Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche In Verbindung mit James D. G. Dunn · Richard B. Hays Hermann Lichtenberger herausgegeben von Michael Wolter Band 118 w DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003 Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon Herausgegeben von / edited by John Barton und/and Michael Wolter W DE Cl Walter de Gruyter · Berlin • New York 2003 © Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017638-6 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 JOHN BARTON Unity and Diversity in the Biblical Canon 11 HORST SEEBASS Erstes oder Altes Testament? 27 MICHAEL WOLTER Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons 45 MORWENNA LUDLOW 'Criteria of Canonicity' and the Early Church 69 JOHN WEBSTER Ά Great and Meritorious Act of the Church'? The Dogmatic Location of the Canon 95 PAUL S. FIDDES The Canon as Space and Place 127 ROBERT MORGAN The New Testament Canon of Scripture and Christian Identity 151 CAROLINE SCHRÖDER-FIELD Der Kanonbegriff in Biblischer Theologie und evangelischer Dogmatik.... 195 KGEaRnoHnA RuDnd S KAUirTcEhRe 239 GÜNTER BADER Kanon, Kanon und Wiederholung. Zu Lesekanon, Singkanon und zur kanonischen Veränderung 261 Register 303 Mitarbeiter 307 Einleitung Seit mehr als einem Vierteljahrhundert gibt es zwischen der Theologischen Fakultät der University of Oxford und der Evangelisch-Theologischen Fakul- tät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eine Partnerschaft, die sich in einer Vielzahl gemeinsamer Seminare von Studierenden, Dokto- randen und Dozenten konkretisiert hat und auch einen regelmäßigen Aus- tausch von Studierenden und Gastvorlesungen einschließt. Seit Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Kooperation zudem in kon- kreten Forschungsprojekten verdichtet, die Wissenschaftler aus den beiden Theologischen Fakultäten über mehrere Jahre hinweg zu einer intensiven Arbeit an einem bestimmten theologischen Sachthema zusammengeführt haben. Die Ergebnisse eines ersten Projekts zum Thema „Revelation and Sto- ry" wurden unlängst publiziert.1 Die dabei gewonnenen Erfahrungen ermutigten uns, die Zusammenarbeit in einem weiteren Projekt fortzusetzen, das erneut vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und vom British Council gefördert wurde und dessen Ertrag wir in diesem Band vorlegen. Die einzelnen Beiträge wurden auf mehreren Tagungen, zu denen wir uns in den Jahren 1999 bis 2002 abwechselnd in Oxford und Bonn zusammenfanden, vorgestellt und intensiv diskutiert. Maßgeblich geprägt wurde die gemeinsame Arbeit durch die in mehrfa- cher Hinsicht „pluralistische" Zusammensetzung unserer Gruppe, die ihr nicht nur ein internationales, sondern auch ein interkonfessionelles und inter- disziplinäres Profil gab: Unser Projekt führte britische und deutsche Wissen- schaftler, Anglikaner, Lutheraner und Baptisten sowie Alttestamentier, Neu- testamentler, Kirchenhistoriker und Systematiker zusammen. Es wurde da- durch möglich, eine mehrdimensionale Vielfalt unterschiedlicher theologi- scher Traditionen und wissenschaftlicher Ansätze miteinander ins Gespräch zu bringen. Auf diese Weise wurden wir in die Lage versetzt, die im wissen- schaftlichen Alltag bestehenden Grenzen in überaus fruchtbarer Weise zu überwinden. Gerhard Sauter/John Barton (Ed.), Revelation and Story. Narrative Theology and the Centrality of Story, Aldershot 2000; dt.: John Barton/Gerhard Sauter (Hrsg.), Offenba- rung und Geschichten. Ein deutsch-englisches Forschungsprojekt, Frankfurt a.M. u.a. 2000. 2 Einleitung Das Thema, das wir zum Gegenstand unserer Arbeit gemacht haben, be- steht aus zwei Begriffspaaren, die einander zugeordnet werden: „Einheit und Vielfalt" sowie „Schrift und Kanon". Von maßgeblicher Bedeutung ist dabei zunächst, dass wir mit dem Gegenüber von „Einheit" und „ Vielfalt" eine ekklesiologische Kategorie aufnehmen. Bereits Paulus greift mehrfach auf sie zurück, um die besondere Eigenart der christlichen Ekklesia zu beschreiben (vgl. Rom 12,4-5; l.Kor 10,17; 12,12-13.20; s. auch Gal 3,28), und fur sei- nen Umgang mit diesem Begriffspaar ist charakteristisch, dass er die ihm innewohnende semantische Spannung nicht als ein sich ausschließendes Konkurrenzverhältnis versteht, sondern eine dynamische Integration entste- hen lässt: Die Einheit der an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauf- ten hebt deren Unterschiedlichkeit nicht auf, sondern umschließt sie. Der ekklesiologische Bezug dieses Begriffspaares findet dann im 20. Jahrhundert seinen Ausdruck darin, dass es zur Leitkategorie der ökumeni- schen Bewegung wurde. Es waren hier gerade die Arbeiten der Kommission fur Faith and Order - und nicht die Einheitsbemühungen der Kommission für Life and Work -, in denen die Frage nach der Einheit im Blick auf die Bibel im Mittelpunkt stand und die damit zu erkennen geben, dass sie von einer spezifischen Auffassung von Einheit, Konsens und Kirche geleitet waren. Sie nahm ihren Ausgangspunkt von der Wahrnehmung der konfessionel- len Ausdifferenzierung der christlichen Kirchen als „Spaltung", „Zertren- nung" und „Uneinigkeit", die unbedingt zu überwinden sei, weil das eine Christusbekenntnis auch die „sichtbare Einheit" der Christenheit verlange. Erst nach mehreren Jahrzehnten ökumenischer Verständigungsbemühungen, bei denen vor allem strittig blieb, welche Konzeption von „sichtbarer Ein- heit" verwirklicht werden könnten, traten Entwürfe in den Vordergrund, die „Einheit" und „Vielfalt" nicht mehr als einander ausschließende Gegensätze, sondern als komplementäre ekklesiologische Kategorien begriffen und sich zu Formeln wie „Einheit in der Vielfalt", „Vielfalt in der Einheit", „Einheit in versöhnter Verschiedenheit", „Konziliare Gemeinschaft der Verschiedenen" oder „Ökumene in Gegensätzen" verdichteten. Aus demselben kirchen- und theologiegeschichtlichen Kontext stammt auch die Übertragung dieser beiden Kategorien auf das Begriffspaar „ Schrift und Kanon". Auch über das Wie der jeweiligen Zuordnung bestand ein grundsätzlicher Konsens, denn zu den unumstrittenen Überzeugungen, von denen sich die ökumenische Bewegung von ihren Anfängen an getragen wusste, gehörte der Zusammenhang von „Einheit" und „Schrift", und zwar in einer doppelten Hinsicht:2 Zum einen wurde die Schrift bzw. die Bibel, 2 Vgl. dazu M. Haudel, Die Bibel und die Einheit der Kirchen. Eine Untersuchung der Studien von „Glauben und Kirchenverfassung" (KiKonf 34), Göttingen 1993. Einleitung 3 weil sie von der gesamten Christenheit als gemeinsame Grundlage und Quel- le ihres Glaubens und Lebens anerkannt war, als Fundament einer auch ek- klesiologisch qualifizierbaren „Einheit" wahrgenommen. „The Bible, the Holy Scripture, is the biggest thing we have in common" - diese von Willem A. Visser't Hooft 1963 formulierte Einsicht in Bezug auf das einheitstiftende Potential der Schrift3 artikuliert eine Gewissheit, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der ökumenischen Bewegung hindurchzieht.4 Zum anderen galt umgekehrt „Einheit" aber auch stets als ein theologisches Prädikat, das die Größe „Schrift" auszeichnet, ja mehr noch: Es war allererst diese Eigenschaft, die es möglich machte, dass der Schrift auch eine ekklesiologische Relevanz zugeschrieben und sie zur Grundlage für die Suche nach der angestrebten Sichtbarmachung der Einheit aller Christen werden konnte. Aus der Korrelation dieser beiden Zuordnungen der Größen „Einheit" und „Schrift" folgte dann mit einiger Konsequenz, dass sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ökumenischen Verständigungsbemü- hungen verstärkt auf die Suche nach gemeinsamen Prinzipien der biblischen Hermeneutik richteten. Beide Grundannahmen - das Postulat der Einheit der Schrift und die ihr zugeschriebene konstitutive Bedeutung für die Einheit der Kirchen - wurden dabei so zusammengeführt, dass gewissermaßen eine dritte Einheitsebene an ökumenischer Aufmerksamkeit gewann: die Einheit der Schriftauslegung,5 Über viele Jahre hinweg standen dementsprechend vor allem diejenigen Fragen und Problemzusammenhänge im Zentrum der Dis- kussion, an denen die konfessionellen Differenzen am deutlichsten sichtbar wurden: die Autorität und Normativität der Schrift, das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie das Verhältnis von Altem und Neuem Testament. Zu einem nicht geringen Problem musste unter dieser Voraussetzung na- türlich das Bewusstwerden der inneren theologischen Vielfalt des Kanons werden. Wie groß das Problem tatsächlich war, wird vor allem an den hefti- gen Reaktionen erkennbar, die Ernst Käsemanns Vortrag aus dem Jahre 1951 evozierte, aus dem vor allem immer wieder dieselben beiden Spitzensätze herausgegriffen wurden: „Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher 3 W.A. Visser 't Hooft, The Bible and the Ecumenical Movement, in: Bulletin of the United Bible Societies 56 (1963) 165-172, S. 168. 4 Vgl. auch S. de Diétrich, The Bible, a Force fo Unity, Ecumenical Review 1 (1948/49) 410-416, S. 412: „Here is truly the one possible meeting-place for Catholics, Orthodox and Protestants. That such a meeting-place exists, is acknowledged as really existing, is perhaps the greatest gift of God to His Church in this generation." 5 Aus naheliegenden Gründen sei an dieser Stelle vor allem an die Konferenz erinnert, die im Jahre 1949 im Wadham College in Oxford stattfand und zu einer von allen Teilneh- mern getragenen Verständigung über „Guiding Principles for the Interpretation of the Bible" führte (veröffentlicht in: ER 2 [1949/50] 81-86). 4 Einleitung nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem His- toriker zugänglichen Vorflndlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessio- nen."6 Dadurch fielen „Kanon" und „Schrift" auseinander - womit in einem etwas veränderten Gewand Johann Salomo Semlers Thesen7 in der ökumeni- schen Bewegung wirksam wurden -, und die Behandlung des Kanons als eine historische und literarische Größe, die ein Produkt der Alten Kirche war, schien die theologische Dignität der „Schrift" zu depotenzieren und damit überhaupt deren ekklesiologisches Potential in Frage zu stellen, das eben auf der Korrelation von „Einheit der Kirche" und „Einheit der Schrift" basierte. In dem Maße jedoch, wie in ekklesiologischer Hinsicht „Einheit" und „Viel- falt" nicht mehr als einander ausschließende Gegensätze galten, sondern als miteinander vereinbar angesehen wurden (s.o.), konnte auch die Vielfalt des Kanons in ein Konzept von Einheit integriert werden, das den Kanon gerade- zu zu einem ökumenischen Dokument par excellence macht.8 Denn ebenso- wenig wie der Glaube eine empirisch wahrnehmbare Größe ist, ebensowenig kann natürlich auch die Gemeinschaft des Glaubens, in der alle Christen mit- einander verbunden sind, empirisch aufweisbar sein. Angesichts dessen ist es darum an ganz prominenter Stelle gerade der Kanon, der die prinzipiell unob- jektivierbare Einheit der Kirche zeichenhaft zur Anschauung bringt. Unser Projekt setzt diese Vorgeschichte als Kontext voraus. In den ein- zelnen Beiträgen sollen darum vor allem solche Fragen aufgegriffen werden, die sich aus der vorstehend skizzierten Spannung zwischen dem kirchlichen Schriftgebrauch und der Tatsache ergeben, dass es allererst die Alte Kirche war, die uns den Kanon als Erbe hinterlassen hat. Sie bricht z.B. immer dann 6 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 11 (1951/52) 13-21 = ders. (Hg.), Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kri- tische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, Göttingen 1970, 124-133, S. 131. In die- selbe Richtung ging auch Käsemanns Vortrag auf der 4. Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montréal im Jahr 1963 über „Einheit und Vielfalt in der neutesta- mentlichen Lehre von der Kirche" (ÖR 13 [1964] 58-63 = ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 31968, 262-267. 7 Vgl. J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon, Halle 1771-75; hg. v. H. Scheible, Göttingen 21980. 8 Vgl. z.B. H.-R.Weber, The Bible: Critical Guide for the Ecumenical Movement, JTSA 1 (1972) 23-36, S. 31: „What in biblical studies is discovered about the diversity and the unity of the Bible can safeguard the churches in the ecumenical movement from both the danger of uniformity and a cheap pluralism"; R. Stahl, Grunddimensionen einer ökume- nischen Ekklesiologie, ThLZ 111 (1986) 81-90, Sp. 85: „Der Kanon des Neuen Testa- ments oder der gesamten Bibel begründet eben doch die Einheit der Kirche, qualifiziert diese Einheit aber nun als Verbindung verschiedener Positionen und .Konfessionen'"; H.-G. Link, Der Kanon in ökumenischer Sicht, JBTh 3 (1988) 83-96, S. 96: „Der bibli- sche Kanon kann auch im Blick auf die ökumenische Einheit der Christenheit ... seine wegweisende Kraft erweisen. Denn er ist und bleibt das beste Modell sichtbarer Einheit der Verschiedenen, das die Christenheit besitzt."