JEFFREY ARCHER Die chinesische Statue UND ANDERE ÜBERRASCHUNGEN PAUL ZSOLNAY VERLAG WIEN HAMBURG Anmerkung des Autors Zehn der folgenden elf Erzählungen beruhen auf wahren Begeben- heiten (einige sind allerdings mit einem erheblichen Maß an dichte- rischer Freiheit ausgeschmückt). Nur eine einzige ist vollständig meiner Phantasie entsprungen. Zu der Erzählung „Der Lunch“ habe ich mich von Somerset Maugham inspirieren lassen. Alle Rechte vorbehalten © Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m.b.H. Wien/Hamburg 1984 Originaltitel: A Quiver Full of Arrows, Copyright © 1980 by Jeffrey Archer. Umschlagentwurf und Einband: Werner Sramek Fotosatz: Die Redaktion, Wien Druck und Bindung: Wiener Verlag Printed in Austria ISBN 3-552-03615-6 Nach sehr erfolgreichen Romanen beweist Archer jetzt auch in der kurzen Form erzählerisches Talent. Trotz unterschiedlichster Thematik – die Schau- plätze wechseln von der Antike zur Gegenwart, von Geschäftsetagen zu U-Bahn-Schächten, von paläs- tinensischen Dörfern zu chinesischen Palästen – hat jede Geschichte ihre eigene, in sich geschlossene Atmosphäre, bleibt auch auf knappem Raum Zeit für kontinuierliche Entwicklung und Vorbereitung der jeweils überraschenden Schlußpointe. Eine unter- haltsame Lektüre mit Stil, Witz und hintergründigem Humor. Die englische Literaturkritik vergleicht den Autor bereits mit Somerset Maugham. Für Robin und Carolyn Die chinesische Statue Die kleine chinesische Statue war der nächste Ge genstand, der unter den Hammer kam. Posten No. 103 rief jenes leise Gemurmel hervor, das der Ver steigerung eines Meisterwerks jeweils vorausgeht. Der Gehilfe des Auktionators hielt den elfenbeiner nen Gegenstand in die Höhe, damit ihn jeder in der dichtgedrängten Menge sehen konnte; der Auktio nator seinerseits ließ seine Blicke durch den Saal schweifen, um festzustellen, wo die ernstzuneh menden Käufer placiert waren. Ich studierte meinen Katalog, der eine exakte Beschreibung sowie Anga ben über die Herkunft dieser Figurine enthielt. Sie war im Jahre 1871 in Ha Li Chuan gekauft wor den und stammte – laut der seltsamen Formulierung des Auktionshauses Sotheby – „aus dem Besitz eines Gentleman“. Eine derartige Feststellung deutet im allgemeinen darauf hin, daß ein Mitglied des Adels in die mißliche Lage geraten ist, sich von einem Erb stück trennen zu müssen. Ich fragte mich nun, ob das im vorliegenden Fall wohl zutraf, und beschloß, der Sache nachzugehen, um herauszufinden, auf welchem Wege der kleine Elfenbeinchinese – hundert Jahre nach seinem An kauf – in die Auktion an diesem Donnerstagmorgen geraten war. „Posten No. 103“, verkündete der Sensal. „Wer bie tet für dieses einmalige Stück aus…?“ Sir Alexander Heathcote war nicht nur ein Gentle man, sondern vor allem ein sehr genauer Herr. Er war genau einen Meter einundneunzig groß, stand jeden Morgen um punkt sieben Uhr auf, gesellte sich dann zu seiner Gemahlin an den Frühstückstisch, aß ein genau vier Minuten lang gekochtes Ei und zwei Stück Toast mit je einem Löffel Coopers Orangen marmelade und trank dazu eine Tasse chinesischen Tee. Danach verließ er um genau acht Uhr und zwanzig Minuten sein Haus in Cadogan Gardens und bestieg eine Mietdroschke, um Schlag acht Uhr neu nundfünfzig im Foreign Office einzutreffen; punkt sechs Uhr abends war er wieder zu Hause. Sir Alexander war seit frühester Jugend ein Muster an Genauigkeit, wie es sich für den Sohn eines Ge nerals geziemte. Im Gegensatz zu seinem militaris tischen Vater beschloß er, seiner Königin als Diplo mat zu dienen, ein Beruf, der ebenfalls große Genauigkeit erforderte. Seine Laufbahn begann er an einem Gemeinschaftsschreibtisch im Foreign Of fice, wurde anschließend Dritter Sekretär an der Botschaft in Kalkutta, dann Zweiter Sekretär in Wien, Erster Sekretär in Rom, Gesandter in Was hington und schließlich Botschafter in Peking. Sir Alexander war William Gladstone sehr zu Dank ver pflichtet, daß er seine Regierung just in China ver treten durfte, denn er hegte schon seit langem ein mehr als nur oberflächliches Interesse für die Kunst der MingDynastie. Nun, am Höhepunkt seiner Lauf bahn, würde es ihm möglich sein, an Ort und Stelle die herrlichen Statuen, Gemälde und Zeichnungen zu bewundern, die er bislang nur aus Büchern kannte. Nach einer fast zwei Monate dauernden Reise zu Wasser und zu Lande in Peking angelangt, über reichte Sir Alexander der Kaiserin TzuHsi sein Be glaubigungsschreiben nebst einem persönlichen Brief von Königin Victoria. Die Kaiserin, von Kopf bis Fuß in Weiß und Gold gekleidet, empfing den neuen Botschafter im Thronsaal des kaiserlichen Palastes. Während sie den Brief der britischen Monarchin las, verharrte Sir Alexander in HabtAchtStellung. Ihre Kaiserliche Hoheit verriet jedoch nichts von dessen Inhalt, sondern wünschte dem neuen Botschafter nur viel Erfolg für seine Mission. Darauf verzog sie ihre Mundwinkel ganz leicht nach oben, womit, wie Sir Alexander richtig erfaßte, die Audienz beendet war. Auf dem Rückweg durch die Säle des kaiserli chen Palastes in Begleitung eines Mandarins in der schwarzgoldenen Hoftracht ging Sir Alexander so langsam wie möglich, um einen Blick auf die beein druckende Sammlung von Elfenbein und Jadesta tuen werfen zu können, die scheinbar wahllos über den ganzen Palast verstreut waren – ähnlich wie heutzutage in Florenz die Cellinis und Michelangelos kunterbunt durcheinander stehen. Da seine Bestellung als Botschafter in Peking auf nur drei Jahre befristet war, beschloß Sir Alexander, keinen Heimaturlaub zu nehmen, sondern in seiner Freizeit China zu Pferd zu durchstreifen, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Auf diesen Reisen wurde er von einem Mandarin des kaiserlichen Ho fes begleitet, der ihm als Reiseführer und Dolmet scher diente. Einmal, sie waren etwa fünfzig Meilen von Peking entfernt, ritten sie durch die schlammigen Gassen eines winzigen Dorfes namens Ha Li Chuan. Dort stießen sie auf die Hütte eines alten Handwerkers. Sir Alexander stieg vom Pferd, ließ seine Diener schaft zurück und betrat die baufällige Werkstatt, deren Regale mit den zartesten Figuren aus Jade und Elfenbein vollgeräumt waren. Zwar waren sie jüngsten Datums, jedoch offensichtlich von der Hand eines Künstlers gefertigt, und so beschloß der Bot schafter, eines der Stücke als Erinnerung an diese Reise zu erwerben. Die Hütte war sichtlich nicht für einen Besucher seiner Körpergröße gebaut, und aus Angst, eine der kleinen Figuren von den Regalen zu stoßen, blieb er wie angewurzelt stehen und sog wie verzaubert den zarten Jasminduft ein, der den Raum erfüllte. Der alte Meister eilte herbei, um den Gast zu be grüßen; er trug ein langes, blaues KuliGewand und einen flachen, schwarzen Hut, unter dem ein pech schwarzer Zopf auf seinen Rücken hinabbaumelte. Er verneigte sich zunächst tief und blickte dann zu dem Riesen aus England empor. Dieser verneigte sich seinerseits, während der Mandarin dem Meister erklärte, wer der hohe Besucher sei und daß er wünsche, die Kunstwerke besichtigen zu dürfen. Der Alte nickte zum Zeichen des Einverständnisses, noch ehe der Mandarin zu Ende gesprochen hatte. Eine gute Stunde lang betrachtete Sir Alexander die klei nen Meisterwerke mit wohlgefälligem Lächeln; da nach wandte er sich an den Alten und pries dessen Kunstfertigkeit. Dieser verbeugte sich abermals, sein scheues, zahnloses Lächeln verriet tiefempfun dene Freude über des Botschafters Lob. Er deutete mit ausgestrecktem Finger in die Tiefe seiner Werk statt und gab den beiden ehrwürdigen Gästen einen Wink, ihm zu folgen. Sie betraten eine wahre Schatzkammer voll mit exquisiten Miniaturkaisern und anderen klassischen Figuren. Wie gerne hätte Sir Alexander hier in diesem Elfenbeinreich viele, viele Tage verbracht! Dank dem sprachgewandten Mandarin führte er mit dem alten Meister ein sehr angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf Sir Alexan ders große Liebe und profunde Kenntnis der MingDynastie offenbar wurde. Plötzlich leuchtete