Eugen Biser DIE GLAUBENS- GESCHICHTLICHE WENDE Eine theologische Positionsbestimmung Verlag Styria CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Biser, Eugen: Die glaubensgeschichtliche Wende: e. theol. Positionsbestimmung / Eugen Biser. - Graz; Wien; Köln: Verlag Styria, 1986. ISBN 3-222-11721-7 C) 1986 Verlag Styria Graz Wien Köln Alle Rechte Vorbehalten Printed in Austria Umschlaggestaltung; Zembsch’Werkstatt, München Gesamtherstellung: Druck- und Verlagshaus Styria, Graz ISBN 3-222-11721-7 Im Gedenken an meinen Vorgänger auf dem Münchener Lehrstuhl für Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie KARL RAHNER Zum Umschlagbild: Düem sturmgepeitschten Gefährt der Glaubenden wird nicht durch Bremsmanöver, umso mehr jedoch durch zusätzliche Antriebe zu helfen sein. Sofern von der Idee der Glaubenswende ein derartiger Anstoß ausgeht, ist sie ganz dazu angetan, das schlingernde Boot wieder auf Kurs zu bringen. (Aus dem Vorwort) Inhalt Vorwort............................................................................................. 9 I. VORZEICHEN 1. Die Fragestellung .................................................................... 13 2. Der Sinndruck ......................................................................... 19 3. Der Faktendruck .................................................................... 23 4. Der Leidensdruck .................................................................... 31 5. Paradigmen und Anstöße......................................................... 40 II. DIAGNOSE 1. Kann man glauben lernen?...................................................... 45 2. Die totale Medienwelt ................................................................. 57 3. Die Krise der Fortschrittsidee ................................................. 65 4. Die utopisch-anachronistische Zeit ........................................... 75 5. Das utopisch-antiquierte Wesen ............................................... 80 III. SYMPTOME 1. Religiöse Spurensuche .............................................................. 88 2. Epochale Gottsuche ................................................................ 93 3. Der universale Nachhall ........................................................ 102 4. Identität und Innerlichkeit ............................ 111 5. Die Sinnsuche............................................................................. 119 IV. HEMMNISSE 1. Mit dem Rücken zur Zukunft .............................................. 124 2. Das Problemfeld der Angst ................................................... 131 3. Der Erfahrungs- und Realitätsverlust ................................. 145 4. Eine Klimaverschlechterung? ................................................. 153 5. Die Winter-Diagnose................................................................ 164 7 V. PERSPEKTIVEN 1. Die Glaubenswende................................................................... 171 2. Vom Wissens- zum Erfahrungsglauben ............................... 177 3. Vom Satz- zum Vertrauensglauben ....................................... 185 4. Vom Gehorsams- zum Verstehensglauben .......................... 193 5. Die »Krypta« des Glaubens ................................................... 199 VI. PROZESSE 1. Theologie im Stadium der Selbstkorrektur.......................... 209 2. Die Einholung der Sozialdimension .................................... 217 3. Die Einholung des Ästhetischen ............................................ 222 4. Soll Glaube heilen? ................................................................... 242 5. Das Zentralereignis ................................................................... 254 VII. PROGNOSEN 1. Die prospektiven Modelle ...................................................... 267 2. Am Wendepunkt des Säkularisierungsprozesses? ............. 275 3. Das mystische Stadium ........................................................... 282 4. Die Konturen des Kommenden ............................................ 290 5. Identität im Umbruch .............................................................. 295 Schlußwort....................................................................................... 302 Anmerkungen.................................................................................. 304 Namenregister ................................................................................ 341 Sachregister ..................................................................................... 346 8 Vorwort Ist es in einer von Verunsicherungen und Ängsten heimgesuchten Zeit sinnvoll, von einer >Glaubenswende< zu sprechen, gar noch darauf zu hoffen? Sollte sich der Glaube unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht im Gegensinn dazu als der unerschütterliche Fels im unruhigen Strom des Zeitgeschehens erweisen? Und sollte er deshalb nicht auch in seiner Selbstauslegung vor allen Dingen auf seine Konstanten hin durchsichtig gemacht und so, gerade auch im öffentlichen Disput, als das stabilisierende Element von Kirche und Gesellschaft herausgestellt werden? Steht somit das Wort von der >Glaubenswende< nicht auf fatale Weise zu dem quer, was nach Ansicht vieler um den Fortbestand des religiösen Elements in der heutigen Gesellschaft besorgter Zeitgenossen das vordringlichste Glaubensinteresse ausmacht? Doch kaum hat man diese Fragen gestellt, so wird ihnen auch schon durch die unvermeidliche Erinnerung an die Stellung Jesu zu ihnen der Wind aus den Segeln genommen. Denn Jesus tritt mit dem Programm der großen Geistes- und Glaubenswende an, auch wenn das »Metanoeite«, das nach Ausweis der Evangelien zum Grundbe- stand seiner Reich-Gottes-Verkündigung gehört, in Übersetzung und Auslegung zu einem »Bußruf« abgeschwächt und damit seiner Dynamik beraubt wurde. Demgegenüber klingt sein Wort im Originalton nicht nur radikaler, sondern vor allem auch bewegter und bewegender: Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes nahgekommen; kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft! (Mk 1,15)1 Wie ein Durchblick durch die christliche Glaubens- und Theolo- giegeschichte lehrt, haben sich so gut wie alle, die als Beweger und Initiatoren in die Chronik dieser Geschichte eingingen, auf diesen »Originalton« eingestimmt. Ob theoretisch, also mit ihren Beiträgen zur tieferen Erfassung der Glaubensgeheimnisse, oder praktisch, also mit ihren Anstößen zu radikaler Verwirklichung der Botschaft Jesu, oder spirituell, also mit ihrer Anregung zu tieferem Eindringen in seinen Geist, redeten sie jeweils einer »Umkehr« und damit einer Glaubenswende das Wort. Und in einer überraschend großen 9 Anzahl von Fällen stand ihnen dabei das Wort als Hebel und Hilfe zu Gebot. Man denke nur an die Prägekraft solch programmati- scher Wendungen wie des augustinischen »Deus et anima«, des anselmischen »Credo, ut intelligam«, des reformatorischen »Sola fides« oder des ignatianischen »Omnia ad maiorem Dei gloriam«. In all diesen Fällen gelang es ihren Schöpfern, das, was ihnen als Zielbild vorschwebte, auf eine gleicherweise einleuchtende und suggestive Formel zu bringen. Auch darin standen sie in engster Übereinkunft mit dem, der sein Lebensprogramm auf denkbar einfache und mitreißende Weise ausgesprochen hatte, als er von der andringenden Nähe des Gottesreiches (Mk 1,15; Lk 17,20), von der über Gerechten und Sündern aufscheinenden Gottessonne (Mt 5,45) sprach und sich in der johanneischen Widerspiegelung seiner Botschaft das »Brot des Lebens« (Joh 6,35.48) und das »Licht der Welt« (Joh 8,12; 9,5) nannte. In diesem Zusammenhang wird man sich grundsätzlich fragen müssen, wie in Lebensprozessen, zu denen doch auch der Glaube gehört, überhaupt Kontinuität erreicht wird. Offensichtlich nicht durch Tendenzen zur Verfestigung, sondern durch Akte organischer Fortgestaltung. Das eine, die Verfestigung, würde zu einem gefährlichen, wenn nicht gar tödlichen Erstarrungs- zustand führen, während nur das andere, die Fortgestaltung, das Überleben garantiert. Demgemäß wird auch dem - nach verbreite- tem Gefühl - sturmgepeitschten Gefährt der Glaubenden nicht etwa durch Bremsmanöver, um so mehr jedoch durch zusätzliche An- triebe zu helfen sein. Sofern von der Idee der Glaubenswende ein derartiger Anstoß ausgeht, ist sie ganz dazu angetan, das schlin- gernde Boot wieder auf Kurs zu bringen. Aber sind die Zeitverhältnisse inzwischen nicht so komplex geworden, daß kaum noch eine Aussicht darauf besteht, die davon mitbetroffene Sache des Glaubens auf den Nenner einer einfachen Formel zu bringen? Geriete eine derartige Formel nicht sogar in den Verdacht, die bestehenden Verhältnisse und die sich damit auferle- gende Aufgabe auf unzulässige Weise zu vereinfachen? Um dieser Gefahr von vornherein zu entgehen, unternehmen die folgenden Überlegungen gar nicht erst den Versuch, eine programmatische Formel vorzuschlagen; statt dessen begnügen sie sich damit, eine Frage aufzuwerfen. Es ist die Frage, die sich angesichts des herrschenden Antagonismus, der sich von der Theologie her des religiösen Bewußtseins zusehends bemächtigt, geradezu aufdrängt: Stehen wir vor einer glaubensgeschichtlichen Wende? Bekanntlich nannte Heidegger das Fragen die »Frömmigkeit des Denkens«.2 Ohne daß dem widersprochen werden soll, geht die an die gestellte Frage geknüpfte Erwartung doch eher in die Gegenrichtung. Sie möchte in den komplexen, bisweilen geradezu verworrenen Verhält- 10 nissen heutiger Frömmigkeit jene Klärung herbeiführen, die seiner ganzen Natur nach das Denken bewirkt. So gesehen zielt die aufgeworfene Frage - wie eine Sonde - auf jenes Zentrum, in welchem die scheinbar widerstreitenden Tendenzen letztlich doch zusammenlaufen, so daß sie von dorther in einen verstehbaren Zusammenhang treten. Wenn es dazu käme, wenn also im angeziel- ten Sinngrund des heutigen Glaubensbewußtseins etwas Versteh- bares zum Vorschein käme, hätte die Frage am Ende doch dieselbe strukturierende Wirkung, wie sie von den großen Programmworten, die den Glauben der jeweiligen Stunde ebenso durchlichteten wie bewegten, ausging. Ob es gelingt, kann freilich erst die Durchfüh- rung lehren; doch ist der Sinndruck, der schon von der Frage ausgeht, zu groß, als daß der Versuch der Durchführung unterblei- ben dürfte. 11 I. Vorzeichen 1. Die Fragestellung Wie die tägliche Erfahrung lehrt, gehört es zur Tragik des Men- schen, daß er sich nur zu oft weder der Gefahren noch der Vergünstigungen bewußt ist, unter denen sich sein Leben abspielt. Im ersten Fall läuft er ahnungslos in sein Unglück hinein, im zweiten bräuchte er nur zuzugreifen, um sein Glück zu machen. So aber ergeht es ihm wie dem bedauernswerten Mann vom Lande in Franz Kafkas Erzählung >Vor dem Gesetz<, der sein ganzes Leben vor dem geheimnisvollen Tor zum Gesetz zubringt, das er, einge- schüchtert durch die schreckenerregende Gestalt des Türhüters, nicht zu durchschreiten wagt, obwohl ihm aus seinem Inneren immer helleres Licht entgegendringt. Als er sich schließlich, schon vom Tod gezeichnet, doch noch zu der Frage aufrafft, warum denn während der ganzen Zeit kein anderer außer ihm Einlaß verlangte, schreit ihm der Türhüter in das schon ertaubte Ohr: Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.1 Nichts Schlimmeres könnte dem heutigen Christen widerfahren als dieses Mißgeschick. Doch bei der derzeit herrschenden Be- wußtseinslage, die allgemein auf einen depressiven Grundton ge- stimmt ist, liegt kaum eine Gefahr so nah wie die einer defätistischen Einschätzung der bestehenden Situation und der durch sie freige- setzten Möglichkeiten. Zwar verhindert die deutlich unter den Pegelstand des Normalgefühls gesenkte Stimmungslage den Aus- bruch von Animositäten und Aggressionen; doch lähmt sie gleich- zeitig auch die Entwicklung kreativer Initiativen und Energien und, schlimmer noch, die emotionale Selbstaneignung des Menschen. Bedenklichstes Indiz dieser Reduktion ist aber zweifellos jene Blickverengung, die die augenblickliche Erfassung der sich bieten- den Chancen verhindert. Großräumig betrifft das auch den Gang der kirchengeschichtlichen Entwicklung während der Nachkriegs- zeit, die sich bei allem Großen, das sie zeitigte, zugleich als eine Geschichte verpaßter Chancen darstellt. Sie betrafen vor allem die 13