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Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne: Zweites Bruno Snell-Symposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg PDF

220 Pages·2006·8.639 MB·German
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Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 224 Κ · G · Saur München · Leipzig Die griechische Tragödie und ihre Aktualisierung in der Moderne Zweites Bruno Snell-Symposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg Herausgegeben von Gerhard Lohse und Solveig Malatrait K G· Saur München · Leipzig 2006 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 by Κ. G. SaurVerlag GmbH, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza ISBN 13:978-3-598-77836-0 ISBN 10:3-598-77836-8 Verzeichnis der Beiträge Einleitung 7 Bernard van Wickevoort Crommelin Die Rolle des Theaters im politischen Leben Athens 13 Klaus Rühl Traditionen und Neuerungen der klassizistischen französischen Tragödie im 18. Jahrhundert - Zur Situierung von Crebillon pere (1674-1762) und seiner Tragödie Atree et Thjeste 45 Günter Dammann Christian Felix Weiße, Atreus und Thyest (1766) - die Aktualisierung Senecas im Trauerspiel der deutschen Aufklärung 67 Heinz Hillmann Sind Götter entbehrlich? - Zu den Iphigenien von Euripides und Goethe 101 Solveig Malatrait „On ne sait jamais pourquoi on meurt" - Jean Anouilhs Antigone und die Desakralisierung des Mythos 123 Gerhard Lohse Zwei Antigone-Auffuhrungen des Jahres 1940 in Berlin und Wien 151 Martin Schierbaum „Die Welt ist ein Schlachthaus" - Arminius und die Endspiele des Humanismus am Beispiel von Heinrich von Kleists Hermannsschlacht und Heiner Müllers Germania Tod in Berlin 187 Einleitung von Gerhard Lohse und Solveig Malatrait Aus frühen Ansätzen zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich eine Aus- einandersetzung mit der Antike, die - nachdem die zunächst behauptete ästhetische Vorbildlichkeit antiker Kunstwerke in Frankreich schon im Zuge der Querelle des Anäens et des Modernes in Zweifel gezogen wurde - gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine Diskus- sion um Phänomene der Differenz und der Identität einmündet und anthropologische, geschichtsphilosophische wie politische Fragen glei- chermaßen erfasst, Fragen, die in unterschiedlicher Akzentuierung und Intensität, zunehmend auch mit schwindender Kenntnis ihres Ur- sprungs, bis heute diskutiert werden. Die griechische Tragödie ist stets Teil dieses Diskurses gewesen. In ihr erscheinen die Götter nicht länger als externe Garanten einer gegebe- nen Weltordnung mit festen Rollenverläufen, sondern wirken unmittel- bar im Tun und Denken der problembeladenen Handelnden,' sind also in den Prozess der Selbstreflexion einbezogen. In ihrer Auseinanderset- zung mit dem Mythos verweigert die Tragödie die Hinnahme einer Welt der vorgegebenen Schicksalszusammenhänge und dokumentiert die Um- lastung des Schicksalbegriffs auf das Subjekt. Dieses hat die Synthese einer antinomisch zerklüfteten Welt zunehmend selbst zu leisten. Vorge- geben ist das Problem bereits durch weltanschauliche Differenzen im frühgriechischen Epos. Während in der Ilias die Distanz zwischen Göt- tern und Menschen unüberbrückbar bleibt und jeder Versuch der Annä- herung an die Götterwelt als Unheil provozierende Hybris gilt, ist es in der Odyssee Zeus selbst, der den Menschen die Teilhabe am Recht zuer- kennt und die Gerechten schützt. Diese Auffassung führt über Hesiod und Solon zur athenischen Demokratie, sie bestimmt das Weltbild der griechischen Klassik. Die griechische Tragödie steht im Spannungsfeld der beiden Sichtweisen.2 1 „(The Greek gods] acted not from outside but from inside mortal minds", schreibt Hugh Lloyd-Jones, The Justice of Zeus. Sather Classical Lectures (vol. 41), Berkeley UP 1971, S. 148. 2 Am deutlichsten wird dies bei Euripides, vgl. Kjeld Matthiessen, Euripides und sein Jahrhundert (Zetemata 119), München: Beck 2004, S. 77-79. 8 Gerhard Lohse und Solveig Malatrait Wenn unter den antiken Genera die Tragödie besonders häufig mo- derne Aktualisierungen provoziert hat, hängt dies auch mit der großen Anziehungskraft ihrer Mythen auf Kunst und Wissenschaft zusammen. Dabei spielt sicherlich der dem Mythos immer schon inhärente Wieder- holungscharakter eine Rolle, der bei weitgehender Wahrung des vom Mythos vorgegebenen Handlungsgerüstes neue Ponderierungen frei- stellt.3 Doch sind die Leser späterer Epochen weniger von der mythi- schen Erzählung als solcher fasziniert, der eigentliche Impuls zur Aneig- nung des Fremden geht von der eigentümlichen, in der offenen Gesell- schaft Athens wurzelnden Form der Tragödie aus. Geprägt von der Dia- lektik eines aufklärerischen Denkens entwerfen die Tragödien Reflexi- onsmodelle individuellen und kollektiven Selbstverständnisses und stel- len damit die besondere Applikations fähigkeit der Tragödie erst her. Die von Aristoteles beschriebene affektive Identifizierung des Thea- terpublikums mit dem Bühnengeschehen wandelt sich zur Faszination der Lesenden, eine Faszination, die über das Ergriffenwerden im Eige- nen zum reflektierten Aufgreifen des Fremden fuhrt. Eine Aktualisierung der Tragödie wird die antike Problemdiskussion nur unter Wahrung ei- ner doppelten Analogie in die Moderne übertragen können. Es ist offen- bar die besondere Belastbarkeit des tragischen Reflexionsmodells, die es dem modernen Subjekt ermöglicht, im Ungleichzeitigen das Gleichzeiti- ge zu denken, vorgegebene Selbstdeutungsmuster der Moderne im Schutze der antiken Autorität und zugleich gegen sie gewandt überprü- fen zu können. Die besondere Aktualität der Tragödie hängt zweifellos auch damit zusammen, dass das dramatische Genus der Kategorie der Handlung zuzuordnen ist, wie Bruno Snell hervorgehoben hat,4 und folglich in engem Bezug zum jeweiligen gesellschaftlich-politischen Rahmen steht, dort möglicherweise auch jene bereits von Piaton ge- fürchtete subversive Kraft entfaltet. Die Diskussionen um die modernen Aktualisierungen der griechischen Tragödie, die im Zentrum unseres zweiten Bruno Snell-Symposiums am 3 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und in der Literatur der Gegenwart", in Henry Thorau; Hartmut Köhler (Hrsg.), Insze- nierte Antike - Die Antike, Frankreich und wir. Neue Beiträge ^ur Antikenre^eption in der Ge- genwart, Frankfurt/M.: Lang 2000, S. 7-20. 4 Bruno Snell, Oer Aufbau der Sprache, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21952, S. 183. Vgl. Aktualisierung von Antike und Epochenbewusstsein, hrsg. v. Gerhard Lohse, München; Leipzig: Saur, 2003, Einleitung, S. 30. Einleitung 9 1. und 2. November 2002 standen, haben gezeigt, dass gerade der Zeit- bezug der antiken Tragödie, zusammen mit der Notwendigkeit, die Ak- tualisierung an den jeweiligen modernen soziokulturellen Nonnen auszu- richten, den modernen Autor mit einer Reihe von Problemen konfron- tiert, Widerständen, die in den Beiträgen dieses Bandes zur Diskussion stehen. Zu solchen Widerständen gehört zunächst auf der Ebene des Indivi- duums das Konzept des Tragischen selbst, wie es sich in den Tragödien und bei Aristoteles manifestiert, das sich dann in der Diskussion um tragische Schuld und Katharsis in den modernen Bearbeitungen zeigt.5 Vor ein weiteres Problem stellt den Bearbeiter der religiöse Hinter- grund, der im alten Mythos .durchscheint'. Ob die Götter der attischen Tragödie übernommen, transformiert, ersetzt oder auch getilgt werden — eine Auseinandersetzung mit ihrer Rolle in der Tragödie und für die Tra- gödie kann der Bearbeiter ebenso wenig vermeiden wie die Auseinander- setzung mit der Funktion des Chors. Dies verweist auf einen dritten Widerstand, der eng verknüpft sein kann mit dem Rezeptionsmodus des Theaters. Im Gegensatz zu voraus- eilenden Theoriekonzeptionen war und ist das Theater auf die unmittel- bare Kommunikation mit seinem Publikum angewiesen und insofern immer auch Ort und zugleich Gradmesser der öffentlichen Meinung. Bernard van Wickevoort Crommelin rekonstruiert im Keynote-Vor- trag aus der Perspektive der Historiographie, die er zudem um einen ausfuhrlichen Forschungsüberblick bereichert, die religiösen, politischen und materiellen Bedingungen und die Evolution des griechischen Thea- ters im antiken Athen. Er verbindet eine Analyse der schon in der Antike in Vergessenheit geratenen religiösen Wurzeln des Theaters mit der Un- tersuchung seiner politischen Bedeutung. Dabei erweist sich die Bedeu- tung dieser Institution für den Staat als dreifache Verortung im (physi- schen) Ort des Theaters als funktionalem Platz für die Bürgerversamm- 5 So spricht Kurt v. Fritz, Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen, Berlin: de Gruyter, 1962, S. 1-113 („Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit"), den moder- nen Aktualisierungen (mit Ausnahme von Shakespeares Ham&t) mit Hinweis auf die antike Definition der αμαρτία, die eben keine tragische Schuld, sondern eher eine tragische Situation (tragic flaw) bezeichne, die tragische Wirkung überhaupt ab, zumal die antike Tragödie poetische Gerechtigkeit ausschließe. Vgl. dagegen die Definition der tragischen Schuld bei Wolfgang Schadewald, „Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes", in: Hermes 83 (1955), S. 129-71. 10 Gerhard Lohse und Solveig Malatrait lung, dann als Ort der nationalen Organisation der Polis sowie drittens als Ort auf einer Meta-Ebene, der Raum gibt für Reflektion und Kritik, Selbstinszenierung und Selbstfindung. In der Rezeption des Theaters gerät die kultische Dimension ebenso wie die politische aus dem Blickfeld, so dass die theoretische Diskussion seit der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik in der Renaissance um wirkungsästhetische Fragen kreist, die allerdings zumeist anhand der lateinischen Tragödie des Seneca diskutiert werden. Diesen Fragen wen- den sich in einem Sprung über mehr als 2000 Jahre zwei Beiträge zu, die sich dem ästhetischen Aspekt anhand zweier Aktualisierungen desselben Stücks widmen: Es geht um Aktualisierungen von Senecas Thyestes im 18. Jahrhundert. Klaus Rühl unternimmt es, Crebillon pere anhand seiner Tragödie Atree und Thjeste im französischen Theater der Zeit zu situieren. Dies erfolgt in Hinblick auf die Frage der Erneuerungsbestrebungen des The- aters, wie sie sich in der (allerdings auch inhaltlich freieren) Komödie manifestieren. Doch nicht einmal ästhetisch-stilistisch erweist Crebillon sich als wirklich innovativ: Seine betonte Grausamkeit, eine regelrechte Mechanik des Grauens, weist auf das vorklassische Verständnis der aristote- lischen Poetik zurück, nach dem die Größe des Schreckens die karthati- sche Wirkung garantiert. Anstatt vorauszuweisen, so muss man konsta- tieren, ist Crebillons Theater ästhetisch wie ideologisch so stark rück- wärtsgerichtet, dass man eher noch von einem barocken als von einem klassischen Theater sprechen muss. Günter Dammann fragt in einem genauen Literaturvergleich nach der produktiven Rezeption von Senecas Thyestes-Tragödie durch Chris- tian Felix Weiße, und findet dabei erstaunliche Parallelen: Die Selbstan- reizung des Atreus zum Furor wird bei Weiße die zum Bösen; das Tragi- sche definiert Weiße als vertane Chance zum moralisch Guten, wenn er auch die Korruption der empfindsamen jungen Generation, nämlich des Aegisth, in den Vordergrund stellt — schon hier erweist sich auch in der Betrachtung des literarischen Umfeldes die Modernität des Autors. Dieser gibt dem Tragischen zudem eine neue Wirkungsabsicht: Die Darstellung des Bösen soll gerade abschrecken, eben indem die Verstrickung eines unschuldigen jugendlichen Opfers in das Böse vorgeführt wird. Trotz der Religionskritik der Aufklärung, die sich schon zu Crebillons Zeiten manifestiert, stellt der antike transzendente Hintergrund der Tra- gödie, ihr Götterapparat, ein nicht zu unterschätzendes Problem für den neuzeitlichen Bearbeiter dar, das sich zumeist in einem undeutlichen

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