Die groBen RegierungserkHirungen Klaus Sttiwe (Hrsg.) Die graBen Regierungserklarungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schroder Leske + B udrich, Opladen 2002 Wissenschaftliche Mitarbeit: Annika Rechmann Harald Schmidt Gedruckt auf siiurefreiem und altersbestiindigem Papier. Ein Titeldatensatz fUr diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhiiltlich ISBN 978-3-8100-3220-1 ISBN 978-3-322-93273-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93273-0 @ 2002 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschUtzt. Jede Verwendung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzuliissig und straf bar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfiiltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Leske + Budrich Inhalt Vorwort ..................................................................................................................... 7 Das Wort hat der Herr Bundeskanzler! Einleitung von Klaus Stuwe ......... .... ....... ....... ... ........... ... ......... ... ... ... ..... ..... ... ... .......... 9 Konrad Adenauer Kurzbiographie .......................................................................................................... 33 Regierungserkliirung vom 20. September 1949 .......................................................... 33 Regierungserklarung vom 20. Oktober 1953 .............................................................. 46 Regierungserklarung vom 29. Oktober 1957 .............................................................. 64 Regierungserklarung vom 29. November 1961 .......................................................... 78 Ludwig Erhard Kurzbiographie .. .... ... ... ......................... ..... ....... ..... ..... ..... ........... ... ... ..... ..... ...... ..... .... 95 Regierungserklarung vom 18. Oktober 1963 .............................................................. 95 Regierungserklarung vom 10. November 1965 .......................................................... 120 Kurt Georg Kiesinger Kurzbiographie .......................................................................................................... 147 Regierungserklarung vom 13. Dezember 1966 .......................................................... 147 6 In halt Willy Brandt Kurzbiographie 161 RegierungserkHirung vom 28. Oktober 1969 .............................................................. 161 RegierungserkHirung vom 18. Januar 1973 ................................................................ 180 Helmut Schmidt Kurzbiographie .......................................................................................................... 199 Regierungserklarung vom 17. Mai 1974 .................................................................... 201 Regierungserklarung vom 16. Dezember 1976 .......................................................... 217 Regierungserklarung vom 24. November 1980 .......................................................... 246 Helmut Kohl Kurzbiog raphie 269 Regierungserklarung vom 13. Oktober 1982 .............................................................. 269 Regierungserklarung vom 4. Mai 1983 ........................................... ........................... 288 Regierungserklarung vom 18. Marz 1987 .................................................................. 312 Regierungserklarung vom 30. Januar 1991 ................................................................ 339 Regierungserklarung vom 23. November 1994 .......................................................... 369 Gerhard Schroder Kurzbiographie .... ............. ....... .................................................................................. 385 Regierungserklarung vom 10. November 1998 .......................................................... 385 Vorwort Der vorliegende Band enthalt aile Regierungserklarungen zum Amtsantritt der deutschen Bundeskanzler von Konrad Adenauers erster Regierungserklarung yom 20. September 1949 bis hin zur Antrittsrede Gerhard SchrOders yom 10. November 1998. Die unge ktirzte Sammlung der Redetexte ermoglicht es, die programmatischen Schwerpunkte der Bundesregierungen seit 1949, ihre weltanschaulichen Positionen und auch den unter schiedlichen Sprachgebrauch der jeweiligen Bundeskanzler miteinander zu vergleichen. Zugleich vermitteln die Regierungserklarungen als historische Dokumente ein Bild von der ftinfzigjahrigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ein einleitender Aufsatz des Herausgebers informiert tiber den Entstehungsprozess, die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie tiber die wichtigsten Funktionen von Re gierungserklarungen. Die Redetexte sind mit kurzen Einftihrungen versehen, urn dem Leser ihre Einordnung in den unmittelbaren geschichtlichen Zusammenhang und den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontext zu erleichtem. Dazu gehoren ins besondere Angaben tiber die innen- und auBenpolitische Situation im Umfeld der Regie rungserklarung sowie Informationen tiber die vorausgegangenen Bundestagswahlen und die Regierungsbildung. Die Bundeskanzler werden in kurzen biographischen Skizzen vorgestellt. Der Abdruck der Regierungserklarungen folgt dem Wortlaut der Stenographischen Berichte des Deutschen Bundestags. Die genauen Fundstellen sind jeweils am Ende der Texte angegeben. Beifallsbekundungen, Zurufe aus dem Plenum sowie Reaktionen des Redners auf Zwischenrufe wurden nicht tibemommen. Mein besonderer Dank gilt Annika Rechmann und Harald Schmidt, die sorgfaltig und mit viel Sachkunde die Einleitungstexte der einzelnen Regierungserklarungen er stellt haben. Die Initialen AR bzw. HS am Ende der Texte verweisen auf den jeweiligen Bearbeiter. Harald Schmidt war bei der Recherche ftir die Kanzlerbiographien behilf Iich. Ohne das groBe Engagement der beiden Mitarbeiter, die gemeinsam mit dem Her ausgeber urn viele Formulierungen gerungen haben, hatte das Buchprojekt nicht in die ser Form verwirklicht werden konnen. Danken mochte ich auch Marianne Mayer, Christine Gamsreiter, Elisabeth Maier, Manfred Roppelt und Birgit Sttiwe ftir die zuverlassige Hilfe beim Scannen und Kor rekturlesen der Texte. Klaus Stiiwe Klaus Stiiwe Oas Wort hat der Herr Bundeskanzler! Es ist die Stunde des Regierungschefs. Zum ersten Mal nach seiner Wahl tritt der Bundes kanzler nach der Aufforderung durch den Parlamentsprlisidenten an das Rednerpult des Deutschen Bundestages. Der Plenarsaal ist bis auf den letzten Platz geftillt. Ehrengliste und Diplomaten sitzen feierlich auf der Galerie, zahllose Journalisten drlingen sieh auf den Pressestiihlen im Hintergrund. Das Femsehen ist mit mehreren Kamerateams vertreten, und Millionen von Zuschauem verfolgen das Ereignis live an ihren Bildschirmen oder in den Abendnachrichten: Der Bundeskanzler gibt seine erste Regierungserkiarung abo Kaum eine politische Rede des Kanzlers erringt mehr Aufmerksamkeit. Die Regie rungserkllirung ist die erste groBe politische Aktion der neu emannten Bundesregierung. Hier prlisentiert sieh der Bundeskanzler erstmals einem groBen Publikum, hier stellt er die Regierungsmannschaft vor und gibt die ktinftige Regierungspolitik bekannt. An Re gierungserkllirungen werden deshalb hohe Erwartungen gestellt. Die Offentlichkeit er wartet eine Analyse der derzeitigen innen- und auBenpolitischen Probleme und erhofft sich Antworten auf die drlingende Frage, wie diese Probleme zu lasen seien. Die Koali tionsparteien wtinschen sich eine Bekrliftigung der Gemeinsamkeiten des Regierungs btindnisses, und die Opposition lauert auf Anhaltspunkte ftiT die ktinftige politische Aus einandersetzung mit der Regierung. Die Regierungserkiarung wurde deshalb mit Recht als "Visitenkarte der Regierung'" bezeiehnet und ist zugleieh ein bedeutendes Instrument poli tischer Kommunikation. Als politisches Dokument vermittelt sie Einblicke in die Pro blemwahrnehmung und Prioritlitensetzung der Regierung und erlaubt Aussagen tiber den Ftihrungsstil des Regierungschefs. Als zeitgeschichtliehe Quelle zeiehnet sie - freilich aus der Perspektive des Redners - ein Bild tiber den Zustand der Republik ihrer Zeit. Von daher sind die groBen RegierungserkHirungen deutscher Bundeskanzler seit 1949 nieht nur ftir Kommunikationswissenschaftler und Historiker, sondern auch ftir den politisch Interessierten eine lohnende Lektiire. Vorher ist noch zu klliren, wie Regie rungserkllirungen entstehen, auf welchen rechtlichen Regelungen sie beruhen und wel che Funktionen sie haben. Dies soli im folgenden thematisiert werden.2 10 Einleitung von Klaus Stiiwe 1. Regierungserklarungen im internationalen Vergleich Programmatische ErkIarungen zum Amtsantritt der Regierung gibt es in irgendeiner Form wohl in den meisten Staaten der Welt. In GroBbritannien und anderen pari amenta risch-konstitutionellen Monarchien ist es die Thronrede des Monarchen vor dem Parla ment ein Aquivalene. Die Regierungschefs parlamentarischer Republiken, wie z.B. Osterreichs oder Italiens, geben selbst RegierungserkHirungen vor dem Parlament abo 1m prasidentiellen Regierungssystem der USA informiert der Prasident die Offentlichkeit zu Beginn seiner Amtszeit in der so genannten "inaugural address" tiber die Grundztige sei ner Politik. In diesen Landern gehoren Regierungserklarungen zu einer lange gepflegten Verfassungstradition. In Westeuropa gehen vor allem jtingere Verfassungen einen Schritt weiter und mes sen der Regierungserklarung durch eine verfassungsrechtliche Institutionalisierung ein noch groBeres Gewicht bei. So ermoglicht Art. 49 I der Verfassung der 5. Franzosischen Republik von 1958 dem Premierminister ausdrticklich, in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage tiber eine Regierungserklarung zu stellen. Ein ahnliches Recht raumt die spanische Verfassung von 1978 dem Ministerprasidenten ein, der nach Art. 112 im Kon gress fakultativ die Vertrauensfrage tiber sein Regierungsprogramm stellen kann. Die por tugiesische Verfassung von 1976 schreibt dem Premierminister sogar verbindlich vor, dass er innerhalb von langstens zehn Tagen nach seiner Ernennung dem Parlament eine Regie rungserklarung vorlegt4• In Finnland muss der Ministerprasident unmittelbar nach seiner Wahl durch das Parlament eine obligatorische Regierungserklarung abgeben'. Auch in den meisten neuen Demokratien Ost- und Ostmitteleuropas wurden Regie rungserklarungen verfassungsrechtlich institutionalisiert. So verlangt etwa die Verfas sung der Republik Polen von 1997, dass der Ministerprasident innerhalb von 14 Tagen nach seiner Ernennung dem Sejm sein Regierungsprogramm vorstellt. Dies muss mit ei ner Vertrauensfrage verbunden sein6. Eine fast identische Vorschrift enthalt die Verfas sung Litauens von 19927• Die Verfassung der Russischen Foderation von 1993, die von einer besonders starken Position des Prasidenten gekennzeichnet ist, ermoglicht dem Staatsoberhaupt, Botschaften tiber die Lage im Lande und tiber die Hauptrichtungen der Innen- und AuBenpolitik des Staates an die Bundesversammlung zu richten8• 1m Gegensatz dazu sind Regierungserklarungen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht expressis verbis normiert. Der Begriff der Regierungserklarung wird im Grundgesetz nicht einmal erwahnt. Art. 63 I GG bestimmt vielmehr, dass der Bun deskanzler auf Vorschlag des Bundesprasidenten ohne Aussprache gewahlt wird. Trotz dem bewegen sich Regierungserklarungen nicht im verfassungsfreien Raum: Die zen trale verfassungsrechtliche Grundlage von Regierungserklarungen ist, jedenfalls was de ren inhaltliche Dimension anbelangt, die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nach Art. 65 GG. Danach trifft der Kanzler die grundsatzlichen und richtungsweisenden Ent scheidungen tiber die Ftihrung der Regierungsgeschafte. Da der Bundeskanzler hierbei nicht auf eine bestimmte Form festgelegt ist, kann er die Richtlinien der Politik jederzeit auch im Wege einer Regierungserklarung bestimmen. Als formale parlamentsrechtliche Grundlage ftir Regierungserklarungen gilt das Zutritts- und Rederecht der Regierung nach Art. 43 II GG. Diese Regelung, die den Mitgliedern der Bundesregierung ein jeder zeitiges Anhorungsrecht vor dem Deutschen Bundestag einraumt, ist keine Erfindung des Grundgesetzes, sondern aus einer langen parlamentsgeschichtlichen Tradition hervor gegangen. Gerade im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutsch land besteht ein legitimes Bedtirfnis der Regierung nach Zutritt und Rede im Parlament. Die Regierungserkliirungen 11 Dies gilt nicht nur deshalb, weil dort die Regierungsmitglieder nicht unbedingt auch Bun destagsabgeordnete sein mussen, sondem vor allem, weil das Rederecht der Regierung eine unmittelbare Kommunikation zwischen Regierung und Parlament ermoglicht. 2. Wie entstehen Regierungserklarungen? Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung entspringt die Regierungserkliirung heute liingst nicht mehr der Feder des Bundeskanzlers allein. Sie ist vielmehr das Produkt ei nes ganzen Teams von Akteuren, das sich aus dem Bundeskanzler selbst, AngehOrigen der Regierungsadministration, Politikem der Koalitionsparteien, Vertrauten des Kanz lers, extemen Beratem aus Wissenschaft und Wirtschaft sowie professionellen Reden schreibem zusammensetzen kann. Die Initiative fiir die Regierungserkliirung geht meist vom Bundeskanzleramt aus. Zuniichst werden die einzelnen Ministerien aufgefordert, Material fur den Redeentwurf zu liefe m, wobei oft schon bestimmte Vorgaben gemacht werden. Jedes Ressort sam melt nun aus seinem Bereich Daten, Desiderate und Probleme, wiihlt aus diesem Materi al aus, erstellt Listen und liefert seinen Vorschlag an das Bundeskanzleramt. Dort werden die meist sehr urnfangreichen Meldungen unter Federfiihrung des Amtschefs gesichtet und gesammelt. In Koalitionsregierungen bilden dariiber hinaus die Koalitionsabsprachen bzw. der schriftliche Koalitionsvertrag eine wichtige konzeptionelle Grundlage. Sobald genugend Material vorliegt, wird mit der Erstellung der Rohfassung eines Redeentwurfs begonnen. Jeder Bundeskanzler hat fiir die Erarbeitung der Regierungser kliirung seinen eigenen Stil entwickelt. Willy Brandt etwa zog sich in die Abgeschieden heit zuruck. So fuhr er 1969 fur vier Tage in den kleinen Kurort Bad Munstereifel, urn Ruhe vor dem geschiiftigen Bonn zu haben. Dort versammelte er auf einem komforta bien Landsitz ein kleines Autorenteam, das mit ihm das Koalitionspapier zu einer Regie rungserkliirung umformte. Seine zweite Regierungserkliirung entwarf Brandt 1973 wiih rend eines gemeinsamen Urlaubs mit dem Vorsitzenden des Koalitionspartners FOP, Wal ter Scheel, auf der kanarischen Insel Fuerteventura. Die Regierungserklarungen Helmut Schmidts entstanden unter intensiver Mitarbeit des Kanzlers im so genannten ,,Kleeblatt", seinem engsten Beraterkreis, der sich aus dem Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jurgen Wischnewski, Regierungssprecher Klaus Bolling und Staatssekretiir Man fred Schuler zusammensetzte. Demgegenuber uberlieS Helmut Kohl die Konzeption seiner Regierungserkliirungen weitgehend einer Gruppe von Beratem und Redenschreibem aus seinem loyalen politi schen Umfeld. 1983 wirkten zeitweise bis zu zwOlfPersonen an der Erarbeitung des Re deentwurfes mit. Kohls Anteil am Entstehungsprozess steckte dabei weniger im pro grammatischen Detail als vielmehr in der Art, wie er die Redeplanung gestaltete. In der Vorentscheidung flir den Ablauf und die personelle Zusammensetzung der Redebespre chung druckte sich indirekt der Grundtenor der Rede aus: "Die atmosphiirische Einfuh rung in die Lagebeurteilung und die Vorgaben des Fragensets durch Kohl waren der Steinbruch, aus dem die Redenschreiber ihre Elemente herausbrechen konnten,,9. Hiiufig wirkten exteme Ratgeber an der Konzeption von Regierungserkliirungen mit. So ubemahm z.B. Ludwig Erhard den Begriff der "formierten Gesellschaft" auf den Rat des Publizisten Rudiger Altmann in die Regierungserklarung von 1965. Der Schriftsteller Gunter Grass schickte 1969 aus Jugoslawien Formulierungshilfen flir Willy Brandt. Der 12 Einleitung von Klaus Stiiwe berlihmt gewordene Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" wird allgemein dem Bestseller-Autor zugeschrieben. Aber auch konkrete programmatische Vorschlage wie die Idee einer "Kulturstiftung des deutschen Volkes" brachte Grass in den Redeentwurf ein'o. Kohl setzte 1982 auf den Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld, den Publizi sten Johannes Gross, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen sowie den Historiker Michael Sturmer. Da flir die Erarbeitung der Regierungserkllirung nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfligung steht, arbeiten Kanzler, Redenschreiber und Berater meist mit Hochdruck daran, aus der Flille moglicher Themen zu selektieren und Prioritaten zu setzen. Der Text soil die Handschrift des Kanzlers tragen und zugleich die Werte und politischen Ziele der gesamten Bundesregierung widerspiegeln. Auch die Erwartungen des Wahl yolks sollen in den Redeentwurf einflieBen; so lieB die Redenschreiber-Mannschaft Kohls im Jahr 1982 zentrale Satze und Begriffe yom Allensbacher Institut fUr Demosko pie auf ihre Offentlichkeitswirksamkeit hin testen" . Und nicht zuletzt ist dem Text eine griffige, Offentlichkeitswirksame sprachliche Form zu geben. 1st der Kanzler mit dem fertigen Entwurf einverstanden, erhalten in der Regel die fUh renden Politiker der Koalitionsfraktionen und -parteien eine Kopie zur Stellungnahme. Zuletzt wird der Redeentwurf dem Kabinett vorgestellt. Hier haben die Minister die Mog lichkeit, Erganzungs-oder Anderungswlinsche zu auBem. Dabei konnen sowohl Positionen der Ressorts, als auch programmatische Vorstellungen der Koalitionspartner zur Sprache kommen. Durch eine geschickte Regie haben freilich einige Kanzler mogliche Widerstlinde von Seiten der Minister auf ein Minimum reduziert. Adenauer informierte 1957 das Kabi nett erst am Vorabend der Regierungserklarung in einer nicht einmal eineinhalbstUndigen Sitzung, wobei er den Redetext erst gegen Ende des Treffens schriftlich verteilte12• Kohl verband 1983 das Ganze mit einem Abendessen, bei dem die Minister wahrend der Me nlifolge nur zwischen den Gangen kurze Blicke in den vierzigseitigen Redetext werfen konntenl3• Am Vorabend oder am Morgen des Tages, an dem der Bundeskanzler die Regie rungserklarung im Bundestag verliest, erhlilt schlieBlich, einer lange praktizierten parla mentarischen Tradition folgend, der Oppositionsflihrer eine Kopie des Redetextes. 3. Funktionen An Regierungserklarungen werden hohe Erwartungen gestellt. ,,Regierungserklarungen werden hierzulande wie Evangelien angeklindigt, und das Publikum wird darauf einge stimmt, den Propheten eines neuen Zeitalters zu horen,,14, schreibt der Kommentator der Sliddeutschen Zeitung. Die Wissenschaft erwartet "politische Vorgaben fUr ziel- und er gebnisorientiertes Verwaltungshandeln" und formuliert "ideale Anforderungen"'S . In der Tat ist die Regierungserklarung deutscher Bundeskanzler multifunktional. Mag sie in der Frlihphase parlamentarischer Regierungsformen vorwiegend als programmatische Ab sichtserklarung des ersten Ministers im Parlament aus Anlass des Eintritts in sein offentli ches Amt fungiert haben, so hat sich im Laufe der Entwicklung des parlamentarischen Systems, mit dem Bedeutungszuwachs politi scher Parteien, unter dem Eindruck von Koalitionsregierungen und vor allem aufgrund der betrachtlichen VergroBerung des Adressatenkreises im Medienzeitalter ein erheblicher Funktionszuwachs ergeben. Die Regierungserklarung ist zu einem Instrument der Kommunikation mit der Offentiichkeit, der Integration, der Motivation und der politischen Fiihrung geworden.