Wolfgang Gehrcke / Jutta von Freyberg / Harri Grünberg Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahost-Konflikt Eine notwendige Debatte PapyRossa Verlag © 2009 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln Luxemburger Str. 202, 50937 Köln Tel.: ++49(0)221 -44 85 45 Fax: ++49 (0) 221 - 44 43 05 E-Mail: [email protected] Internet: www.papyrossa.de Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Willi Holzel, Lux siebenzwo Druck: Interpress Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 978-3-89438-410-4 Inhalt Einführung (6) I. Kapitel Historische Wurzeln - die Entstehung des Zionismus 9 II. Kapitel Die Arbeiterbewegung zur Judenfrage und zum Zionismus bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 31 III. Kapitel Schauplatz Palästina 49 IV. Kapitel Der Weg zur Gründung Israels 69 V. Kapitel Antizionismus, Antisemitismus, Wiedergutmachung 108 VI. Kapitel Die arabische Revolution 153 VII. Kapitel Israel und der Imperialismus 185 VIII. Kapitel Der Nahost-Konflikt im Diskurs der deutschen Linken 213 IX. Kapitel Der Weg zum Frieden und Aufgaben der Linken 241 Empfehlungen zum Weiterlesen (268) Einführung Was hat uns bewogen, dieses Buch zu schreiben? Welche Motive waren so stark, dass wir alle Bedenken beiseite schoben und Warnungen missachteten, wir könnten uns nur in die Nesseln setzen? Es ist ein ganzes Bündel von Motiven. Natürlich sind es vor allem politische Motive: • der seit Jahrzehnten ungelöste Nahost-Konflikt, der immer wieder so unendlichen Schmerz auf beiden Seiten auslöst, • die Ausweglosigkeit, in die sich beide Konfliktparteien unter internatonaler Beteiligung immer tiefer hineinzumanövrieren scheinen, • das Gefühl und Wissen, aufgrund persönlicher Biografie bzw. persönlich empfundener geschichtlicher Verantwortung mit dem Nahost-Konflikt verknüpft zu sein, • unsere solidarische Verbundenheit mit politischen und persön- lichen Freundinnen und Freunden in Israel und Palästina, • die Konflikte und Streitigkeiten innerhalb der deutschen Linken, auch innerhalb der Partei DIE LINKE, die zum Teil auf unfrucht- bare und verletzende Weise ausgetragen werden, • unsere Kritik an der Politik der deutschen Regierungen, die un- geachtet aller ihrer Beteuerungen sich scheuen, eine echte Ver- antwortung für eine Friedenslösung zu übernehmen, und • unser Wunsch, über die Grundsätze und Möglichkeiten einer Friedenslösung nachzudenken. 7 EINFÜHRUNG Hinzu kam das Bedürfnis, uns selbst in vielen Fragen, die die Heraus- bildung und Geschichte des Nahost-Konfliktes betreffen, größere Klarheit zu verschaffen; es sind Fragen, die mit unserer politischen Sozialisation nach dem Ende des deutschen Faschismus und während des Kalten Krieges verbunden sind. Wir haben unser politisches Interesse in einer »bleiernen Zeit« ent- wickelt, als in der Bundesrepublik das Schweigen über den deutschen Faschismus Staatsdoktrin war, der Antisemitismus als Tabu unter der Oberfläche weiter schwelte und der offene Antikommunismus individuelle Emanzipation und linke Alternativen verteufelte. Der Kalte Krieg hat aber auch den Dogmatismus der kommunistischen Parteien und vieler linker Bewegungen, denen wir angehörten, konserviert. Es galt, auch hierauf einen geschärften Blick zu richten. Wir wollten uns genauer ansehen, welche Haltung die Arbeiter- bewegung, in deren Traditionen wir uns sehen, zum Antisemitismus in Theorie und Praxis eingenommen hat; ob und in welchem Umfang und zu welchen Zeiten Antisemitismus in den Arbeiterparteien selbst eine Rolle gespielt hat. Wir sind der Frage nachgegangen, wann und in welchem historischen Kontext der Zionismus entstanden ist und wie ihn die marxistischen Theoretiker gesehen haben. Welche Rolle hat der Holocaust für die Gründung des israelischen Staates gespielt? Welche Kräfte haben auf der internationalen Bühne mit welchen Interessen die Staatsgründung unterstützt? Wir haben die Funktionen des Antizionismus der sozialistischen Staaten und kommunistischen Parteien im Kalten Krieg und der Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus seit der Adenauer-Regierung untersucht. Wir haben festgestellt, dass die pauschale Ablehnung des Zionismus durch namhafte sozialdemokratische und kommunistische Theoretiker nicht gerechtfertigt war. Sie beruhte auf einem dogmatischen Ver- ständnis der nationalen Frage, das durch die reale Entwicklung wider- legt wurde. Angesichts des sich am Ende des 19. Jahrhunderts wieder ver- stärkenden Antisemitismus erwies sich die Idee der Zusammenführung der jüdischen Bevölkerung auf einem Territorium, sei es in Form eines eigenen Staates, sei es in einem binationalen Staat, als richtig. 8 DEUTSCHE LINKE, ZIONISMUS UND NAHOST-KONFLIKT Sozialistische Zionisten haben darauf hingewiesen, dass der Klassenkampf und der Sozialismus noch lange nicht das Problem des Antisemitismus lösen. Sie haben damit leider Recht behalten. Marxistinnen und Marxisten aus der kommunistischen Tradition be- zeichneten den Zionismus, auch den sozialistischen Zionismus, als einen nationalistischen Irrweg. Die Autoren sind der Meinung, dass hier eine differenziertere Betrachtung nötig ist. Unsere Kritik richtet sich an die reale Praxis, an die konkrete Politik, wie sie vom Mehr- heitsflügel der zionistischen Bewegung bei der Erschaffung des Staates Israel gegenüber den Palästinensern angewendet wurde. Diese Kritik wird auch von linken zionistischen Kreisen geteilt. Israel ist eine historische Notwendigkeit für das jüdische Volk, aber die seit den fünfziger Jahren durch die Gruppe um Ben-Gurion durch- gesetzte »aktivistische« Politik war primär nicht auf die Sicherung des Staates Israel ausgerichtet. Sie wollte Israel als regionale Hegemonial- macht etablieren, die den Nachbarn die Bedingungen zu diktieren vermag. Wir dokumentieren diese Entwicklung anhand der Aus- einandersetzung zwischen dem frühen israelischen Außenminister Moshe Sharett und David Ben-Gurion. Sharett wollte eine andere Ent- wicklung für Israel; er wollte, dass Israel sich in die Region integriert und - nach 1948 - einen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn sucht und mit ihnen Frieden schließt. Wichtig war uns auch zu versuchen, auf die vielen strittigen Fragen und Polemiken innerhalb der deutschen Linken, die die Begriffe der politisch-ökonomischen Analyse des Imperialismus und den Nahost- Konflikt betreffen, sachliche Antworten zu geben. Wir wollen, dass die Auseinandersetzungen und der Meinungsstreit um das Thema Israel und Palästina von Unterstellungen und Vorurteilen befreit werden, dass Kenntnis und Erkenntnis an die Stelle von Bekenntnissen tritt. Wolfgang Gehrcke, Jutta von Freyberg, Harri Grünberg I. Historische Wurzeln - die Entstehung des Zionismus Zur Lage der Juden im Europa des 19. Jahrhunderts Die mittelalterliche Diskriminierung und Verfolgung hatte einst große Teile der jüdischen Bevölkerung Westeuropas nach Osteuropa ver- trieben. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts begann in England eine Ära der Toleranz gegenüber den Juden, seit der französischen Revolution in Frankreich und ab 1860 genossen die Juden überall in Westeuropa volle Bürgerrechte. In Osteuropa hatte sich diese Tendenz umgekehrt. Die Juden wurden - wie im mittelalterlichen Westeuropa - in Ghettos gesperrt, Berufs- und Arbeitsbeschränkungen unterworfen und von wiederkehrenden Pogromen heimgesucht. Westeuropa Die bürgerlich-demokratischen Umwälzungen in Westeuropa seit der französischen Revolution hatten den Juden die Gleichstellung als Staatsbürger gebracht. Die kapitalistische Entwicklung verlief hier deutlich früher, schneller und tiefer als in Osteuropa. Die bis- lang große Schicht der jüdischen Händler konnte ins Kleinbürgertum aufsteigen. Die einst im Feudalismus als Geldverleiher fungierende jüdische Oberschicht verwandelte sich in Kapitalisten. Ihr Konzept war die Assimilation - und die Mehrheit der Juden in Westeuropa war Anhänger des politischen Liberalismus. Die religiöse Orthodoxie wich allmählich den Ideen der bürgerlichen Aufklärung. 10 DEUTSCHE LINKE, ZIONISMUS UND NAHOST-KONFLIKT Moses Mendelssohn 1729-1786 Der deutsch-jüdische Philosoph gilt als Wegbereiter der jüdischen Aufklärung (Haskala). Er war Schüler des Dessauer Oberrabbiners David Frankel (1704-1762), eines bedeutenden Gelehrten. Als dieser nach Frankfurt/Oder und bald danach als Oberrabbiner nach Berlin berufen wurde, folgte ihm sein Schüler an die 1742 gegründete Talmudschule nach Berlin. Mendelssohn eignete sich neben seinen Talmudstudien Deutsch und Latein, Französisch und Englisch an. Im Jahr 1754 schloss er Freund- schaft mit Gotthold Ephraim Lessing. Dieser verhalf ihm zur Publikation seiner ersten deutschen Schrift, den »Philosophischen Gesprächen«. Mendelssohn wurde zu einem der einflussreichsten Literaturkritiker der damals entstehenden deutschen Literatur. 1762 heiratete er Fromet Gugenheim, mit der er zehn Kinder hatte. Sein Sohn Abraham ist der Vater des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy. Moses Mendelssohn setzte sich dafür ein, die bedrückte Stellung der jüdischen Minderheit in Europa zu verbessern - sowohl in konkreten Einzelfällen als auch durch seine Publikationen. In seinem Drama »Nathan der Weise« hat Lessing dem Freund ein Denkmal gesetzt. Der Philosoph Moses Mendelssohn hatte einen großen Anteil daran, dass die Mauer, die das orthodoxe Judentum als Schutz gegen moderne, aufklärerische Ideen errichtet hatte, allmählich ins Wanken geriet. Mit der Gleichstellung der Juden in Westeuropa war der Weg für das Aufblühen eines jüdischen Geisteslebens offen. Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Politik wurden von Juden, auch von solchen, die zum Christentum konvertiert oder Atheisten waren, enorm bereichert. Dafür stehen Namen wie Heinrich Heine, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Rahel Varnhagen, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Henri Bergson, Hermann Cohen, Martin Buber, Sigmund Freud, Marc Chagall, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Amedeo Modigliani, Lise Meitner und Albert Einstein.