Conditio Judaica 57 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing Manfred Voigts Die deutsch-jüdische Symbiose Zwischen deutschem Sonderweg und Idee Europa Max Niemeyer Verlag Tübingen 2 0 06 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 13: 978-3-484-65157-9 ISBN 10: 3-484-65157-1 ISSN 0941-5866 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Goebel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren Inhalt Einleitung 1 1 Grandriß 11 2 Beginn der Symbiose 27 2.1 Soziale Voraussetzungen 27 2.2 Mendelssohn und Lessing 36 3 Elemente der Symbiose 53 3.1 Freundschaft 53 3.2 Fortschritt 57 3.3 Erziehung 63 3.4 Religionsverachtung 66 4 Der deutsche Sonderweg 75 4.1 Grundlagen 75 4.2 Philosophie 85 4.3 Individualismus 99 4.4 Sprache 107 4.5 Bildung und Politik 118 4.6 Nationalismus 136 5 Verwandtschaft 161 6 Französische Revolution 181 7 Idee Europa 197 8 Auflösung der Symbiose 217 8.1 Hundert Jahre 217 8.2 Zionismus 231 8.3 Begriff der >deutsch-jüdischen Symbiose< 250 8.4 Europa 253 9 Resümee 265 Literaturverzeichnis 275 Personenregister 305 Einleitung Die deutsch-jüdische Symbiose wird heute weitgehend dargestellt als Mythos mit apologetischem Hintergrund: Das Verhältnis der Deutschen zu den Juden habe doch auch seine guten Seiten gehabt. Die Tatsachen waren aber anders: Der Antisemitismus - untersucht in zahllosen allgemeinen und speziellen Arbei- ten - ist im Verhältnis zwischen Deutschen und Juden vorherrschend gewesen, eine >Symbiose<, ein >Dialog< hat, außer in wenigen Ausnahmefallen, nicht stattgefunden. Zu dieser Interpretation der Symbiose stehen zahlreiche Aussa- gen in diametralem Gegensatz; Aussagen, die die Epoche der Symbiose als eine der wichtigsten und schöpferischsten in der gesamten Geschichte der Juden beschreiben; ergänzt werden diese Aussagen von dem hervorragenden Ruf, den die deutschen Juden gerade in dieser Zeit im Ausland hatten. Die hier vertrete- ne Auffassung geht von anderen Voraussetzungen aus: Das Verhältnis von Deutschen und Juden - dies ist schon eine vereinfachende Gegenüberstellung - hatte einen besonderen deutschen Charakter, und dieser bestand darin, daß die Geschichte Deutschlands durch besondere Umstände geprägt war, die eine tiefe innere Spaltung der Gesellschaft, der sozialen Orientierungen und der geistigen Einstellungen nach sich zogen. Symbiose und Judenfeindschaft konn- ten nebeneinender bestehen, manchmal sogar innerhalb einer Person. Es gab kein einheitliches Deutschland, es gab viele >Deutschlands< - nicht nur wegen der fehlenden staatlichen Einheit, sondern auch aus vielfaltigen sozialpoliti- schen Gründen. Weniger als in anderen europäischen Ländern gab es daher ein Entweder-Oder, es gab viele parallele Entwicklungslinien. Die hier zusammengefaßten Überlegungen zu einem noch immer heftig um- strittenen Thema können und sollen nicht mehr sein als ein Versuch, als ein Grundriß, der durch weitere Untersuchungen gestützt und inhaltlich gefüllt wer- den muß. Die bisherige Forschung ist geteilt: Auf der einen Seite stehen die zahl- losen Einzeluntersuchungen zu jüdischen Persönlichkeiten, die sich selbst entweder explizit als >deutsch-jüdisch< bezeichneten oder von der Wissenschaft als solche eingestuft wurden; auf der anderen Seite stehen die ebenso zahllosen Versuche, das spezifisch Jüdische<, den jüdischen Geist< zu ergründen, zu beschreiben oder zu definieren, um von den Ergebnissen verallgemeinernde Aussagen über die deutsch-jüdische Symbiose zu treffen. Natürlich werden beide Ebenen immer miteinander verbunden, aber der individuelle Aspekt kann mit dem allgemeinen nur in einen letztlich willkürlichen Zusammenhang ge- bracht werden. Wenn man die Veröffentlichungen über Franz Kafka bis Lion Feuchtwanger, von Heinrich Heine bis Paul Celan überschaut, so kann man gelegentlich auf Heinrich Graetz verweisen: 2 Einleitung Was ist nicht alles schon für Judentum ausgegeben worden, seitdem es Objekt des konstruierenden Gedankens wurde! Wie viele Grundansichten über Judentum kamen nicht in jüngster Zeit in Kurs, traten mit exklusiver Geltung auf [...]. Mit diesen Worten eröffnete Graetz Die Konstruktion der jüdischen Geschichte, das erstmals im Jahre 1846 veröffentlicht wurde. Die Willkürlichkeit des Zusammenhangs von individuell-biographischer und allgemein-theoretischer Ebene hat zwei Hauptgründe, die beide ihre Ursache im Nationalsozialismus finden. Es gibt in Deutschland keine jüdische Tradition im kulturellen Sinne mehr, die Träger der Tradition sind vernichtet worden. Allein eine lebendige Tradition könnte den vermißten Zusammenhang wieder- herstellen. Der zweite Grund ist in dem Traditionsbruch des deutschen Selbst- bewußtseins zu finden. Der Nationalsozialismus und die zu ihm führenden Strömungen haben >das Deutsche< nach 1945 so gründlich diskreditiert, daß jede Bezugnahme auf dieses >Deutsche< negativ gesehen wurde und eine histo- risch ausgewogene Betrachtung fast unmöglich war. Die deutsch-jüdische Symbiose wurde so nur von einer Seite aus betrachtet, nämlich von der jüdi- schen Seite aus; die andere und sicher ebenso wichtige Seite, nämlich die deut- sche, wurde völlig ausgeblendet bzw. allein als negativ, als antijüdisch und antisemitisch dargestellt. So war eine angemessene Darstellung der Probleme, die mit der Symbiose verbunden waren, schon vom Ansatz her erschwert. Dan Diner hat 1986 zurecht von einer >negativen Symbiose< gesprochen: Seit Auschwitz - welch traurige List - kann tatsächlich von einer »deutsch-jüdischen Symbiose« gesprochen werden - freilich einer negativen: für beide, für Juden wie für Deutsche, ist das Ergebnis der Massenvemichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbst- verständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit - ob sie es wollen oder nicht. Denn Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis neu aufeinander bezo- gen worden. Solch negative Symbiose, von den Nazis konstituiert, wird auf Generatio- nen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem aber gegeneinander, prägen.1 So richtig dies ist, so klar muß man aber auch festhalten, daß die Folgen des totalitären Nazi-Regimes nicht dazu fuhren dürfen, daß die deutsche Geschichte von uns totalisiert wird. Die deutsche Geschichte hatte immer unterschiedliche und oft widersprüchliche Strömungen, und wenn diese auch durch die Nazis gewaltsam vernichtet oder unterdrückt wurden, so waren sie doch vor ihnen und auch während der Jahre ihrer Herrschaft in Deutschland selbst und im Exil vor- handen. Man muß noch einen Schritt weiter gehen: Die innere gesellschaftliche und politische Zerrissenheit Deutschlands war besonders tief und sie war mit Problemen behaftet, die offensichtlich unter den gegebenen Umständen, zu denen vor allem die verspätete Demokratisierung der Gesellschaft gehörte, letztendlich nicht friedlich lösbar waren. Es gab kein einheitliches >Deutsch- land<, es gab dieses Deutschland nicht zur Zeit der Französischen Revolution, nicht zur Zeit der Befreiungskriegen nicht nach der mißratenen Revolution 1 Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Η. 1 (1986), S. 9-20, hier S. 9. Einleitung 3 1848 und auch nicht zur Zeit der Reichsgründung 1871; gerade hier spalteten sich die Deutschen fast deutlicher als je zuvor in die Vertreter von Demokratie, Emanzipation und Arbeiterbewegung auf der einen, und Vertreter von Kirche, Adel und Kaisertum, Großgrundbesitzer und Industriellen auf der anderen Sei- te. Es ist alles andere als ein Zufall, daß die Demarkationslinie zwischen der Beurteilung der deutsch-jüdischen Symbiose als geradezu weltgeschichtlichem Glücksfall auf der einen und ebenso weltgeschichtlichem Irrtum auf der ande- ren Seite genau in den Spuren dieser Spaltung verläuft. Es ist das zentrale An- liegen dieses Buches, diese beiderseitig übertriebenen Urteile zu relativieren. Die deutsch-jüdische Symbiose kann nur dann angemessen beschrieben wer- den, wenn sie als historisches Ereignis betrachtet wird, das unter bestimmten Umständen entstanden ist und das unter bestimmten Umständen anders hätte beendet werden können, als es dann so furchtbar geschehen ist. Hierher gehört, daß viele jüdische Emigranten nach 1933 von zweierlei Deutschland sprachen, von einem zivilisierten und einem barbarischen Deutsch- land (s. Kap. 9).2 Den Ursprung dieser Spaltung findet man in der Zeit der Besetzung Deutschlands durch die Truppen Napoleons und in den Jahren der Befreiungskriege. Die Alternative zwischen dem revolutionären und freiheitli- chen Frankreich, die das eigene Land besetzt hielt, und dem Vaterland, das weiterhin, wenn auch gelegentlich >aufgeklärt<, absolutistisch regiert wurde, beherrschte das politische und geistige Leben. In diesen Jahren entstand das höchst problematische Selbstverständnis der Deutschen; hier entwickelten sich auch die Grundlagen der deutsch-jüdischen Symbiose. Sie sind durch diese äu- ßerst problematische Situation gekennzeichnet und bleiben es durch die beson- dere Geschichte der Deutschen und ihr Selbstverständnis.3 Nur wenn man bei der Analyse der Frage, was diese Symbiose sei, neben die Frage: Was ist das Judentum? die Frage: Was ist das Deutschtum? stellt, kann ein ausgewogenes Bild entstehen. Die Diskussionen um die deutsch-jüdische Symbiose sind durch die Position, die Gershom Scholem in diesem Bereich einnahm,4 leider mit Fragestellungen in Zusammenhang gebracht worden, die eine Einsicht in die historischen Abläufe eher verdecken als erkennbar machen. Scholem behauptete, die deutschen Juden hätten mit und nach Mendelssohn die >jüdische Totalität aufgegeben und nur noch >klägliche Stücke< gerettet; die Symbiose sei eine fast ausschließlich einsei- tige Angelegenheit gewesen; sie sei eine >Fiktion< gewesen, für die die Juden 2 Vgl. Peter Gay: Begegnung mit der Moderne. Die deutschen Juden in der Wilhelmi- nischen Kultur. In: ders., Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. Hamburg: Hoffmann und Campe 1986, S. 115-188, hier S. 185. 3 Zur Entwicklung in Frankreich vgl. Esther Benbassa: Geschichte der Juden in Frank- reich. Berlin, Wien: Philo 2000, S. 158ff. 4 Vgl. vor allem Gershom Scholem: »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Ge- spräch«, »Noch einmal: >das deutsch-jüdische Gespräch<« und »Juden und Deutsche«, in: ders., Judaica 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp; 263), S. 7-11, 12-19 und 20-46. 4 Einleitung »zu hoch bezahlt« hätten. - Diesen Vorwurf übrigens hatte Scholem schon 1934 gegenüber der Neo-Orthodoxie Samson Raphael Hirschs erhoben.5 Es ist sehr fraglich - und von der Geschichtswissenschaft durchaus bestrit- ten -, ob es zu Mendelssohns Zeiten diese >jüdische Totalitär noch gab; diese Totalität war, wie die lange Geschichte der Juden und ihr Zusammenleben mit anderen Völkern zeigt, nur möglich unter besonderen Bedingungen, nämlich im Ghetto. Dort, wo die Juden nicht im Ghetto lebten, gab es in unterschiedlichem Ausmaß immer Assimilationserscheinungen, die der >Totalität< Abbruch taten. Immerhin retteten auch nach Scholem die Juden Stücke des Judentums; ob diese >kläglich< waren, ist eine Frage der sehr subjektiven Bewertung, wenn man den durchaus begrenzten Horizont Deutschlands verläßt, so ist deutlich, daß die Juden Europas und der USA die Juden Deutschlands sehr hoch einschätzten und die dortigen Entwicklungen in unterschiedlichem Ausmaß als Vorbild ansahen. Daß die Symbiose eine einseitige Angelegenheit gewesen sei, kann angesichts der Bedeutung vieler Juden in den verschiedensten kulturellen Bereichen nicht ernsthaft behauptet werden. Juden waren in die deutschen Kulturströmungen integriert und fanden ihr nicht-jüdisches Publikum. Die Frage, ob diese Juden ihren Anteil an der Kultur als Juden erbrachten, muß diskutiert werden, darf aber nur innerhalb des Rahmens der Kultur beantwortet werden, die weitge- hend entkonfessionalisiert war. Die Frage nach der Fiktionalität der Symbiose hat zwei Seiten: Sie fragt nach der Qualität von Geschichte überhaupt, die in der Neuzeit immer stärker und seit der Französischen Revolution mit besonderer Intensität durch geistige, d. h. zunächst nicht realisierbare, also fiktionale, aber dennoch anzustrebende gesellschaftspolitische Vorstellungen geprägt wurde. Fiktionalität wurde so zu einem Bestandteil der Realgeschichte. Die andere Seite der Frage zielt auf den Antisemitismus. Die Aussage, die Symbiose sei zu hoch bezahlt worden, zielt offensichtlich auf die Shoah. Dieser Zusammenhang ist aber unzulässig; keineswegs wurden nur assimilierte oder an der Symbiose teilnehmende Juden vernichtet, sondern auch die Ostjuden, die gerade keine Symbiose anstrebten (und daneben Kom- munisten, Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Homosexuelle usw.). Die Ver- knüpfung der Symbiose mit dem Antisemitismus ist auch deshalb fragwürdig, weil die Symbiose gerade keine Antwort auf ihn war, sondern diesen als im Wesentlichen überwunden ansah - er wurde einer vergangenen Epoche zuge- hörig empfunden -; die Symbiose hatte nie das Ziel, den Antisemitismus zu bekämpfen. Der Fehler der Kritiker der deutsch-jüdischen Symbiose ist gene- rell der, daß sie voraussetzen, daß die Bildung >an der Macht< gewesen sei, daß also der negative Geschichtsverlauf auf einen Fehler, ein Versagen der Sym- 5 Gerhard Scholem: Politik der Mystik. Zu Isaac Breuers »Neuem Kursari«. In: Jüdische Rundschau, Jg 39, Nr 57, 17. Juni 1934, S. 1-2; vgl. hierzu: Jacob Rosenheim: Das Bildungsideal S. R. Hirschs und die Gegenwart. Frankfurt a. M.: Hermon-Verlag o. J. [1935], S. 42.