V&R © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 Bruno Snell Die Entdeckung des Geistes Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen 9. Auflage Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-25731-9 © 2009, 1975 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vor herigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: ® Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 Inhalt Einführung 7 I Die Auffassung des Menschen bei Homer 13 II Der Glaube an die olympischen Götter 30 III Die Welt der Götter bei Hesiod 45 IV Das Erwachen der Persönlichkeit in der frühgriechischen Lyrik . . 56 V Pindars Hymnos auf Zeus 82 VI Mythos und Wirklichkeit in der griechischen Tragödie 95 VII Aristophanes und die Ästhetik 111 VIII Menschliches und göttliches Wissen 127 IX Zur Entstehung des geschichtlichen Bewußtseins 139 X Mahnung zur Tugend. Ein kurzes Kapitel aus der griechischen Ethik 151 XI Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie. Der Weg vom mythi schen zum logischen Denken 178 XII Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Griechischen 205 XIII Das Symbol des Weges 219 XIV Die Entdeckung der Menschlichkeit und unsere Stellung zu den Griechen 231 XV Über das Spielerische bei Kallimachos 244 XVI Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft 257 XVII Theorie und Praxis 275 XVIII Nachwort 1974 283 ANHANG Anmerkungen 293 Indices 324 I Namen und Begriffe 324 II Zitate 329 III Griechische Wörter 333 © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 Einführung Unser europäisches Denken hebt an bei den Griechen, seitdem gilt es als die ein zige Form des Denkens überhaupt. Zweifellos ist diese griechische Form des Denkens für uns Europäer verbindlich, und wenn wir damit Philosophie und Wissenschaft treiben, so löst es sich von allen geschichtlichen Bedingtheiten und zielt auf das Unbedingte und Beständige, auf die Wahrheit, ja, es zielt nicht nur darauf, sondern erreicht es auch, Beständiges, Unbedingtes und Wahres zu be greifen. Und doch ist dieses Denken geschichtlich geworden, geworden sogar im echteren Sinne des Wortes, als man gemeinhin glaubt. Da wir dieses Den ken als verbindlich zu nehmen gewohnt sind, deuten wir es naiv und selbst verständlich auch hinein in andersartiges Denken. So sehr auch das wachsende geschichtliche Verständnis seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die rationalistische Vorstellung von einem sich ewig gleichen „Geist" überwunden hat, so verschließt man sich immer noch dem Verständnis der Entstehung des griechischen Denkens dadurch, daß man die Zeugnisse des frühen Griechen tums zu sehr an unseren modernen Vorstellungen mißt. Zumal da Ilias und Odyssee, die am Anfang alles Griechischen stehen, unmittelbar zu uns sprechen und uns stark anrühren, übersehen wir leicht, wie grundverschieden von dem uns Gewohnten bei Homer alles ist. Um in der Entwicklung des frühen Griechentums den Prozeß zu verfolgen, der das europäische Denken heraufführt, muß man das „Anheben" des Denkens bei den Griechen radikal verstehen: die Griechen haben nicht nur mit Hilfe eines schon vorweg gegebenen Denkens nur neue Gegenstände (etwa Wissen schaft und Philosophie) gewonnen und alte Methoden (etwa ein logisches Ver fahren) erweitert, sondern haben, was wir Denken nennen, erst geschaffen: der menschliche Geist als tätiger, suchender, forschender Geist ist von ihnen ent deckt; eine neue Selbstauffassung des Menschen liegt dem zugrunde. Dieser Pro zeß, die Entdeckung des Geistes, liegt uns in der Geschichte der griechischen Dichtung und Philosophie von Homer an vor Augen; die Dichtungen des Epos, der Lyrik, des Dramas, die Versuche, die Natur und das Wesen des Menschen rational zu begreifen, sind die Etappen auf diesem Wege. Das Entdecken des Geistes ist ein anderes, als wenn wir sagen, Kolumbus habe Amerika „entdeckt": Amerika existierte auch vor der Entdeckung, der europä ische Geist aber ist erst geworden, indem er entdeckt wurde; er existiert im Be wußtsein des Menschen von sich selbst. Trotzdem gebrauchen wir das Wort „entdecken" hier zu Recht. Der Geist wird nicht nur „erfunden", wie der Mensch sich ein Werkzeug zur Verbesserung seiner körperlichen Organe oder eine Methode erfindet, um bestimmten Problemen beizukommen. Er ist nichts, © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 8 Einführung das willkürlich ausgedacht wäre oder das man ausgestalten könnte, wie man Er findungen ihrem Zweck besser anpaßt, ist überhaupt nicht wie eine Erfindung auf Zwecke ausgerichtet, ja, „war" sogar in bestimmtem Sinn, bevor er ent deckt wurde: nur in anderer Form, nicht „als" Geist. Zwei terminologische Schwierigkeiten tun sich hier auf. Die eine geht auf ein philosophisches Problem: Wenn wir davon sprechen, daß die Griechen den Geist entdecken, und doch meinen, daß der Geist dadurch erst wird (grammatisch gesprochen: daß „Geist" nicht nur afflziertes, sondern auch effiziertes Objekt ist), so zeigt sich, daß es nur eine Metapher ist, die wir gebrauchen — aber es ist eine notwendige Metapher und der richtige sprachliche Ausdruck für das, was wir meinen; anders als metaphorisch können wir vom Geist nicht reden. Die gleiche Schwierigkeit bieten deswegen auch die anderen Ausdrücke, mit de nen wir diesen Sachverhalt bezeichnen: sprechen wir von Selbst-Auffassung oder Selbst-Erkenntnis des Menschen, so ist mit „auffassen" und „erkennen" auch nicht das Gleiche gemeint, wie wenn wir sagen: ein Ding auffassen, oder: einen anderen Menschen erkennen, sondern bei der Selbst-Auffassung und Selbst-Erkenntnis, wie die Worte hier gebraucht sind, existiert das Selbst eben nur in dem Auffassen und durch das Erkennen1. Sagen wir, der Geist „offenbart sich", sehen wir also die sen Prozeß nicht von der Seite des Menschen aus als Resultat seines eigenen Tuns, sondern als metaphysisches Geschehen, so bedeutet „er offenbart sich" nicht dasselbe, wie wenn wir sagen: „ein Mensch offenbart sich", indem er aus einer Verhüllung hervortritt: der Mensch ist vor der Enthüllung derselbe wie nachher, der Geist aber ist nur, sofern er sich offenbart, sofern er, gebunden an den Einzelnen, in die Erscheinung tritt. Auch wenn wir „Offenbarung" im religiösen Sinne nehmen, gilt das Gleiche: Eine Epiphanie des Gottes setzt vor aus, daß der Gott existiert, auch ehe und ohne daß er sich offenbart. Der Geist aber offenbart „sich", indem er dadurch erst wird (sich „effiziert"), d. h. im Prozeß der Geschichte; nur in der Geschichte tritt der Geist hervor, ohne daß wir von seinem Sein außerhalb der Geschichte und außerhalb des Menschen et was auszusagen vermöchten. Der Gott offenbart sich in einem Akt ganz, wäh rend der Geist sich jeweils nur begrenzt, nur durch den Menschen, nur durch dessen jeweils persönliche Art kundtut. Wenn aber nach christlicher Auffassung der Gott Geist ist, wenn es damit schwer wird, Gott zu begreifen, so setzt das eine Vorstellung vom Geist voraus, die erst im Griechischen gewonnen ist. Mit den Wendungen Selbstoffenbarung oder Entdeckung des Geistes soll keine bestimmte metaphysische Grundposition bezogen und nichts über einen frei schwebenden Geist außerhalb und vor der Geschichte ausgesagt werden. „Selbst offenbarung" und „Entdeckung" des Geistes meinen hier nicht wesentlich von einander Verschiedenes; vielleicht könnte man den ersten Ausdruck mit Vor zug für die frühe Zeit verwenden, der Erkenntnisse in der Form mythischer oder dichterischer Intuition aufgehen, aber bei Philosophen und wissenschaftlichen Denkern eher vom „Entdecken" sprechen, jedoch streng ist diese Grenze nicht © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0 Einführung 9 zu ziehen (s. Kap. XI). Zwei Gründe sprechen bei dieser geschichtlichen Be trachtung für die zweite Wendung; es kommt hier nicht auf die Erleuchtung des Einzelnen an, sondern darauf, daß das Erkannte mitteilbar ist; denn für die Ge schichte zählt nur, was auch Allgemeingut werden kann, und es wird sich zei gen, daß vieles, das erst entdeckt werden mußte, schnell bis in die Umgangs sprache drang. Umgekehrt sind Entdeckungen auch vergeßbar, und die Entdek- kungen in der Welt des Geistes bleiben dem Wissen nur gegenwärtig bei stän diger reger Tätigkeit. Vieles ist z.B. während des Mittelalters in Vergessenheit geraten und hat neu entdeckt werden müssen, konnte nun allerdings mit Hilfe der Antike viel leichter entdeckt werden. Zweitens sprechen wir deswegen lie ber von „Entdeckung" des Geistes als von „Selbstoffenbarung", weil, wie die einzelnen Phasen der Entwicklung zeigen werden, sich der Mensch nur durch Leid, Not und Mühe zum Begreifen des Geistes durchringt ,nädei ixcrikx;, „durch Leiden Klugheit", gilt auch für die Menschheit, wenn auch in anderem Sinne als für den Einzelnen, der durch Schaden klug wird und sich vor neuem Leid hütet. Die Welt kann zwar klüger werden - nur gerade darin nicht, sich vor Leid zu schützen, womit sie sich zudem womöglich den Weg versperrte, noch klü ger zu werden. Jedenfalls geht es nicht an, radikal die rationale Aufklärung von der religiösen Erleuchtung, die Belehrung von der Bekehrung zu trennen und die „Entdeckung des Geistes" nur als das Auffinden und Entwickeln von philosophischen und wissenschaftlichen Gedanken zu fassen. Vielmehr ist vieles, was die Griechen an Wesentlichem für das europäische Denken gewonnen haben, in Formen her vorgetreten, die, wie sich zeigen wird, uns vertrauter zu sein pflegen aus der Sphäre des Religiösen als aus der Geistesgeschichte2. So ertönt die Mahnung zur Um kehr, die Forderung, zum Eigentlichen und Wesentlichen zurückzukehren, ne ben der Ermunterung, auf Neues aus zu sein; so kann der Ruf des Erweckens, der die Schlafenden, im Äußerlichen Befangenen aufrüttelt, fast prophetischen Ton. annehmen, wenn eine besondere Art der Erkenntnis und zumal eine neue Tiefe der geistigen Dimension es nahelegt. Aber trotzdem ist von all dem hier nur soweit die Rede, als es den kontinuierlichen Prozeß der Bewußtwerdung angeht, die sich in der Geschichte des Altertums verfolgen läßt. Die andere terminologische Schwierigkeit berührt eine geistesgeschichtliche Fra ge: Wenn wir sagen, der Geist ist von den Griechen erst nach Homer entdeckt und ist dadurch geworden, so wissen wir, daß das, was wir Geist nennen, von Homer in anderer Form aufgefaßt wurde, daß „Geist" in bestimmtem Sinn auch schon für ihn da war, doch eben nicht „als" Geist. Das bedeutet, daß die Bezeichnung „Geist" die Interpretation (und zwar die treffende Interpretation, sonst könnten wir nicht von „Entdeckung" sprechen) von etwas ist, das vorher in anderer Form interpretiert wurde und deshalb auch in anderer Form existier te (in welcher Form, wird die Erörterung über Homer zeigen). Dies „Etwas" ist aber unserer Sprache schlechthin unfaßbar, da jede Sprache mit ihren Worten schon eine eigene Interpretation gibt. Wer Gedanken erklären will, die in einer © 2011, 1975, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-25731-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-25731-0