Kurt-H. Weber Die literarische Landschaft Kurt-H. Weber Die literarische Landschaft Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart De Gruyter ISBN 978-3-11-022763-5 e-ISBN 978-3-11-022764-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandillustration:Gottfried Keller, An der Sihl, Bleistift und Aquarell, Zentralbibliothek Zürich Satz: Michael Peschke, Berlin Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Inhalt Zur Einführung ............................................................................. 1 Teil I: Über die Bedingungen der Naturbeschreibung 1. Die Lust an der Natur .................................................................... 15 2. Über Naturbegriffe und deren Widerschein in der Literatur ............................................................................... 47 3. Die Bilder und die Worte oder die Kunst der Beschreibung .......................................................................... 101 4. Vom Wesen der Landschaft ......................................................... 167 5. Das Naturschöne und das Erhabene ............................................. 199 6. Anmerkungen zur Geschichte der Naturbeschreibung ................................................................. 235 Teil II: Schriftsteller und ihre Landschaft 1. Der Tempel der Natur – Jean Paul ............................................... 297 2. Der große Wald – Adalbert Stifter ............................................... 319 3. Der Zauber einer Kiefernheide – Theodor Fontane .......................................................................... 361 4. Musivisches Dasein – Arno Schmidt ........................................... 385 Literaturverzeichnis ................................................................. 417 Verzeichnis der Abbildungen ................................................... 429 Namensregister ......................................................................... 431 Zur Einführung Einen Garten hat sich Schiller in Jena gekauft. Noch am ersten Abend, den er darin verbringt, schreibt er, sehr vergnügt, an Goethe: „Ich be- grüße Sie aus meinem Garten, in den ich heute eingezogen bin. Eine schöne Landschaft umgibt mich, die Sonne geht freundlich unter, und die Nachtigallen schlagen. Alles um mich herum erheitert mich, und mein erster Abend auf dem eigenen Grund und Boden ist von der fröh- lichsten Vorbedeutung.“1 Das Gefallen, das Schiller an seiner Umge- bung findet, ist weniger selbstverständlich, als man glaubt. Eine Emp- fänglichkeit für die Schönheit der Natur muss sich erst herausbilden, und das ist ein individueller und ein historischer Vorgang. Exempla- risch dafür sind die Erfahrungen, die Goethe die Romanfigur ‚Wilhelm Meister‘ machen lässt. Der hat zunächst keinen Sinn für seine natürli- che Umwelt. Erst durch einen Maler werden ihm „die Augen aufgetan“, und er entdeckt die landschaftlichen Reize des Lago Maggiore. Es ist demnach die Kunst, die den Menschen aufnahmebereit macht für die Vorzüge seiner natürlichen Umgebung. Sie macht sichtbar, sie regt an zum Hinsehen, und sie fordert dazu auf, über das Geschaute zu reflek- tieren. Sie spricht Goethe an als die „würdigste Auslegerin“ der Natur, und er meint damit nicht nur die Malerei, sondern, was er eigens her- vorhebt, auch die Literatur. Aber damit sich die Natur aufschließt, müssen bestimmte Vorkeh- rungen getroffen werden; es bedarf dazu besonderer Hinsichtnahmen, Techniken und Darstellungsprinzipien, und vor allem, was ganz am Anfang steht, es muss überhaupt die Natur als Gegenstand der Kunst begriffen werden. So ergibt sich erst relativ spät, erst in der Renais- sance, dass der Naturraum als Landschaft wahrgenommen wird. Das zeigt sich nur dem geschulten Blick, einem Blick, der sich darauf ver- steht, die sich darbietende Vielheit zusammenzusehen, der in der Lage ist, Geringes und Voluminöses, die einzelnen Gegenstände und die großen Formationen, Nahes und Fernes zu einer in sich konsistenten Einheit zu verbinden. Über den historischen Prozess, der dazu führt, hat sich Goethe selbst in zwei Entwürfen zur Geschichte der „landschaftli- chen Malerei“ Rechenschaft gegeben. 1 Brief vom 2. Mai 1797; (Nationalausgabe, Bd. 29, S. 71). 2 Zur Einführung Wenn auch die Aufmerksamkeit auf Gegenstände gelenkt wird, die den Betrachter ansprechen, ihn fesseln und entzücken, so muss die Dar- stellung sich doch an die „Wahrheit“ halten, sagt Goethe. Nur dann offenbare sich die tatsächliche Schönheit der Natur. Sie, also die Natur solle der Künstler „so treu als möglich nachbilden“. Damit schließt sich Goethe einer Forderung an, die auf Aristoteles zurückgeht und die die Künste bis in die Gegenwart bestimmt hat, der Forderung, die Natur nachzuahmen. Darunter ist freilich sehr Unterschiedliches verstanden worden. Das ergibt sich schon daraus, dass jede Wiedergabe, ob eine bildnerische oder eine sprachliche, doch ein Kunstwerk ist, also ein Gebilde, das eine eigene Sichtweise aufweist, das bestimmte Mittel und Techniken einsetzt. Hinzukommt, dass die Abbildung keine geistlose Kopie sein will, sondern immer auch Ausdruck dessen, was der Be- trachter bei einem Anblick fühlt und denkt. An Ruysdael lobt Goethe, er sei ein „denkender Künstler, ja Dichter“, also nicht einer, der nur eine öde Verdoppelung des Vorgefundenen anfertigt.2 Fürs erste kann man sagen, dass die Malerei und die Literatur mit aufdeckenden Mitteln an die Natur herangehen, dass sie verschiedene Sehmuster, Gestal- tungsvorgaben und handwerkliche Fertigkeiten verwenden; nicht, um sich die Dinge willkürlich zurechtzulegen, vielmehr soll durch den Ein- satz solcher Mittel etwas aufgezeigt werden, von dem, was ist, von dem, was sonst unerkannt bliebe. Die Behauptung Dichtung und Kunst erwiesen die „Wahrheit“ der physischen Welt, ist indessen höchst fraglich. Das traut man eher einer anderen Instanz zu, die darauf mit einem vermeintlich größerem Recht Anspruch erhebt, der Wissenschaft. Schließlich hat sie seit dem Beginn der Neuzeit Instrumente und Verfahrensweisen entwickelt, mit denen sie die wirklichen Sachverhalte eruieren will. Aber die Wahrheit der Kunst ist nicht die der Naturwissenschaft. Die genießende Betrachtung, zu der die erste anhält, verschafft andere Einsichten als es die sind, zu welchen die Forschung gelangt. Nur hat man über den Erfolgen der Wissenschaft die Lehren der artifiziellen Weltsicht nahezu vergessen, und das ist ein Verlust für uns und unsere Welt. Gleichwohl wollen beide Richtungen der Naturaneignung Wissen vermitteln. Den Unterschied zwischen ihnen markiert sehr treffend die Begrifflichkeit des Kunsttheoretikers John Ruskin. Er setzt eine ‚Wis- senschaft von den Erscheinungen‘ ab gegen eine ‚Wissenschaft von den Fakten‘ („science of aspects“ – „science of facts“). Beide wollen genau hinsehen, das verbindet sie, und der Ausgang von der Empirie ist ihre 2 Zu den Ausführungen über Goethe vgl. Wilhelm Meisters Wanderjahre, zweites Buch, siebentes Kapitel; Werke, ed. Trunz (Hamburger Ausgabe), München 1981, Bd. VIII, S. 226 ff; dort finden sich die meisten der hier wiedergegebenen Zitate; vgl ferner: Bd. XI, S. 427, Bd. XII, S. 216 ff, S. 138. Zur Einführung 3 gemeinsame Basis. Das ist auch der Grund, warum sich Erkenntnisse der einen auf die andere übertragen lassen. Gewissermaßen personifi- ziert ist diese Übereinstimmung bei Naturkundigen, die sich auf beiden Gebieten hervorgetan haben. Das beste Beispiel dafür ist Ruskin selbst, der nicht nur Kunsttheoretiker, sondern auch Geologe war und zudem ein überragender Zeichner. In diese Reihe gehören auch Leonardo da Vinci, Goethe, Alexander von Humboldt und Stifter. Anders als die Wissenschaft von den Erscheinungen hält sich aber die von den Fakten nicht auf bei dem, was die Wahrnehmung darbietet. Sie will gerade darüber hinausgelangen und zu dem vordringen, was den sichtbaren Gestalten zugrunde liegt. Das sinnlich Gegebene interessiert sie eigent- lich nicht; für sie ist dieses nur ein Fall, der auf die ursächlichen Zu- sammenhänge verweist, die hinter den Phänomenen stehen. Worauf die Naturwissenschaft aus ist, sind generalisierbare Bestimmungen, sind die allgemeinen Eigenschaften und Gesetze der Materie. Und um diese zu ermitteln, seziert und analysiert sie die Naturphänomene. In dieser Sicht ist es gleichgültig, ob ein Stern niederfällt oder ein Löffel; ent- scheidend ist, ob diese Vorgänge zurückzuführen sind auf dasselbe Gesetz. Die andere Erkenntnisart verweilt gerade bei den Dingen, sie ver- senkt sich in ihren Anblick. Ihr Untersuchungsfeld ist die Sinnenwelt. Von ‚Erscheinung‘ spricht Ruskin, und das ist ein Relationsbegriff. Er verweist auf die Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Betrachter: Eine ‚Erscheinung‘ ist das, was die Apperzeption von ei- nem Objekt aufnimmt. Daraus geht schon hervor, wovon diese Natur- erkundung eigentlich handelt und worin sie sich von der Naturwissen- schaft im üblichen Verstande unterscheidet. In Ruskins Worten: „… es gibt genausogut eine Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge, wie eine >Natur-Wissenschaft< existiert. Und es ist genauso wichtig, herauszuarbeiten, welche Wirkungen die Dinge auf das Auge und das Herz machen, wie festzustellen, aus welchen Atomen oder Schwingun- gen der Materie sie bestehen.“3 Und an anderer Stelle sagt er, die eta- blierte Forschung befasse sich nur mit der Beschaffenheit der Dinge und mit ihrer Wirkung aufeinander, nicht aber damit, wie diese die „menschlichen Sinne und die menschliche Seele affizierten“. Genau das macht aber die Kunst. Sie ist Anwendung und Umsetzung der Wissen- schaft von den Erscheinungen. Sie zeigt, was in der Natur ist, sie lehrt das Sehen, und sie ist Ausdruck der Gefühlswerte und der Gedanken, die sich mit einem Anblick verbinden. Ruskins Konzeption trifft sich in vielem mit dem, was auch Goethe vertreten hat. Seine kritische Haltung gegenüber der experimentellen Forschung, seine Berufung auf die An- 3 Zitiert nach Wolfgang Kemp, John Ruskin. Leben und Werk, München 1983, S. 76.
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