Olaf Leiße (Hrsg.) Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon Olaf Leiße (Hrsg.) Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn e der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16072-6 Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Olaf Leiße 90 Wandel durch Annäherung: Zur Steuerung der Reformpolitik in der Europäischen Union 9 I. Reformpolitik in der Europäischen Union Joachim Schild Pariser Pragmatismus – Französische EU-Vertragsreformpolitik von Amsterdam bis Lissabon 23 Bernhard Stahl Strategische und zivilisatorische Erweiterungen und die Folgen für die europäische Integration 42 Jürgen Meyer Braucht die Europäische Union eine Verfassung? 60 Klaus Hänsch Perspektiven der europäischen Integration 69 II. Die Reform der institutionellen Ordnung Torsten Oppelland Institutionelle Neuordnung und Demokratisierung 79 Jo Leinen Das Europäische Parlament und der Vertrag von Lissabon 97 Christoph Knill und Jale Tosun Steuerung und Regulierung in der neuen EU 114 Helmut Wagner Wer regiert die Europäische Union? Die Originalität der Europäischen Union 133 6 Inhaltsverzeichnis III. Die Reform einzelner Politikfelder Martin Borowsky Die Grundrechtecharta als normatives Fundament der Europäischen Union 147 Antonius Liedhegener und Daniel Gerstenhauer Auf dem Weg zu einem kooperativen Verhältnis Religion und die Vertiefung der Europäischen Union 160 Christiane Dienel und Sabine Overkämping Der Vertrag von Lissabon und die europäische Sozialpolitik 176 Siegmar Schmidt Fortschritte und neue Herausforderungen in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik 195 Stefan Haack Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Vertrag von Lissabon – Rhetorik oder Integrationsschub? 220 Peter Becker Auf dem Weg zu einer neuen Finanzverfassung – Vom Verfassungskonvent zum Vertrag von Lissabon 234 IV. Die Europäische Union im nationalen und internationalen Kontext Otto Schmuck Die deutschen Länder und der europäische Reformprozess 255 Henrik Scheller Zur Europäisierung des deutschen Föderalismus – zwischen Synchronisierung und Strukturbruch? 269 Julia Galaski und Markus Kaim Die Europäische Union als Militärmacht 291 Stefan Fröhlich Zwischen den USA, Russland und anderen regionalen Vormächten: Zur Rolle der EU in der Welt 309 Ernst Piehl Europäische Nachbarschaftspolitik – Genesis, Bestandsaufnahme und Perspektiven 333 Inhaltsverzeichnis 7 Almut Möller Die Entstehungsgeschichte und Strukturen der Mittelmeerunion: Gradmesser für europäische Debatten zur Nachbarschafts-, Mittelmeer- und Nahostpolitik 371 Björn Uhrig Chronik der Konstitutionalisierung Europas – Fortschritte und Rückschläge 382 Autorenverzeichnis 391 Wandel durch Annäherung 9 Olaf Leiße Wandel durch Annäherung: Zur Steuerung der Reformpolitik in der Europäischen Union Wandel durch Annäherung 1 Die Dialektik der europäischen Integration Reform und Krise – kaum ein anderes Begriffspaar erscheint geeigneter, um den Fortgang der europäischen Integration im 21. Jahrhundert prägnant zu beschreiben. Die Europäische Union ist ein Kind der Krise, sie entstand in der Krise des Nationalstaates nach dem Zwei- ten Weltkrieg, ihre entscheidenden Weiterentwicklungen erfolgten in tief greifenden Kri- sen, die Reform der Europäischen Union in diesem zu Ende gehenden Jahrzehnt ist ein krisenhafter Prozess und die Herausforderungen der kommenden Dekade lassen erahnen, dass die Union auch zukünftig tiefe Krisenmomente erleben wird. Trotzdem, und dies ist das Unglaubliche an der europäischen Integration, geht der Reformprozess weiter. Der folgende kursorische Überblick über die europäische Integration zeigt, dass Stagnationen und Entwicklungsschübe nicht nur in regelmäßiger Folge einander abwechselten, sondern dass jeder Weiterentwicklung eine lange Phase des Stillstands voranging. Bereits die Gründung der Europäischen Gemeinschaft erfolgte in einer Zeit der Krise. Ohne den Zweiten Weltkrieg und die Desavouierung des Nationalstaatsprinzips wäre wohl der Integrationsprozess kaum in Gang gekommen. Zwar gab es politische Integrationsbe- mühungen bereits in der Zwischenkriegszeit und Zukunftspläne zur Integration Europas wurden auch von den Widerstandsgruppen während der deutschen Expansion entworfen, aber nachhaltigen Erfolg hatten die Befürworter einer europäischen Einigung erst nach dem Zweiten Weltkrieg, der tief greifende Spuren nicht nur im „Sichtbaren“, in der Zerstörung der Infrastruktur Deutschlands und Europas, sondern auch im „Unsichtbaren“, in der Ver- änderung der tradierten Auffassungen von Souveränität, Nationalstaatlichkeit und nationa- ler Autarkie, hinterließ. Die Zerstörungen der materiellen Welt und der Welt der Ideen bedingten einander; im Furor des Zweiten Weltkriegs wurde das alte Europa endgültig vernichtet, aber mit ihm auch die überkommenen Auffassungen von der absoluten Souve- ränität und dem Gleichgewicht der Staaten und Mächte. Dies war die Stunde von Politikern und Bürgern, die später als Idealisten bezeichnet wurden – Menschen, die glaubten, der Nationalstaat sei Ursache für die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und eine Wieder- holung eines weiteren, noch viel grausameren Krieges, sei nur durch die Einhegung der Nationalstaaten zu gewährleisten. Die Föderalisten setzten sich für die Schaffung einer demokratischen Förderation ein, an die von den Nationalstaaten weitgehende wirtschaftli- che, politische und militärische Souvernänitätsrechte übertragen wird. Neben die dialekti- sche Entwicklung von Reform und Krise tritt ein weiterer Gegensatz: Idee und Wirklich- keit, Idealismus und Realismus sind eng miteinander verflochten und bedingen einander. Die europäische Integration konnte nur deshalb an Fahrt gewinnen, weil idealistische Strö- 10 Olaf Leiße mungen an Bedeutung gewannen, was wiederum auf die Krise des nationalstaatlichen Den- kens im Gefolge des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen ist. Und wie die äußere Welt den Integrationsprozess an seinem Beginn beeinflusste, so lenkte sie auch die spätere Entwick- lung. Das Binnenmarktprogramm der Europäischen Kommission aus den 1980er Jahren, das wesentlich zur Integration beitrug, ist letztlich auf die Stagnation der Wirtschaft in dieser Dekade zurückzuführen. Später führten die Magnetwirkung des Westens und die interne Misswirtschaft zum Untergang des sowjetischen Imperiums, und die freigelassenen Staaten Mittel- und Osteuropas suchten Anschluss an die Europäische Union, was diese unter beträchtlichen Reformdruck setzte. So lässt sich feststellen, dass die politischen und materiellen Umstände wesentlich zum Erfolg der Europäischen Union beigetragen haben. Ohne außen kein innen, ohne die Veränderung der politischen Landschaft in Europa keine Integration. Der Einigungsprozess wurde nicht um seiner selbst willen geführt, sondern hatte immer auch materielle und realpolitische Ursachen und Ziele. Doch zurück zum Beginn der Integration, denn noch ein weiterer Gegensatz stand bei der Geburt der Europäischen Gemeinschaft Pate. Der Aufstieg der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg zur Supermacht und die Absonderung Osteuropas waren zweifellos wesentliche Impulse zur Einigung im Westen. Ohne Osteuropa kein Westeuropa, so könnte man diese Entwicklung zuspitzen. Der beginnende Kalte Krieg und die Spaltung Europas, die Aufrüstung der Supermächte und die gegenseitige Bedrohung, die nachhaltige Margina- lisierung der alten europäischen Mächte – dies alles führte dazu, dass die Staaten Westeu- ropas bereit waren, neue Wege der staatlichen Zusammenarbeit auszuprobieren. Das „west- fälische System“ wurde nicht (allein) deshalb abgeschwächt, weil sich neue idealistische Vorstellungen durchgesetzt haben, sondern (auch) weil die Realpolitik zu Experimenten zwang. Der Vorschlag zur Errichtung einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl, den der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 präsentierte und der als Gründungsdokument der europäischen Integration gilt, war getragen vom christlichen Ge- danken der Aussöhnung und des Neubeginns, aber dass er erfolgreich lanciert werden konnte, verdankt er der veränderten politischen Konstellation zu Beginn der 1950er Jahre. Frankreich sah sich durch den Kalten Krieg und der Bedeutungszunahme der USA in in- nereuropäischen Angelegenheiten zunehmend isoliert und in seiner Rolle als (eine) westli- che Führungsmacht marginalisiert. Zudem konnte es seine bisherige Politik gegenüber Deutschland – zerschlagen, zerstückeln, ausbeuten, niederhalten – angesichts der veränder- ten Realitäten in Europa nicht mehr fortsetzen. So war der Plan auch eine Vorwärtsvertei- digung Frankreichs, die in Deutschland wiederum dankbar aufgegriffen wurde. Die zukünf- tige europäische Gemeinschaft sollte nicht nur die darniederliegende Wirtschaft ankurbeln, sondern Westdeutschland auch zurück in den Kreis der westlichen Staaten führen. West- deutschland versuchte, Souveränität durch partiellen Souveränitätsverzicht zu erlangen. Europa hat, so könnte man rückblickend formulieren, Deutschland seine anerkannte Staat- lichkeit zurückgegeben. Die USA unterstützten den Plan, denn ein wirtschaftlicher Auf- schwung der alten Industriestaaten Europas erschloss neue Absatzmärkte und schuf ein politisches Bollwerk gegen die erstarkende Sowjetunion. Auf diese Weise beförderte Ost- europa die Integration Westeuropas, doch für die Satellitenstaaten begann eine Phase der Isolierung und letztendlich Stagnation. Nach dem Überschwang an Reformen in den 1950er Jahren, der Gründung der Euro- päischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951), der Europäischen Wirtschaftsgemein- schaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (beide 1957), trat die Integration in eine Wandel durch Annäherung 11 ruhigere Phase ein. Dennoch gab es immer wieder Reformvorschläge. Die vom französi- schen Staatspräsidenten de Gaulle 1961 und 1962 präsentierten Fouchet-Pläne sahen eine Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit gerade auch im Bereich der Außen- politik vor. Diese Pläne fanden keine Mehrheit unter den übrigen fünf Mitgliedstaaten. Der Davignon-Bericht aus dem Jahr 1970 regte ebenfalls einen informellen Informationsaus- tausch und Konsultationen im Bereich der Außenpolitik an. Auf dieser Grundlage entstand die Europäische Politische Zusammenarbeit. Die Staats- und Regierungschefs beauftragten im Dezember 1974 den belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans, Vorschläge für eine Weiterentwicklung der Gemeinschaft zu einer Europäischen Union auszuarbeiten. Der darauf entstandene Tindemans-Bericht formulierte sowohl ideelle Leitbilder als auch kon- krete Handlungsempfehlungen für eine vertiefte Integration. Dazu gehörten die Direktwahl des Europäischen Parlaments, die Europäisierung weiterer Politikbereiche, die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer gemeinsamen Außenpolitik. Der umfas- sende Bericht blieb zunächst ohne politische Folgen, stattdessen stagnierte, nicht zuletzt aufgrund der beginnenden Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, die europäische Integration. Die Wirtschaft in Europa durchlebte eine bis dahin nicht gekannte Schwächephase. Als Antwort darauf schotteten die Mitgliedstaaten ihre nationalen Märkte wieder ab und kämpf- ten um die Reduzierung ihrer Beiträge zur Europäischen Gemeinschaft. Auch der Integrati- onsprozess geriet dabei in eine Sackgasse, die berüchtigte „Eurosklerose“, wobei es zu- nehmend fraglich schien, ob und wie die Einigung voranschreiten könnte. Doch zugleich mit der Krise stieg der Reformdruck in der Gemeinschaft, der sich in den 1980er Jahren in einer Serie von Reformvorschlägen entlud. Zu nennen sind hier die Genscher-Colombo-Initiative 1981, der Entwurf des Europäischen Parlaments für eine europäische Verfassung von 1984, aus dem gleichen Jahr der Adonnino-Ausschuss mit seinen Vorschlägen für ein „Europa der Bürger“ und der Dooge-Ausschuss für den wirt- schaftlichen Ausbau der Gemeinschaft. Von besonderer Bedeutung wurden das Binnen- marktprogramm des Kommissionspräsidenten Jacques Delors und die Einheitliche Europäi- sche Akte von 1986. Der Cecchini-Bericht listete detailliert auf, welche wirtschaftlichen Vorteile sich für die Mitgliedstaaten bei einer Umsetzung des Binnenmarkts ergäben. Bis zum Jahr 1992 wurden konkrete Maßnahmen eingeleitet, um das ehrgeizige Ziel eines eu- ropäischen Binnenmarktes zu erreichen. Somit ging die wirtschaftliche Integration in eine neue Phase, zunächst ohne die politischen Bereiche in gleicher Weise zu vergemeinschaf- ten. Die Bereitschaft, auch den politischen Integrationsprozess voranzutreiben, nahm erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 konkrete Gestalt an. Doch dafür musste es erst eine Umwälzung von welthistorischer Bedeutung geben: Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Fall der Berliner Mauer. Die Herausforderungen, vor die sich das westliche Europa recht überraschend gestellt sah, waren hochkomplex. Erstens lösten sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die militärischen und ökonomischen Bündnissysteme in Osteuropa, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und der Warschauer Pakt, allmählich auf. Mit dem Ende des Kalten Krie- ges kamen politische und militärische Unsicherheit zurück nach Europa. Zweitens zog sich mit dem Ende des sowjetischen Imperiums die einstige Supermacht aus dem von ihr be- herrschten Raum zurück und die ehemaligen Satellitenstaaten wurden in Freiheit und Un- abhängigkeit entlassen. Schon bald wurde deutlich, dass sich die Länder Mittel- und Osteu- ropas möglichst rasch in die westlichen Bündnisse und Organisationen integrieren wollten, fürchteten sie doch eine plötzliche ideologische Kehrwendung in Moskau und damit eine 12 Olaf Leiße Rückkehr der Sowjets. Die Staaten Mittel- und Osteuropas übten daher maximalen Druck auf Nato, Europarat und die Europäische Gemeinschaft aus, die vormals rein westlichen Bündnisse auszudehnen. Drittens führte die Implosion Jugoslawiens zu den langwierigsten, grausamsten und verlustreichsten Kriegshandlungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Zu Beginn der Sezession waren die europäischen Staaten über den Umgang mit der Jugoslawien-Krise zutiefst zerstritten. Der Verlauf der Balkankriege machte die Unfähig- keit der EU-Staaten augenfällig, eine angemessene Antwort in Form einer kohärenten Au- ßen- und Sicherheitspolitik zu formulieren. Ohne das politische und militärische Eingreifen der USA hätte eine ausschließlich europäische Lösung sicher mehr Zeit – und mehr Men- schenleben – gekostet. Das veränderte europapolitische Umfeld erwies sich zu Beginn der 1990er Jahre als weiterer Integrationsschub. Es ist müßig zu überlegen, ob die Integration ohne diese gewandelte außenpolitische Situation nach Abschluss des Binnenmarktprojekts wieder stagniert wäre, aber nahe liegend ist diese Annahme schon. So aber wurden die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa zum Auslöser für eine Revolution im europäischen Integrationsprozess. Der Vertrag von Maastricht war der ganz große Wurf in der neueren politischen Einigung. Ohne Osteuropa, so könnte man im Anschluss an die frühere Feststel- lung anknüpfen, gäbe es kein vertieftes Westeuropa. Zugleich zeichnete sich auch der Fahrplan für die kommenden Jahre ab. Die Wiedervereinigung Europas unter dem Dach der Europäischen Union. Doch zunächst gönnte sich die Union eine ruhigere Phase. Nach einer längeren Regie- rungskonferenz und zwischenstaatlichen Verhandlungen wurde im Juni 1997 der Vertrag von Amsterdam abgeschlossen. Dieser Vertrag war jedoch kein Maastricht vergleichbarer Meilenstein, sondern nur der kleinste gemeinsame Nenner zur Korrektur der Verträge. Die Weiterentwicklung erfolgte im Rahmen einer erneuten Regierungskonferenz, die im De- zember 2000 mit dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs und der Verabschie- dung des Vertrags von Nizza abgeschlossen wurde. Trotz der großen Herausforderung, die Europäische Union nach der bevorstehenden Osterweiterung handlungsfähig zu erhalten, war auch der Vertrag von Nizza kein zufrieden stellendes Ergebnis. Viele sprachen gar von einem gescheiterten Gipfel. Der immense Aufwand, der im Vorfeld im Rahmen der Regie- rungskonferenz und auf dem Gipfel von Nizza selbst getrieben wurde, stand in keinem vertretbaren Verhältnis zu seinen Ergebnissen. In Europa traten Input und Output der inter- gouvernementalen Verhandlungen zunehmend auseinander, so dass sich die Auffassung durchsetzte, es könnte sinnvoll sein, auch andere Methoden einzusetzen. Die Methode der Regierungskonferenz und des intergouvernementalen Aushandelns neuer Verträge jeden- falls schien sich nach den unbefriedigenden Resultaten in Amsterdam und Nizza erschöpft zu haben. Die europäische Integration befand sich zur Jahrhundertwende wieder einmal in der Krise. Doch eine Reform wurde immer dringender. Mit der Aufnahme von Verhand- lungen mit 12 Staaten in Ostmitteleuropa sowie Malta und Zypern gab es nunmehr ein neues Gegensatzpaar, das in einem engen Wechselverhältnis zueinander stand: Vertiefung und Erweiterung. Die Krise der intergouvernementalen Methode und die immer drängendere Frage, wie Vertiefung und Erweiterung in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden könnten, wurden zum neuen Reformschub für die neuere europäische Integration. Diesmal ging die Initiative vor allem von den Mitgliedstaaten aus. Den Auftakt in der nun folgenden langen Reihe politischer Reden zur europäischen Integration machte im Januar 2000 der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors, als er in mehreren Artikeln im „Figaro“ und „Le