- handelt wird.2 Die assoziativen, zusammenhangslosen Sequenzen des Romans, sei- ne gebrochene, atemlose Schreibweise, die vor allem auf Licht, Material und Textur der Straßendetails reagiert, bilden ein textuelles Pendant zu zeitgleich entstande- nen, querschnittsartig angelegten filmischen Auseinandersetzungen mit der Metro- pole, allen voran Walter Ruttmanns B,  S  G (1927). Gerade durch diese synchronische Analogie von Film und Text kann etwas sichtbar werden, das auch im diachronen Vergleich die weibliche Erfahrung der Moderne charakterisiert. So belegt die Flaneurin – anders als der in gewisser Weise romantische Flaneur – ein Verständnis der Moderne als dynamisches Beziehungs- geflecht textlicher und filmischer Elemente, das die Grenzen vormoderner Ge- schlechterdynamiken und der damit einhergehenden Medientechnologien offensiv aufzeigt. Nicht nur in der klassischen Moderne weist die weibliche Flanerie eine multi- mediale Semantik auf. Auch in späteren Romanen und Filmen, die weibliche Ak- teure auf ziellosen Wegen begleiten, sind die Übergänge zwischen Textfragment und Bildmontage sehr flüssig: Joan Didion etwa vermischt Hollywoodwahn und Drogenrausch in ihren ikonischen Erzählungen vom Leben und Sterben in LA.3 In den Romanen von Jean Rhys avancieren die Lumpensammlerinnen, Passantinnen und Prostituierten, welche im klassischen Theoriearsenal zur Flanerie, bei Walter Benjamin, Franz Hessel und Siegfried Kracauer, als einzige Frauen auftreten,4 zu melancholischen Straßengeistern, denen der regelmäßige Kinobesuch als existen- Mouton: »From Feminine Masquerade to Flâneuse: Agnès Varda’s C   C«, in: Cine- ma Journal, Jg. 40 (2001), H. 2, S. 3-16, darüber hinaus aber auch den Beitrag von Felix Lenz in diesem Band. 2 Zum filmischen Schreiben bei Keun vgl. Leo A. Lensing: »Cinema, Society, and Literature in Irmgard Keun’s Das kunstseidene Mädchen«, in: The Germanic Review, Jg. 60 (1985), H. 1, S. 129-134. 3 Vgl. insbesondere Play It As It Lays, New York 1970. 4 Vgl. etwa Walter Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire« (1937/1938), in: ders.: Charles Baudelaire, Frankfurt am Main 1974, S. 7-100, ders.: »Die Wiederkehr des Flaneurs« (1929), in: Franz Hessel: Ein Flaneur in Berlin, Berlin 1984, S. 277-282, Franz Hessel: Spazieren in Berlin: Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehn ganz nah dem Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 8 08.03.17 09:24 DIE LUST ZU GEHEN 9 zielles Orientierungsritual dient. Darüber hinaus empfinden sie das Leben wie eine Rolle, die sie ohne Vergnügen und mit immer gleichen Regieanweisungen vor demselben unermüdlich johlenden Publikum zu spielen verdammt sind. Dabei ge- raten auch diese Zuschauer neu in den Blick: Eine Schar mittelloser und unver- schämt heuchlerischer Flaneure macht das Publikum der Flaneurin aus, wodurch das kanonische Bild des Flaneurs als Zeichen kultivierten Reichtums und sozialen Prestiges einen schweren Schlag erleidet. Im späten neorealistischen bzw. moder- nen Film werden Frauen in Bezug auf solche Figuren (nicht selten Schriftsteller oder Künstler) immer weniger tolerant. Zumal im Werk Michelangelo Antonio- nis – man denke beispielsweise an L  (1961) – entwickelt sich die Film- struktur oft aus einer (häufig mit emotionalen Abschieden verbundenen) weibli- chen Gehbewegung heraus, wobei unübersehbar ist, dass die intensive Beschäftigung des Regisseurs mit Entfremdungsgefühlen nicht zuletzt der weiblichen Auseinan- dersetzung mit der Großstadt verpflichtet ist.5 Durch die Einbeziehung des Mediums Film entsteht jedoch auch eine Reihe von Verhältnissen, die Weiblichkeit und Ware als gleichwertige Objekte der Wahr- nehmung auf eine mechanische Ebene reduziert: Die Frau begreift die Stadt als Film und ihre eigene Rolle darin als Teil einer kinematischen Vorstellung. Der Blick auf sich selbst ebnet den Weg für die Befreiung aus der häuslichen Isolations- haft; er setzt für die Flaneurin jedoch auch eine Selbstdistanzierung und -reduktion voraus, die nicht selten einem symbolischen Akt der Selbsttötung gleichgesetzt wird. Gilt die Gefahr, die von der Flaneurin ausgeht, (doch nur) ihr selbst? Der vom US-amerikanischen Fotografen Saul Leiter abgelichteten grün gekleideten Frau, die auf dem Coverbild dieses Bandes zu sehen ist, scheint eine solche Beklem- mung ins Gesicht geschrieben. Unsicher lehnt sie sich gegen einen am Straßenrand geparkten Wagen; sie hält ihren Hut fest und lenkt ihren Blick hoffnungsvoll an einer Tür vorbei, die von einer männlichen Hand offengehalten wird. Dabei ent- steht durch die Bildkomposition der Eindruck, der Mann würde ihr den Weg ver- sperren. Noch ist die Freiheit nicht endgültig. Die Frau muss sich vor der Straße hüten und zugleich vor dem gesellschaftlichen oder selbst auferlegten Zwang, in die Enge des ihr zugehörigen Heims zurückzukehren. Die mit diesem Band ange- stoßene Diskussion beschränkt sich somit nicht auf die Behauptung einer Evidenz (»die Flaneurin existiert«), sondern wagt die Beobachtung, dass die in der formalen Integration unterschiedlicher Medien entstehende Figur auf besondere Weise jene Paradoxien vermitteln kann, die weibliche Erfahrung in der Moderne charakteri- sieren: einerseits Emanzipation, andererseits jedoch auch Verlassenheit und Selbst- entfremdung. Als verfremdender Umgang mit dem fragmentarischen Großstadter- Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiß. Ein Bilderbuch in Worten, Berlin 2012 (11929) sowie Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987 (11964). 5 Zum Motiv der weiblichen Flanerie bei Antonioni vgl. Tina Hedwig Kaiser: Flaneure im Film: L  und L’ von Michelangelo Antonioni, Marburg 2007 sowie Jörn Gla- senapp: »L  oder: Antonionis Night of the Living Dead«, in: ders. (Hrsg.): Michelan- gelo Antonioni: Wege in die filmische Moderne, München 2012, S. 61-88, hier: S. 70-80. Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 9 08.03.17 09:24 10 GEORGIANA BANITA, JUDITH ELLENBÜRGER, JÖRN GLASENAPP lebnis sensibilisiert filmisches Schreiben für Differenzerfahrungen und führt, zumal durch die Fremdheit der Montage als literarische Strategie, letztlich in das, was diese Texte und Filme als weibliches Bewusstsein projizieren. Umgekehrt doku- mentieren Flanierfilme, die oft von Schriftstellerinnen erzählen oder sich an litera- rischen Texten orientieren, dieselbe intensive Rückkopplung zwischen Straße und Narrativ, Narration und Kino, Blick und Erzählform. Diese polemische Bestandsaufnahme geschieht in einer Zeit, in der das Flaneur- konzept in verschiedenen Medien und Diskursen bereits an Bedeutung gewonnen hat.6 Die Fülle von Texten zum Flaneurbegriff und dem daraus abgeleiteten flanie- renden Denken hat von Seiten der feministischen Forschung vor allem Absenzthe- orien provoziert.7 Die anhaltende Brisanz der Frage nach dem weiblichen Dandy führt folglich oft dazu, dass die Forschung die Frage selbst als Erkenntnisgewinn postuliert. Einzige Vorstufe der alleingehenden Frauen der Moderne, so wird pro- minent und permanent angemerkt, sei die Prostituierte – eine Beobachtung, die zumindest den Wert hat, die materialistische Dimension des Flanierens in den Blick zu nehmen. Da die Sehnsucht der Frauen, die ohne männliche Begleitung 6 David Cronenbergs 2011 angelaufene Adaption von Don DeLillos Roman Cosmopolis prä- sentiert dem Zuschauer einen (motorisierten) Flaneur in Zeiten der Finanzkrise. Der viel weiter entfernt vom Kinomainstream agierende französische Regisseur Leos Carax lieferte mit H M (2012) ein ähnliches Flaneurporträt im Großstadtmilieu, wobei er noch deutlicher als Cronenberg das Flaneurmotiv als ein mit der Ästhetik und Funktion des Ki- nos zutiefst verbundenes Phänomen betrachtet und zugleich, wie Cronenberg, den fetischi- sierenden Blick des Flaneurs auf das Weibliche neu inszeniert. Der Amerikaner Edmund White wagt sich in der als Geburtsort der Flanerie geltenden französischen Hauptstadt aus dem Bereich des Vertrauten und Schönen hinaus, um die Marginalisierten zu erfassen und somit die Flanerie vom Vorwurf des Luxus und des Privilegs zu befreien. Vgl. Edmund White: The Flaneur: A Stroll Through the Paradoxes of Paris, New York 2001. Der aus Nigeria stammende, aktuell in New York lebende junge Schriftsteller Teju Cole zeigt in seinem Ro- mandebüt Open City, wie angemessen diese Metapher auch für eine an der Selbstverständ- lichkeit der Globalisierung geschulte Generation erscheint. Über die Städte Europas breitet sich währenddessen die neuere Phase des Schaffens Woody Allens, dessen nahezu gesamtes filmisches Œuvre von der dilettantischen Flanerie als architektonisches und ästhetisches Prinzip geleitet ist. Auch in der Forschung fehlt es kaum an Interpretationen der Flanerie im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Vgl. für den deutschsprachigen Raum insbesondere Harald Neumeyer: Der Flaneur: Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999, aber auch Matthias Keidel: Die Wiederkehr der Flaneure: Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Würzburg 2006. 7 Als einschlägige Texte zur Flaneurin als Randerscheinung oder Abwesenheitsfigur gelten nach wie vor Susan Buck-Morss: »The Flaneur, the Sandwichman and the Whore: The Poli- tics of Loitering«, in: New German Critique, Jg. 39 (1986), S. 99-140 sowie Janet Wolff: »The Invisible Flaneuse: Women and the Literature of Modernity«, in: Theory, Culture & Society, Jg. 2 (1985), H. 3, S. 37-46. Erwähnt sei an dieser Stelle auch Anne Friedberg, die einen wichtigen Bezug zwischen den Pariser Einkaufspassagen, welche vor allem bei Benja- min als Kulisse der Flanerie erscheinen, und den Kaufhäusern der Gegenwart herstellt und Letztere dabei als eine Art ›Keimzelle‹ der weiblichen Flanerie profiliert. Vgl. Anne Fried- berg: Window Shopping: Cinema and the Postmodern, Berkeley 1993. Jörn Glasenapp, Georgiana Banita, und Judith Ellenbürger - 978-3-8467-6191-5 Heruntergeladen von Fink.de05/12/2022 01:19:07AM via Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg (ULB Sachsen Anhalt) SyncID 9176 F6191_Glasenapp.indd 10 08.03.17 09:24

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