Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke Barbara Frank-Job • Alexander Mehler Tilmann Sutter (Hrsg.) Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW Herausgeber Prof. Dr. Barbara Frank-Job Prof. Dr. Tilmann Sutter Universität Bielefeld, Deutschland Universität Bielefeld, Deutschland Prof. Dr. Alexander Mehler Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland ISBN 978-3-531-17833-2 ISBN 978-3-531-93336-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-93336-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die- sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be- trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Lektorat: Katrin Emmerich, Monika Kabas Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Inhalt Interdependenz und Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke: Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen am Beispiel desWWW 7 Kapitel I: Konzepte und methodische Aspekte der Analyse sozialer und sprachlicher Netzwerke Steffen Albrecht Kommunikation als soziales Netzwerk? 23 Anreize und Herausforderungen der Netzwerkanalyse von Kommu nikationsprozessen Sven Banisch Meinungsbildung, Kommunikationsnetzwerke und Wahlverbalten in einer virtueUen Agentenpopulation 47 Philippe Blanchard Language evolution .s generalized epidemie process on inhomo- geneous random grapbs 69 Roman Haifmann und Benno Wagner InterkultureUe Klassikerrezeption als semantisch-soziales Netzwerk. 73 Eine Projektskizze am Beispiel der Kafka-Rezeption in China Michael Jäckel und Gerrit Fröhlich Das aktive Publikum - Eine Ortsbestimmung 91 Thomos Malsch Narrative Methoden und temporalisierte Kommunikationsnetz- werke. 103 Ein Vergleich ereigoisbasierter ModeUe aus kommunikationssoziolo- gischer Sicht Jan Passoth, TIlmann Sutter und Jose[ Wehner Vernetzungen und Publikumskonstruktionen im Internet 139 Maximilian Schich Netzwerke von komplexen Netzwerken in der (Kunst)Wissenschaft 161 6 Inhalt Christian Stegbauer Probleme der Konstruktion zweimodaler Netzwerke 179 Kapitel 11: Empiriscbe Aspekte der Analyse sozialer und spracblicher Netz werke Michael Beißwenger Raumorientierung in der Netzkommunikation. 207 Korpusgestützte Untersuchungen zur lokalen Dems in Chats Claudia Fraas Frames - ein qualitativer Zugang zur Analyse von Sinnstrukturen in der Online-Kommunikation 259 Rainer Hammwöhner Bilddiskurse in den WIkimedia Commons 285 Gerhard Heyer Soziale Netzwerke und inhaltsbasierte Suche in P2P-Systemen 311 Angelika Starrer SprachstiI und Sprachvariation in sozialen Netzwerken 331 Ni/s Diewald und Barbara Frank-Job KoUaborative Aushandlung von Kategorien am Beispiel des Gutten- Plag Wilds 367 Alexander Mehle" Christian Stegbauer und Rüdiger Gleim Zur Struktur und Dynamik der koUaborativen Plagiatsdokumentati- on am Beispiel des GuttenPlag WIki.: eine Vorstudie 403 Interdependenz und Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke: Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen am Beispiel des WWW Der vorliegende Band gibt die Beiträge einer interdisziplinären Arbeitstagung wieder, die im April 2010 am Bielefelder ZiF (Zentrumjür Interdisziplinäre For schung) zum Thema "Interdependenz und Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke" stattgefunden hat. Vertreter der mathematischen Netzwerktheorie und ihrer texttechnologischen Anwendungsbereiche, Soziologen, Medienwissen schaftier, Linguisten und Kulturwissenschaftler trafen sich damals mit dem Ziel, Grundlagen fiir die Entwicklung eines integrierten naturwissenschaftlich-linguis tisch-sozialwissenschaftlichen Modells komplexer Netzwerke zu diskutieren. Im Zentrum des Workshops stand die Untersuchung des in der Netzwerkfor schung bislang noch nicht systematisch erforschten Zusammenhangs zwischen sozialen, kommunikativen und sprachlichen Netzwerken und ihrer Dynamiken. Diese wurden im Hinblick auf empirische Anwendungsmöglichkeiten sowohl in qualitativen als auch in quantitativen Analysen beschtieben. Als gemeinsames Feld zur Untersuchung von Typik und Evolution sozialer und sprachlicher Netz werke in ihrer gegenseitigen Beeinflussung dienen fast allen Beiträgern Konnuu nikationsformen des World Wide Web insbesondere der sog. Social Media. Deren spezielle Ausprägungen medienvermittelter Interaktivität hat zur Ausdifferenzie rung vielfältiger kommunikativer Netzwerke geführt, deren Daten auf all ihren Sttukturierungsebenen umfassend dokumentiert und in allen Entwicklungsstadien archiviert sind und damit einer qualitativen und quantitativen Analyse zugänglich sind. Die meisten Beiträge dieses Bandes befassen sich nun mit der Analyse dieser Netzwerke und den Dynamiken ihrer Genese und Evolution. Die Herausgeber sind allen Beiträgern, aber auch allen Teilnehmern an den Dis kussionen der ZiF-Arbeitsgroppe zu großem Dank verpflichtet. Ihre Bereitschaft zu einem weit gefassten interdisziplinären Gespräch machte es allererst möglich, sonst nahezu voneinander unbemerkt agierende Forschungsbereiche in Debatten über Methoden und Konzepte, Theorie und Empirie, qualitativer und quantitativer Netzwerkforschung zusammenzuführen. Besonderem Dank sind wir jedoch den finanziellen und institutionellen För derem der Tagung und der dran beteiligten Projektförderem schuldig: dem Bie lefelder Zentrum fiir Interdisziplinäre Forschung und dem Deutschen Lufl- und B. Frank-Job et al. (Hrsg.), Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke, DOI 10.1007/978-3-531-93336-8_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 8 Einleitung Raumfahrtzentrum in Jülich, unserem Projektträger für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Und schließlich sei dem Springer VS gedankt für das freundliche Entgegenkommen und die Unterstützung bei der Drucklegung des Bandes. Angesichts des breiten interdisziplinären Rahmens der Tagung, wie er sich auch in den hier vorliegenden Beiträgen zeigt, scheint es uns angebracht, zunächst den gemeinsamen thematischen und forschungshistorischen Rahmen abzustecken, in dem sich unsere Diskussionen verorten lassen, bevor wir auf die hier behandelten Fragestellungen näher eingehen. Das Netzwerk als Forschungsgegenstand Jenseits aller fachspezifischen Differenzierungen bauen alle aktuellen Netzwerk forschungen auf einer sehr einfachen Bestimmung ihres Objekts auf: Danach ist ein Netzwerk ein offenes System von miteinander verbundenen Elementen ("Knoten"), das in der Lage ist, jederzeit neue Elemente über neue Verbindungen ("Kanten") zu integrieren. Typisch für die Netzwerkstruktur ist die Eigenschaft der Knoten, über verschiedene Kanten Verbindungen zu mehreren weiteren Kno ten einzugehen. Ein Beispiel für ein Netzwerk mit konkreten physikalischen Ver bindungen ist ein U-Bahn-Netz, wobei die Knoten Stationen und die Kanten die Schienenverbindungen zwischen den Stationen darstellen. Als Kanten können jedoch auch abstraktere Beziehungen zwischen Elementen angenommen werden, wie dies z.B. bei Netzwerken von miteinander arbeitenden Wissenschaftlern oder Freundschaftsnetzwerken der Fall ist. In diesen Beispielen, die als "soziale Netzwerke" bezeichnet werden, stellen Kommunikationsprozesse und damit in der Regel verbale Interaktionen die konkreten Verbindungen zwi schen den Knoten dar (welche in der Regel Individuen sind). Verbale Interaktio nen lassen sich nun aber selbst wiederum als komplexes Ineinander verschiedener Netzwerke begreifen: Schon die Grundform verbaler Interaktion, die dyadische Face-to-face-Kommunikation, stellt sich als bi-direktionale Netzwerkstruktur dar, die von den Interaktsnten in einem sequentiell geordneten Prozess entwickelt wird. Dabei wirkt sich die reflexive Grundlage der Interaktion für die Beteiligten als ,,zwang" zur gegenseitigen Wahrnehmung und zur reflexiven Unterstellung von Erwartongserwartongen aus, was sich auf verbaler Ebene in eine Verpflichtung zu gemeinsam abgestinunten Strukturierungs-, Ordnungs- und Koordinierungsakti vitäten umsetzt (Cicourel 1975, Antos 2002). Die Sequentialität der Redebeiträ ge als ein zentrales Ergebnis dieser Kooperationshandlungen bildet nun genauso wie jede einzelne Strukturierungsebene des Kommunikats selbst (wie z.B. Syntax Einleitung 9 als Netzwerk funktionaler Elemente im Satz, Lexikon als semantisches Netzwerk oder Textualitätsformen als Netzwerk von thematischen Makrostrukturen und texttypologisch-funktionalen Superstrukturen) jeweils wieder eigene Netzwerk strukturen, so dass wir in einem Kommunikationsvorgang ein komplexes Zusam menspiel verschiedenartigster Netzwerke vorfinden. Wie viele anderen Formen von Netzwerken weisen also soziale und sprachliche Netzwerke von vomeherein eine fortgesetzte Dynamik auf, die unter anderem durch das je spezifische Mitein ander unterschiedlicher Netzwerktypen hervorgerufen wird. In der aktuellen Netzwerkanalyse lassen sich nun insbesondere folgende zwei Traditionslinien unterscheiden: Auf der einen Seite eine quantifizierend-modellie rende mathematische Netzwerktheorie, die aus der Graphentheorie stammt, und inzwischen durch Theorien selbstorganisierender Systeme angereichert zu einer komplexen Netzwerktheorie ausgebaut wurde (Barabäsi 2002, vgl. Quandt 2006: 121). Anwendungen dieser Theorie auf der Basis verschiedener Data-Mining-AI gorithmen und weiterer Programme, die es erlauben, automatisch Muster in um fangreichen Datensätzen zu identifizieren (Blanchard I Krüger 2006; Volchenkov I Blanchard 2002; Mehler 2009ab), haben inzwischen in vielen Wissenschafts bereichen Anwendung gefunden, so Z.B. in der Biologie und der Bioinformatik (Barabäsi I Oltvai 2004; Iossifov et al. 2004; Dehmer 2008; Dehmer et al. 2011), der Soziologie (Barber et al. 2006; Blanchard I Krüger 2004; Newman 2003; Vol chenkov I Blanchard 2007; Stegbauer 2009), der Informatik (Adamic I Huber man 2001; Pastor-Satorras et al. 2001; Brandes 2009; Leskovec et al. 2005, 2009; Mehler 2011), der Kognitionswissenschaft (Steyvers I Tenenbaum, 2005; Mehler 2007; Borge-Holthoefer & Arenas 2010) und der Lingnistik (Ferrer i Cancho et al. 2004; Sole et al. 2010; Mehler et al. 2010, 2012). Demgegenüber bezeichnet in der qnalitativ orientierten Netzwerkforschung das Netzwerk eine spezielle Form sozialer Gruppe, welche besonders offene und dynamische Strukturen aufweist (Fuhse 2006). So sieht die britische Sozialanth ropologie im Netzwerk typische Sozialstrukturen der modernen komplexen Ge sellschaft, die auf dyadischen Beziehungen in interrelationalen offenen Strukturen basiert. Die Bedeutung der Netzwerkstrukturen fiir die interaktive Aushandlung von Sinn betont die phänomenologische Netzwerktheorie (White 1995, vgl. aus führlich dazu: Fuhse 2006: 255s.). Kommunikative Netzwerke verfügen demnach über eine phänomenologische Struktur, die interaktiv ausgehandelt wird, und sich zu komplexen Simunustern entwickeln kann. White nennt derartige Netzwerk knItoren ,,Domänen". In Netzwerkdomänen entwickeln sich eigene symbolische Ordoungen, welche individuelle Einstellungen innerhalb der Netzwerkpopnlatio nen bestimmen, und welche aufgrund der Teilhabe von Individuen an unterschied lichen Netzwerken auch aufbenachbarte Netzwerke übergehen können. 10 Einleitung Bereits in diesen traditionelleren Bestinnnungen von sozialen Netzwerken steht also -wenn auch meist implizit -der Netzwerkbegriffin enger Beziehung zur ver balen Interaktion; denn die wichtigsten Relationen zwischen den Individuen eines sozialen Netzwerks sind Kommunikationsprozesse. Aktuelle medien-und informationswissenschaftliche Netzwerkana1ysen befas sen sich verstärkt mit den nenen Kommunikationsformen des WWW und ihren Dynamiken, aber auch mit den technischen Möglichkeiten der Vernetzung unter schiedlicher Dokumententypen und ihrer Nutzerschafl. Sie berufen sich anf Ma nuel Castells Begriff der ,,Netzwerkgesellschaft" und dessen Bestinnnung von Netzwerk als offener Struktur von miteinander verbundenen Knoten, die in der Lage sind, "grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren." (Castells 2001: 528) Damit wird insbesondere die hohe Dynamik sozialer Netz werke hervorgehoben, mithin der Wandel gesellschaftlicher Werte und Normen als Folge von Veränderungen im Netzwerk analysiert. In der aktuellen Mediensoziologie taucht der Netzwerkbegriff zudem in Zu sammenhang mit Untersuchungen auf, die sich für Eigenschaften der Interaktivi tät von Kommunikationsprozessen im Internet und deren Konsequenzen für die Entstehung neuer Formen und Eigenschaften kommunikativer Netzwerke inter essieren (Sutter 2008, Wehner 1997, 2008). Zum einen geht es hierbei um die Bestinnnung von Partizipations strukturen und neuen Formen von Interaktivität, wie sie sich in den letzten Jahren v.a. im Bereich des Web 2.0. herausgebildet haben. Diese wird auf der Basis langjähriger Forschungen zu massenmedialen Kommunikationsformen wie z.B. das Fernsehen, nach ihren spezifischen nenen Möglichkeiten interaktiver Teilhabe von Mediennutzern betrachtet. Mit einer empirischen Analyse der Kommunikate, die nicht nur als Produk te interaktiver Prozesse fassbar werden, sondern auch deren Entstehungsprozess und permanente Dynamik analysiert, nimmt die Mediensoziologie zum andern (schrift-)sprachliche emergierende Strukturen in den Blick, wobei der interaktiv konstruktive Charakter der Kommunikationsprozesse hervorgehoben wird (Weh ner2008). In der Untersuchung der Entstehung, Typik und Dynamik emergierender kom munikativer Netzwerke verstanden als Orte der Bildung kollektiv gii1tiger Ord nungen und Strukturen triffi sich die Mediensoziologie mit dem Interesse der kommunikationsanalytisch orientierten Lingnistik. Dabei treten die zur Verfiigung stehenden qualitativen und quantitativen Beschreibungs- und ModelIierungsme thoden von Mathematik und Informatik gleich in zweifacher Weise in den Blick: Zum einen als methodische Werkzeuge zur vergleichenden Beschreibung von Netzwerkstrukturen und deren Evolution aus wissenschaftlich-analytischer Sicht. Zum andern aber auch als im World Wide Web selbst genutzte Instnnnente der