Markus Gabriel Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie B VERLAG KARL ALBER Markus Gabriel – Die Erkenntnis der Welt Eine Einführung in die Erkenntnistheorie A VERLAG KARL ALBER Die Grundfrage der Erkenntnistheorie lautet: »Was ist Erkenntnis?« Diese Frage erlangt ihr Profil nur dadurch, daß wir befürchten, Er- kenntnis könne unmöglich oder erschreckend begrenzt sein. In seiner EinführungindieErkenntnistheoriestelltMarkusGabrieleineEinbet- tungderProblemedesSkeptizismussowiederGrenzenderErkenntnis ineinereigenenTheorievor.Dabeigehtesnichtnurumdieeinführen- de Darstellung von offensichtlichen Grundbegriffen der Erkenntnis- theorie wie »Erkenntnis«, »Gründe«, »Rechtfertigung«, sondern auch um die Frage,wie Erkenntnis bzw.Wissensich überhaupt in der Welt ereignet.Erkenntnis undWissensansprüche gehören zueiner sozialen Umwelt, die ihrerseits zur Welt insgesamt gehört. Vor dem Hinter- grund dieser Einbettung von Erkenntnis in das Weltganze geht es um dasVerhältnisvonErkenntnisundWelt.DennjedeWelterkenntnisist aucheinEreignisinderWelt.EntsprechendkannmanErkenntnistheo- rie auch gar nicht völlig außerhalb des Kontextes anderer philosophi- scherFragestellungenbetreiben.Themenausderneuzeitlichenundge- genwärtigen Theorie der Intentionalität und der Ontologie werden dementsprechend ebenfalls zu Rate gezogen, um die Frage, was Er- kenntnisist,ineinemgrößerenZusammenhangzuerörtern.DennEr- kenntnisistebensowenigvomRestderWeltisoliertwieirgendeinean- dere Tatsache oder irgendein anderes Ereignis. Erkenntnis steht der Weltnichtgegenüber,sondernfindetsichinihrvor. DerAutor: MarkusGabrielistnachStationeninNewYork(NYU;NewSchoolfor Social Research) und Heidelberg (Promotion 2005, Habilitation 2008) seit2009InhaberdesLehrstuhlsfürErkenntnistheorie,Philosophieder NeuzeitundderGegenwartanderUniversität Bonn.Zuletzt vonihm erschienenimVerlagKarlAlber:»AndenGrenzenderErkenntnistheo- rie.DienotwendigeEndlichkeitdesobjektivenWissensalsLektiondes Skeptizismus«(2008). Markus Gabriel Die Erkenntnis – der Welt Eine Einführung in die Erkenntnistheorie Verlag Karl Alber Freiburg/München 4.Auflage2013 ©VERLAGKARLALBER inderVerlagHerderGmbH,FreiburgimBreisgau2012 AlleRechtevorbehalten www.verlag-alber.de Satz,PDF-E-BookundUmschlaggestaltung:SatzWeiseGmbH,Trier Covermotiv:RenéMagritte:Laconditionhumaine,1933, NationalGallery,London,©VGBild-Kunst,Bonn2012 ISBN(Buch)978-3-495-48522-4 ISBN(PDF-E-Book)978-3-495-86103-5 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Kapitel:AufbauundMethodologie . . . . . . . . . . . . . 21 1. Analytischevs.synthetischeMethode . . . . . . . . . . . 21 2. DasScheiternderkriteriellenDefinitionvon»Wissen« . . 38 2.1. PlatonsEinwandgegendieStandardanalyse . . . . . 45 2.1.1. Sokrates’Traum . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.1.2. DreiBedeutungenvon»Logos« . . . . . . . . . 55 2.2. GettierundderEinsatzderanalytischen Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.3. DieInkonsistenzdesanalytischenWissensbegriffs (StephenSchiffer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.4. Wissenistunanalysierbar(TimothyWilliamson) . . . 85 3. EngerundweiterKontextualismus . . . . . . . . . . . . 94 3.1. DerengeKontextualismus . . . . . . . . . . . . . . 100 3.1.1. Rechtfertigungskontextualismus . . . . . . . . 100 3.1.2. DersemantischeKontextualismus . . . . . . . . 108 3.2. DerweiteKontextualismus . . . . . . . . . . . . . . 117 3.2.1. PragmatischeundhistorischeVoraussetzungen– MichaelWilliamsundWittgenstein . . . . . . . 123 3.2.2. HegelundHeidegger . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Kapitel:FormendesSkeptizismus . . . . . . . . . . . . . . 157 1. DerCartesischeSkeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . 162 1.1. DiedreiSchrittedesCartesischenSkeptizismus . . . . 162 1.2. DasAußenweltproblem . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. DerKantischeSkeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2.1. DasInnenweltproblem . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2.2. Regelskeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5 Inhalt 3. DerPyrrhonischeSkeptizismus:Endlichkeitund KontingenzderTheoriebildung . . . . . . . . . . . . . . 210 III. Kapitel:DieWeltderBezugnahme . . . . . . . . . . . . . 225 1. DieformaleGegenstandstheorie . . . . . . . . . . . . . . 237 2. MetaphysikderIntentionalität . . . . . . . . . . . . . . 244 2.1. CartesischeIntentionalität . . . . . . . . . . . . . . 250 2.2. KantischeIntentionalität . . . . . . . . . . . . . . . 254 2.3. AnalytischeundsynthetischeEinheit– HegelscheIntentionalität . . . . . . . . . . . . . . . 280 2.3.1. DerGrundgedankevonKantstranszendentaler DeduktionderreinenVerstandesbegriffe . . . . 282 2.3.2. VonKantzuHegel:Sellars,McDowell,Brandom. 295 3. DissensundGegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 IV. Kapitel:BegrifflicheRelativitätundGrenzenderErkenntnis . 329 1. BegrifflicheundontologischeRelativität . . . . . . . . . . 329 2. DieUnvollständigkeitderGründe– EingeneralisiertesParadoxon . . . . . . . . . . . . . . . 344 3. GrenzenderErkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 3.1. CartesischeGrenzenderErkenntnis . . . . . . . . . 356 3.2. KantischeGrenzenderErkenntnis . . . . . . . . . . 363 4. DieUnvollständigkeitderWelt . . . . . . . . . . . . . . 370 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 6 Einleitung Wenn man Physik studiert, weiß man in etwa, was einen erwartet, da man bereits relativ klar umgrenzte Vorstellungen des Gegenstands- bereichsderPhysikmitsichbringt.Sogehtesinsgesamtumraumzeit- lich ausgedehnte Gegenstände und die Gesetze ihrer Veränderung. Es geht um Materie, Energie, Quasare, Gravitation, Elektromagnetismus, starkeKernkraftusw.StudiertmanZoologie,gehtesumTiere,undin der Germanistik ist deutsche Literatur und Kultur zu erwarten, wäh- rend die Soziologie die Gesellschaft aus verschiedenen methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet. Analog scheint es sich mit der Philosophie zu verhalten: In der Naturphilosophie geht es um dieNatur,inderWissenschaftstheorieumdieWissenschaft,inderPhi- losophiedesGeistesumdenGeist,inderEthikumdasGutesowiedie GlückseligkeitundinderErkenntnistheorieebenumErkenntnis. Doch der Philosophie ist eigentümlich, daß sie sich nicht einfach nurmitGegenständenbeschäftigt,dieeinembestimmten,eingegrenz- tenGegenstandsbereichangehören.BeigenaueremHinsehenzeigtsich ziemlich schnell, daß philosophische Autoren ein oftmals weit ausein- anderklaffendes Verständnis ihrer Disziplin oder Teildisziplin haben, wasdieVermutungnahelegt,daßsiesichnurscheinbarmitdemselben Gegenstand beschäftigen. Es ist nicht ohne weiteres klar, ob etwa Im- manuel Kant auch nur ansatzweise dasselbe unter »Erkenntnis« oder »Natur«verstandwiePlaton,GeorgWilhelmFriedrichHegel,Willard vanOrmanQuineoderCrispinWright–Denker,aufdiewirallenoch zu sprechen kommen werden. Isaac Newton und Albert Einstein hin- gegensprachenüberdenselbenGegenstandsbereichunddieselbenGe- genstände, kamen dabei aber zu teilweise verschiedenen Ergebnissen ebenso wie Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellen- dorffsichüberdenselbenGegenstand,diegriechischeTragödie,stritten. AusdiesemGrundbeginnenEinführungenindiePhilosophieund ihre Teildisziplinen zu Recht meist mit einer Erläuterung der grund- 7 Einleitung legenden Begriffe, mit denen sie sich überhaupt erst einen Gegen- standsbereicherschließenwollen.WerineinephilosophischeDisziplin eingeführtwerdenmöchte,suchtnacheinerOrientierung.Denninder PhilosophieuntersuchtmanGegenständeimmernurimLichtdesUm- stands,daßmangeradenichtsorechtweiß,womitmaneseigentlichzu tun hat. Wie Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Unter- suchungen einmal festgestellt hat: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹.«1 Wenn wir Erkenntnistheorie betreiben,wollenwirherausfinden,wasErkenntniseigentlichist,d.h., wir wissen noch gar nicht so recht, mit welchem Gegenstand wir uns beschäftigen. Die philosophische Frage, was Erkenntnis ist, schließt immerauchdieFragemitein,was»Erkenntnis«bedeutet,jasogardie Frage,obesüberhauptErkenntnisgibt,d.h.ob»Erkenntnis«überhaupt etwasbedeutet. Die vorliegende Einführung will einen Überblick über eine mög- liche Topographie einiger Grundprobleme der Erkenntnistheorie er- schließen. Da es meine philosophische Überzeugung ist, daß wir als Philosophen nicht einfach voraussetzen können, jedermann wisse schon,wasErkenntnisist,sodaßwirunsnuneinigenDetailproblemen widmen können, die mit diesem Gegenstand einhergehen, halte ich es für unmöglich, anders als philosophierend in die Philosophie oder in irgendeine ihrer Teildisziplinen einzuführen. Zwar ist es eine inzwi- schen weitverbreitete Unsitte, daß über alles und jedes Handbücher undsaubergegliederteEinführungenverfaßtwerden,diedenEindruck erwecken,diePhilosophieseinunendlichdochsoetwaswieMathema- tikoderPhysik.DamitwirdabereinfalscherEindruckerweckt.Esgibt kein Verständnis philosophischer Probleme und der Strategien ihrer Lösung,dassichineinermehroderwenigerleichtüberschaubarenEin- teilung in Positionen und für und gegen sie sprechender Argumente darstellenläßt.Warumdiessoist,istdabeiwiederumeinephilosophi- scheFrage,mitdersichu.a.dieErkenntnistheoriebefaßt. Den skizzierten Umstand gilt es insbesondere in der Erkenntnis- theorie zu bedenken und niemals aus dem Blick zu verlieren. Denn in der Erkenntnistheorie beschäftigen wir uns nicht nur mit Erkenntnis 1 PU, §123. Wittgensteins Schriften werden zitiert nach: Wittgenstein,L.: Werkaus- gabe.FrankfurtamMain1984,(PU=PhilosophischeUntersuchungen,TLP=Tractatus logico-philosophicus,ÜG=ÜberGewißheit,BGM=BemerkungenüberdieGrundlagen derMathematik).DerSiglefolgtdiejeweiligeAbschnittsangabe. 8 Einleitung undanderenGrundbegriffen,dieindiesenUmkreisgehören,wieWis- sen,Rechtfertigung,Gründe,ÜberzeugungenundWahrheit.Wirwol- len schließlich wissen, was Erkenntnis ist. Die Erkenntnistheorie be- ansprucht damit, selbst Erkenntnis zu sein, nämlich in derFormeiner Erkenntnis der Erkenntnis. In der Erkenntnistheorie untersuchen wir dasjenige, worin Erkennen besteht; und diese Untersuchung versucht selbst etwas zu erkennen, Gründe anzugeben, sich mit Argumenten gegenmögliche Alternativenzuverteidigen, umaufdiese WeiseWis- senzuerwerben.DieVollzugsformderErkenntnistheorieistdaherRe- flexion.2UnterReflexionversteheichganzallgemeindasNachdenken über Gedanken. Zu erkennen, worin Erkenntnis besteht, oder bean- spruchen zu wissen, was Wissen ist, sind Reflexionsleistungen. Wenn wir philosophisch reflektieren, beschäftigen wir uns im allgemeinen nichtmehrohneweiteresmiteinemGegenstand,sondernmitunserer EinstellungzudiesemGegenstand,d.h.mitderArtundWeise,wiewir denGegenstanderkennen.InderErkenntnistheoriebedeutetdies,daß wirzunächstnichtmehrgeradezueinenGegenstand,z.B.einenblauen Würfel, erkennen, sondern daß wir uns fragen, welche Vorgänge und Begriffeinvolviertsind,wennwireinenblauenWürfelerkennenoder etwasüberihnzuwissenbeanspruchen. Man kann dies auch so angehen, daß man Bedingungen von Er- kenntnis zu identifizieren sucht, die erfüllt sein müssen, wenn wir et- was erkennen – die aber, wie es Bedingungen eigentümlich ist, auch nichterfülltseinkönnten.WennwirBedingungenentdeckenoderpo- stulieren,unterstellenwir,daßsieerfülltodernichterfülltseinkönnen. NotwendigerfüllteBedingungen,d.h.Bedingungen,dieausprinzipiel- len Gründen immer schon erfüllt sind, hätten wenig oder gar keinen WertfürdieErklärungvonErkenntnisoderirgendeinessonstigenGe- genstandes. ImZugedieserEinführungwirdsichherausstellen,inwiefernder UmstandeinebesondereReichweitehat,daßwirbedenkenmüssen,daß Erkenntnis und ihre Bedingungen ebenfalls zu unseren Gegenständen werden können, die wir in der Erkenntnistheorie zu erkennen ver- suchen. Sie sind freilich solche Gegenstände, die nur durch Reflexion 2 Die fettgedruckten Ausdrücke werden terminologisch verwendet und präzisiert. Es handeltsichumzentraleBausteinederhiervorgestelltenTheorie.SiewerdenimGlossar teilsmiteinerDefinition,teilsmiteinerErläuterungaufgeführt,sodaßmansicheinen ÜberblicküberdieindieserEinführungverwendeteTerminologieverschaffenkann. 9
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