ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN NATUR-, INGENIEUR- UND GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN GEMEINSAME SITZUNG DER NATUR- UND INGENIEURWISSENSCHAFTLICHEN UND DER GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN SEKTION AM 28. SEPTEMBER 1966 IN DüSSELDORF ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN NATUR-, INGENIEUR- UND GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN HEFT 167 ERNST DERRA Die Herz- und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium FRANZ GROSSE-BROCKHOFF Elektrotherapie von Herzerkrankungen HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DES MINISTERPRÄSIDENTEN HEINZ KüHN VON STAATSSEKRETÄR PROFESSOR Dr. h. c. Dr. E. h. LEO BRANDT ERNST DERRA Die Herz- und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium FRANZ GROSSE-BROCKHOFF Elektrotherapie von Herzerkrankungen Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH ISBN 978-3-322-98198-1 ISBN 978-3-322-98881-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-98881-2 © 1967 by Springer Faclnlledien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1967 INHALT Ernst Derra, Düsseldorf Die Herz- und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium . 7 Franz Grosse-Brockhoff, Düsseldorf Elektrotherapie von Herzerkrankungen . 37 Diskussionsbeiträge Professor Dr. med. Martin Zindler ,. Professor Dr. med. Franz Loogen ,. Professor Dr. med. Walter Kikuth,. Professor Dr. med., Dr. med. h. c. Ernst Derra,. Professor Dr. med., Dr. phi!., Dr. rer. nato h. C. WeTller Schulemann ,. Obermedizinalrat Dr. med. Bernh:trd Knoche,. Dr. med. WoljgangBircks ,. Professor Dr. med. Franz Grosse-Brockhoff,. Professor Dr. agr. Hans Braun,. Professor Dr. rer. nato Hans Hermes,. Landtags abgeordneter Wilhelm Mayfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 71 Die Herz-und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium Von Ernst Derra, Düsseldorf Die Chirurgie des Herzens und seiner großen Gefäße wurde, verglichen mit der übrigen operativen Praxis, sehr verspätet aufgenommen, weil man jahrhundertelang an dem Glauben festhielt, jede Herzverwundung würde tödlich sein. Ungeachtet von immer wieder einmal auftauchenden gegen teiligen Meldungen, verharrte man in Resignation, bis am 9.9.1896 die entscheidende Handlung geschah: L. Rehn in Frankfurt a. M. vernähte 48 Stunden nach der Untat einen Herzstich mit vollem Erfolg. Damit hatte sich die Einsicht durchgesetzt, daß das Herz ernstliche Wunden unmittelbar überstehen kann, aber auch der chirurgische Zugriff seine Sanktionierung erlangt. Andere kühne Männer, die zum Teil über die traumatische Herz chirurgie hinaus sich auch an andere Herzleiden herangewagt haben, sind schnell als weitere Pioniere gefolgt. Dennoch muß man rückblickend sagen, daß der breite Einbruch in die dem chirurgischen Angriff hartnäckig wider stehende Festung "Menschenherz" erst den letzten 25-30 Jahren vorbe halten geblieben ist, die der vergangenen Generation unvorstellbar er scheinende Interventionen ermöglicht haben. Daß die Fortschritte in dieser Zeitperiode so stürmisch werden konnten, hat mehrere Gründe. Zu nennen sind neben den allgemein bedeutungsvoll gewordenen Hilfsmitteln in Form der infektionswidrigen, antibiotischen Therapie und der Schockbekämpfung (Blut-, Flüssigkeits- und Elektrolyt ersatz) die Einführung einer die Eingriffe weitgehend ihrer Gefahren beraubenden Narkosetechnik und die Verfeinerung der Diagnostik, d. h. der Erkennung der Fehlerart. Man hat gelernt, gefährliche Komplikationen, die allem zum Trotz im Zusammenhang mit der Operation einmal eintreten können, zu meistern. Bei einem ungewollten Herzstillstand etwa leistet in der Regel die sofort einsetzende Herzmassage Abhilfe, die darin besteht, daß die Hand des Arztes die Pumpbewegungen des Herzens so lange übernimmt, bis das Herz wieder schlägt. In der gleichen Ebene liegen neu erfundene Apparaturen, der Defibrillator und der sogenannte Schrittmacher, deren Wesen und Bedeutung Ihnen Herr Crosse-Brockhoff schildern wird. 8 Ernst Derra War man durch all diese Errungenschaften in die Lage gekommen, Gebrechen außerhalb des Herzens und in seiner Umgebung (Herzbeutel, herznahe Gefäße) zu beseitigen, sogar innerhalb des Organs unter Finger führung "geschlossene" Korrekturoperationen (in landläufiger 1ntubations narkose) vorzunehmen, blieb eine nicht unbeträchtliche Zahl von Herz fehlern über, deren Korrektur exakt nur am eröffneten und blutleeren Herzen unter Augensicht ("offene" Operationen) durchführbar ist. Das erfordert, daß das Herz aus dem Kreislauf zeitweilig durch Abdrosseln seiner großen Gefäße ausgeschaltet wird. Körperliche Organe, vor allem Gehirn, Rückenmark und Nieren pflegen aber bei normaler Körpertempe ratur auf eine über 4-5 Minuten gesperrte arterielle Blutzufuhr mit irreversiblen Veränderungen zu reagieren. Um solche Schäden zu vermeiden, hat man zwei Wege beschritten. Ausgehend von Beobachtungen beim Winterschlaf der Tiere, in dem bei niedriger Körpertemperatur Herzschlag und Atmungs zahl auf ein Minimum reduziert sind, ohne daß Sauerstoffmangelschäden entstehen, wurde, nachdem Grosse-Brockhoff, LutZ u. a. sich experimentell mit dem Thema beschäftigt hatten, auf Inauguration von Bigelow hin das Unterkühlungs- oder Hypothermieverfahren entwickelt, bei dem die Kör pertemperatur des zu Operierenden gewöhnlich auf 28-30°C herabgedrückt wird. Auf dem europäischen Kontinent hat die Düsseldorfer Chirurgische Klinik 1954 das Verfahren in die Herzchirurgie eingeführt und, wie ich glaube behaupten zu dürfen, operations- und narkosetechnisch bis zur Vollendung ausgebaut. Durch Einhüllung des Patienten in ein mit Eis gefülltes Badetuch wird zunächst die Körpertemperatur auf 33-34°C er niedrigt (Abb. 1). Dann wird die Unterkühlung fortgeführt mit einem von Eiswasser durchströmten Kühlanzug, der abschließend durch Umschaltung auf Warmwasser auch der Wiederaufwärmung dient (Abb.2). Die Be schränkung der Methode liegt darin, daß sich die Abriegelung des Herzens aus dem Kreislauf in einem Zug lediglich für 5-6 Minuten vertreten läßt. Man kann zwar die Herzausschaltung durch gewisse Maßnahmen auf die zwei- oder dreifache Zeit verlängern. Für die Behebung bestimmter Herz fehler reicht aber auch eine solche Zeitspanne nicht aus. Für derartige Fälle ist die sogenannte Herz-Lungenmaschine bestimmt. Sie übernimmt die Funktion von Herz und Lunge und vermag bei einer Ausschaltung des Herzens bis zu über einer Stunde Dauer die Körperperipherie mit sauer stoffreichem Blut zu versorgen. Der Amerikaner Gibbon, dem andere Kon strukteure in Amerika und Europa folgten, hat vor mehr als 25 Jahren angefangen, eine Maschine zum temporären Ersatz von Herz und Lunge zu Die Herz- und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium 9 Abb. 1: Hypothermieverfahren: Senkung der Körpertemperatur auf 33-34°C durch Einhüllung des Patienten in ein mit Eis gefülltes Badetuch. Abb. 2: Fortführen der Unterkühlung auf 28-30° C in einem von Eiswasser durch strömten Kühlschlangenanzug, der abschließend durch Umschaltung auf Warmwasser auch der Wiedererwärmung dient. 10 Ernst Derra entwickeln. Er war es auch, der 1953 erstmals mittels dieser extrakorporalen Zirkulation eine Herzoperation beim Menschen verwirklicht hat. Die Abbildung 3 zeigt eine Operation mit der Maschine, die links zu sehen ist. In Düsseldorf benützen wir sowohl das Hypothermieverfahren als auch die Herz-Lungenmaschine. Wir sehen in beiden Verfahren keine Konkurrenten, sondern Hilfsmittel mit verschiedenem Anwendungsbereich. Für spezielle Situationen hat sich übrigens die Kombination von Unterkühlung und extrakorporaler Zirkulation eingespielt. Meine Ausführungen lassen erkennen, daß die Herzchirurgie eine sehr komplexe Tätigkeit geworden ist. Sie ist die Summe eines Gemeinschafts werkes von Internisten, Paediatern, Röntgenologen, Chirurgen, Anaesthe sisten und Technikern. Sie ist zwar eine kostspielige Chirurgie. Aber sie lohnt sich, weil durch sie viele Menschen, die früher trotz aller internisti schen Kunst unheilbar gewesen sind, eine gehörige Lebenserwartung und eine adäquate Lebensmöglichkeit erhalten. Die Zahl herzkranker Personen, Abb. 3: Operation mittels der Herz-Lungenmaschine (Maschine links im Bild). Die Herz- und Herzgefäßchirurgie im derzeitigen Stadium 11 deren Leiden einer Operation zugänglich sind, ist groß. Da in Ermangelung einer diesbezüglichen Bevölkerungsstatistik genaue Daten nicht anzugeben sind, erwähne ich, daß meine Mitarbeiter und ich innerhalb der letzten 17 Jahre über 8100 (Stand vom 31. 7. 66) Herzoperationen ausgeführt haben. Qualitativ betrachtet, sind nur wenige Vitien übriggeblieben, für die es keine Operationsmöglichkeit gibt. Auch das Lebensalter hat nicht mehr ein überragendes Gewicht. Wenn auch, wie ich es mit Bircks zusammen an anderer Stelle berichtet habe, von Fehlern zu Fehlern Unterschiede zu berücksichtigen sind, sind die Eingriffe in der Mehrzahl von den Kinder jahren bis in das reife Alter hinein zumutbar geworden. Ihrer Entstehung nach sind die Herzfehler in zwei Kategorien einzuteilen, in die angeborenen und in die im Laufe des Lebens erworbenen. I. Angeborene Angio-kardiopathien Die Systematisierung der angeborenen Fehler basiert auf den Beziehungen der Fehler zum Blutkreislauf. Im Unterschied zur fast ausnahmslosen Regel bei erworbenen Herz- und Herzgefäßfehlern kreist das Blut bei den ange borenen nicht immer so zum und vom Herzen, wie es der Norm entspricht. Die Laune der Natur hat es sich vorbehalten, weitere Fehler dadurch zu setzen, daß durch krankhafte Kurzschlüsse im und am Herzen die Strö mungsrichtung des Blutes durch den Körper abgewandelt wird, sei es, daß das Blut, das nach der Passage des rechten Herzens und der Lungen schlak kenarm und sauerstoffreich eigentlich über das linke Herz in die Körper peripherie fließen müßte, von der linken Herzseite wieder zurückströmt in die rechte, sei es, daß es vor der Schlackenabgabe und Sauerstoffsättigung in der Lunge in das linke Herz übertritt mit dem Effekt einer Blausucht. Alles in allem sind z. Z. etwa 22 kongenitale Vitien, die typischen Krank heitsbildern entsprechen, kausal operabel, also wirklich heilbar. Sie sind in Tabelle 1 mit ihrer fachmännischen Bezeichnung angeführt. Durch die Kombination einzelner Fehler miteinander wächst die Zahl auf eine nicht anzugebende Größe. Daß es darüber hinaus Fehler gibt, die man durch behelfsmäßige Operationen lediglich zeitweise bessern kann, streife ich am Rande. Einige wenige Beispiele aus der großen Reihe, die zahlenmäßig im Vordergrund stehen, sollen einen Einblick geben. Bei der Besprechung der Untergruppe ohne Falschleitung des Blutes greife ich die Aortenisthmtlsstenose heraus, eine umschriebene Schrumpfung