Frank Brettschneider· Jan van Deth . Edeltraud Roller (Hrsg.) Die Bundestagswahl 2002 Schriftenreihe des Arbeitskreises "Wahlen und politische Einstellungen" der Deutschen vereinigung fOr Politische Wissenschaft (DVPW) Band 10 Frank Brettschneider Jan van Deth . Edeltraud Roller (Hrsg.) Die Bundestagswahl 2002 Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN + VS VERLAG FOR SOZtAlWISSENSCHAFTEN VS verlag fUr Sozialwissenschaften Entstanden mit Beginn des Jahres 2004 aus den beiden Hausern Leske+Budrich und westdeutscher verlag. Die breite Basis fUr sozialwissenschaftliches Publizieren Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ober <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage Mai 2004 Aile Rechte vorbehalten © VS Verlag fUr Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004 Lektorat: Frank Schindler Der VS Verlag fUr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschOtzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei cherung und Verarbeitung in elektronischen systemen. 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Priming-Effekte bei der Bundestagswahl 2002 ........................ ........ ..... 23 Jiirgen Hofrichter Die Rolle der TV-Due lIe im Bundestagswahlkampf2002 51 Jiirgen Maier Wie stabil ist die Wirkung von Fernsehduellen? Eine Untersuchung zum Effekt der TV- Debatten 2002 auf die Einstellungen zu Gerhard Schroder und Edmund Stoiber ................................................................ 75 Winfried Schulz und Reimar Zeh Die Fernsehprasenz der Kanzlerkandidaten im Wandel. Analyse der Wahlkampfberichterstattung 1990-2002............................. 95 Sandra Wagner Die Nutzung des Internet als Medium fill die politische Kommunikation: Reinforcement oder Mobilisierung? ......................... 119 II. Rationale Wahler Bernhard Wej3els Sachfragen, generalisierte politische Positionen und Leistungs- bewertungen: Zur Konditionierung praferenzorientierten Wahlens ..... 143 Thomas Gschwend und Franz Urban Pappi Stimmensplitting und Koalitionswahl .................................................. 167 Katja Neller und S. Isabell Thaidigsmann Wer wahlt die PDS? Ein Vergleich von Stamm-und Wechselwahlem bei den Bundestagswahlen 1994-2002 ...................... 185 III. Wahlbeteiligung und Wahlumfragen Oscar W Gabriel und Kerstin Volkl Auf der Suche nach dem Nichtwahler neuen Typs. Eine Analyse aus Anlass der Bundestagswahl 2002......................... .... 221 Silvia Ellermann Die Bedeutung der Briefwahler bei der BundestagswahI2002............. 249 Thorsten Faas und Hans Rattinger Drei Umfragen, ein Ergebnis? Ergebnisse von Offline-und Online- UmfJ:agen anlasslich der Bundestagswahl2002 im Vergleich ............ 277 IV. Politische Reprasentation Hermann Schmitt und Andreas M Wilst Direktkandidaten bei der Bundestagswahl 2002: Politische Agenda und Links-Rechts-Selbsteinstufung im Vergleich zu den Wahlem ...... 303 Joachim Behnke Parteienstruktur und Dberhangmandate ............................................... 327 Silke 1. Keil Parteiprogrammatik in Wahlkampfanzeigen und Wahlprogrammen 1957 -2002: Und es gibt ihn doch - den (kleinen) Unterschied ...... ...... 353 Autoren ................................................................................................. 391 Frank Brettschneider, Jan van Deth und Edeltraud Roller Die Bundestagswahl2002: Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes 1. Die Bundestagswahl 2002 Eines der kennzeichnenden Merkrnale der Bundestagswahl yom 22. Septem ber 2002 war das knappe Wahlergebnis. Die SPD erreichte lediglich 6027 Stimmen mehr als die CDU. Die rot-griine Bundesregierung konnte in ihrem Amt nur deshalb bestlitigt werden, weil sie insgesamt vier Uberhangmandate gewann und die Griinen, vor allem in Westdeutschland, relativ gut abge schnitten haben (Roth 2003: 35). Die vorangehende Bundestagswahl 1998 stellte eine Zasur dar, weil zurn ersten Mal in der Geschichte der Bundesre publik eine amtierende Bundesregierung unmittelbar durch das V otum der Wahler abgelost und durch eine neue ersetzt wurde. Die Besonderheit der Bundestagswahl 2002 besteht darin, dass die amtierende rot-griine Bundesre gierung trotz gravierender okonomischer Probleme wieder gewahlt worden ist. Eine etablierte Erkenntnis der empirischen Wahlforschung, wonach die Wahler amtierende Regierungen an ihren okonomischen Leistungen messen und diese bei schlechter okonomischer Performanz abwahlen, konnte in die sem Fall nicht bestatigt werden. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb bemer kens wert, weil Bundeskanzler Gerhard Schroder im Wahlkampf 1998 ver sprochen hatte, "die Arbeitslosenquote signifikant zu senken" und fUr den Fall des Scheitems ankiindigte, dass "wir es nicht verdienen, wieder gewahlt zu werden, noch werden wir wieder gewahlt" (SPIEGEL 1998: 38ff., zitiert nach FaaslRattinger 2003). Der Bundestagswahl 2002 ging ein Wahlkampf voraus, der durch ein Kopf-an-Kopf-Rennen charakterisiert war. Bis in den Friihsommer 2002 do minierte in den Meinungsumfragen die Union vor der SPD. Der CDU/CSU war es gelungen, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Themen in den V or dergrund zu stellen und mit Edmund Stoiber einen Kanzlerkandidaten zu no minieren, dem die Biirger in diesen Bereichen eine vergleichsweise hohe Kompetenz zusprachen. Zu diesem Zeitpunkt sahen die Medien und einige Umfrageinstitute bereits eine CDU/CSU-FDP-Regierung als relativ sicheren Sieger. Dieser Trend kehrte sich jedoch im August 2002 im Zusammenhang mit zwei unerwarteten Ereignissen urn, die die Bundesregierung und insbe- 10 Frank Brettschneider, Jan van Deth, Edeltraud Roller sondere Bundeskanzler Schroder fur sich zu nutzen vermochte. Zum einen der sich abzeichnende Irak-Krieg. Bundeskanzler Schroder verkiindete be reits Anfang August, dass sich Deutschland daran nicht beteiligen werde und wusste dabei die iiberwaltigende Mehrheit der BUrger hinter sich. Zum ande ren die Flutkatastrophe Mitte August in Ostdeutschland, bei der es der Bun desregierung und Kanzler Schroder gelang, nicht nur die Fahigkeit zum Kri senmanagement und umweltpolitische Kompetenz, sondem auch Einsatz und Mitgefuhl fur die betroffene Region zu demonstrieren. Die Oppositionspar teien und ihr Kanzlerkandidat haben auf diese neuen Ereignisse und Themen nicht schnell genug und angemessen reagieren konnen (Niedermayer 2003; Roth 2003). Sowohl im Wahlergebnis als auch im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 kommen langfristige und grundlegende Trends zum Ausdruck. Gesell schaftliche Prozesse der Individualisierung sind dafur verantwortlich, dass die Wahler sich von traditionellen Sozialmilieus ablosen und dass die Bedeu tung dauerhafter Faktoren fur die Wahlentscheidung - vor aHem die Bedeu tung der Parteiidentifikation - abnimmt. Kurzfristige und variable Faktoren wie die Kandidaten- und Sachfragenorientierungen gewinnen demgegeniiber an Bedeutung. Da diese prinzipiellleichter beeinflussbar sind, werden Wahl kampfe in modemen Demokratien immer wichtiger. Charakteristische Merk male dieser Wahlkampfe sind einerseits das Themenmanagement durch die politischen Parteien, also der Versuch, die Tagesordnung der in den Medien diskutierten Themen so zu beeinflussen, dass die eigene Partei und der eigene Kandidat davon profitiert (Brettschneider 2002: 38). Ein anderes Merkmal ist die Personalisierung, also die Konzentration der Berichterstattung auf die je weiligen Spitzenkandidaten. Ein hervorgehobenes Moment dieser Personali sierung, das erstmals im Bundestagswahlkampf 2002 angewandt wurde, wa ren die beiden "TV DueHe" zwischen Bundeskanzler Schroder und seinem Herausforderer Stoiber, die im August und im September 2002 im Femsehen live iibertragen worden sind. Auch im Hinblick auf das unterschiedliche Wahlerverhalten in West und Ostdeutschland mgt sich die Bundestagswahl 2002 in ein bereits bekann tes Muster. Ein offensichtlicher Hinweis ftir diese Differenz, die mit dem Be griff der zwei getrennten Elektorate bezeichnet wird (DaltonIBiirklin 1995; RohrschneiderlFuchs 1995), ist das relativ starke Abschneiden der PDS in Ostdeutsch1and, auch wenn diese ziemlich starke Verluste hinnehmen musste und nur noch mit zwei direkt gewahlten Vertretem im Bundestag vertreten ist. Dazu gehoren aber auch das im Vergleich zu Westdeutschland schlechte re Abschneiden der CDU und die deutlich niedrigere Wahlbeteiligung in Ost deutschland (ArzheimerlFalter 2002). Eine Annaherung der beiden Teile Deutschlands im Wahlerverhalten ist auch nach der vierten, gesamtdeutschen Bundestagswahl noch nicht in Sicht. Bundestagswahl2002 11 Ziel der im vorliegenden Band prasentierten Beitrage ist es, die zahlrei chen Facetten des Wahlkampfes und des Wahlerverhaltens bei der Bundes tagswahl 2002 vor dem Hintergrund dieser langfristigen und allgemeinen Entwicklungen zu analysieren. 2. Beitriige Die ersten Fassungen dieser Beitrage wurden auf der Tagung des Arbeitskrei ses "Wahlen und politische Einstellungen" der Deutschen Vereinigung fill Politische Wissenschaft (DVPW) im Juni 2003 an der Universitat Stuttgart prasentiert. Der Band umfasst vier Teile: Kandidaten und Wahlkampf (I), Ra tionale Wahler (II), Wahlbeteiligung und Wahlumfragen (III) sowie Politi sche Reprasentation (IV). Die im Bundestagswahlkampf 2002 erstmals durchgeflihrten "TV-Duel Ie" zwischen Bundeskanzler Gerhard Schroder und seinem Herausforderer Edmund Stoiber sowie ihre Implikationen fUr den Wahlkampf und das Wah lerverhalten stehen im Mittelpunkt des ersten Teils tiber die Kanzlerkandida ten und den Wahlkampf Fill Harald Schoen bildet die Aufholjagd der rot griinen Regierung wahrend des Wahlkampfes 2002, die schlieBlich zum Wahlsieg flihrte, den Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Als Erklarung fUr die Anderungen in der Wahlabsicht der Bundesbillger kommen vor allem zwei Moglichkeiten in Betracht: ein Einstellungswandel oder aber eine Um gewichtung der Entscheidungskriterien. Harald Schoen untersucht Letzteres: Haben sich im Wahlkampf die Einfltisse der Parteiidentifikation, der Kandi daten- und der Themenorientierungen auf die Wahlabsicht verschoben? Mit dem "Priming" greift er ein Konzept aus der Medienwirkungsforschung auf, wonach es fUr politische Parteien die erfolgversprechendste Strategie in ei nem Wahlkampf ist, j ene Themen in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu mcken, bei denen man selbst als kompetent angesehen wird (Agenda Setting), und jene Themen von der Tagesordnung zu drangen, die einem eher schaden (Agenda-Cutting). Diejenigen Aspekte, die von den Medien aufge griffen werden, bilden dann vor all em fUr die noch unentschiedenen Wahle rinnen und Wahler die Bewertungsgrundlage bei ihrer Wahlentscheidung. Wahlkampf ist damit also vor all em ein Kampf urn die politische Tagesord nung, weil tiber sie die Kriterien flir den Wahlentscheid maJ3geblich festge legt werden. Die auf diese Uberlegungen aufbauende empirische Untersuchung ba siert auf Daten aus 21 Politbarometer-Umfragen der Forschungsgruppe Wah len vom Januar 2002 bis zum Wahltag. Dernnach ist die Parteiidentifikation wahrend des gesamten Wahlkampfes von etwa gleich bleibend groJ3er Bedeu tung flir die Wahlabsicht. Die Bedeutung der Themen- und der Kandidaten orientierungen andert sich hingegen - vor allem im Zuge der beiden "TV-Du- 12 Frank Brettschneider, Jan van Deth, Edeltraud Roller elle". Der Bundesregierung kam vor allem das Thema ,,Hochwasserhilfe" zu gute (kurioserweise vor allem in den alten BundesHindem), fiir die Union er wies sich zudem die ablehnende Haltung der Wahlerinnen und Wahler ge geniiber einer deutschen Beteiligung an einem Krieg gegen das irakische Re gime als nachteilig. Vor allem aber sind die Bewertungsmaf3stabe der Wahle rinnen und Wahler variabel. Nach dem ersten "TV-Duell" gewannen wirt schaftsspezifische Themenorientierungen an Bedeutung, nach dem zweiten "TV-Duell" riickten die Kandidatenorientierungen starker in den Vorder grund - vor allem bei den Wahlem der SPD. Nach der bi- und multivariaten Untersuchung des Wandels der Wahlermotive werden dessen Auswirkungen auf den Wahlausgang simuliert. Demnach hat die Kandidatenkonstellation die SPD begiinstigt. Zudem waren ihre Erfolgsaussichten ohne das Elbe Hochwasser deutlich schlechter gewesen, wahrend die Union ohne die Irak Diskussion erheblich besser abgeschnitten hatte. Dies unterstreicht emeut die Wichtigkeit eines professionellen Themen- und Ereignismanagements durch die Parteien, wenn sie die Wahl gewinnen wollen. Mit den zentralsten medialen Ereignissen des Wahlkampfes - mit den beiden "TV-Duellen" - beschaftigt sich Jiirgen Hofrichter eingehender. Da bei steht im Mittelpunkt, wie die Kandidaten wahrgenommen wurden und ob sich die Wahmehmungen kurzfristig in den wahlrelevanten Einstellungen niedergeschlagen haben. Die Datengrundlage bilden zum einen Infratest di map-Zuschauerbefragungen unmittelbar vor und nach den "TV-Duellen", zum anderen aber auch die reprasentativen Trenderhebungen und die Wahl tagsbefragung von Infratest dimap. Die Befragten bewerteten die "TV-Due l Ie" als eine wichtige Gelegenheit, urn etwas iiber die Standpunkte der Kandi daten erfahren zu konne. Unmittelbar nach den Sendungen meinten vier von zehn Zuschauem, die "TV-Duelle" seien eine unmittelbare Hilfe beim Tref fen der eigenen Wahlentscheidung gewesen. In der Wirkung zeigen sich al lerdings Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Aufeinander treffen der Kontrahenten. Wahrend des ersten ,,DueHs" wurden Schroder und Stoiber in erster Linie durch die BriBe der eigenen Parteiidentifikation wahr genommen. Die Unentschiedenen wurden jedoch mobilisiert, wobei sich ein deutliches Ost-West-GefliHe zeigte: In den alten Bundeslandem konnte Stoi ber iiberzeugen - vor aHem mit Wirtschaftsthemen -, in den neuen Bundes landem Schroder. Mit Hilfe des zweiten "TV-Duells" konnte SchrOder seinen Vorsprung vor Stoiber ausbauen. Vor aHem im Osten konnte er ehemalige Stoiber-Anhanger mit den Themen Flut und Irak fliT sich iiberzeugen. Stoibers Imagegewinn nach dem ersten "Duell" war nur von kurzer Dauer. Schroders Gewinn nach dem zweiten konnte sich jedoch stabilisieren und schlug sich auch in der Wahlabsicht zugunsten der SPD nieder. Somit hat vor aHem das zweite "Duell" den einsetzenden Stimmungsumschwung zugunsten der SPD verstarkt.
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