Originalveröffentlichung in: Groschner, Gabriele (Hrsg.): Beredte Hände : die Bedeutung von Gesten in der Kunst des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart [Ausstellungskatalog], Salzburg 2004, S. 25-51 Die beredte Hand im neuzeitlichen Kunstdiskurs Ulrich Rehm l Im Jahr 1416 entdeckte Poggio Bracciolini während des dungen bot: sei es zur Schönheit der Körperbewegun Konstanzer Konzils in der Stiftsbibliothek von Sankt gen, zum universalsprachlichen Charakter, zur affekti Gallen ein Manuskript, das den vollständigen Text ven Wirkung auf die Betrachter oder zum Vergleich der eines der wichtigsten antiken Traktate zur Rhetorik ent Rhetorik mit der bildenden Kunst. Quintilian hatte hielt: Quintilians „Zwölf Bücher über die Ausbildung den Redner mit dem Künstler und die Rede mit dem des Redners"1. Zwar hatte man im Mittelalter fragmen Kunstwerk verglichen, und zunächst waren gerade die tarische Kenntnis von diesem Text besessen, dennoch se ganz grundsätzlichen Vergleiche und die damit ver kam der Fund einer Wiederentdeckung gleich, die auf knüpften Argumente für die Kunstliteratur der frühen fruchtb aren Boden fiel. Die zahlreichen anderen anti Neuzeit von Interesse. Immerhin konnte man sich hier ken Werke zur Rhetorik, die im Mittelalter geläufig einer Kunst anschließen, die wegen ihrer Zugehörigkeit waren, räumten der Gestik zwar einen zentralen, wenn zu den so genannten Freien Künsten von vornherein nicht gar, wie bei Cicero oder Demosthenes, den wich geadelt war. tigsten Stellenwert für das Gelingen einer Rede ein, E äußerten jedoch nur wenig Konkretes dazu. Quintilian s ist das Verdienst Leon Battista AJbertis (1404 hingegen bot im elften Buch seines Traktats ausführli 1472), gerade die wirkungsästhetischen Gesichts che Beschreibungen zur „actio" des Redners.2 punkte der antiken Rhetorik auf den Diskurs über die Die durchschlagende Wirkung des Textes gerade für die bildende Kunst übertragen zu haben.3 In dem 1435 Entwicklung der neuzeitlichen Kunsttheorie lag jedoch verfassten, ersten theoretischen Traktat über die Male weniger in der Ausführlichkeit der Beschreibungen rei setzte Alberti besonders auf den Begriff der Bilder begründet, denn eine gewisse Grundkenntnis antiker zählung, der „historia" oder „(i)storia", um die Nobi Gestik hatte sich auf verschiedenen Wegen, nicht lität der Malerei über die Tradition des zünftisch zuletzt über die vorhandenen Bildwerke der Antike, geprägten Handwerks hinaus zu verdeutlichen. Der etwa in Sarkophagreliefs, erhalten. Von entscheidender Maler muss die seinen Bildern zugrunde liegende Bedeutung ist, dass der Text zu nahezu allen Bereichen, Geschichte beherrschen und sich in der Kunst der die die neuzeitliche Rolle der Gestik in der bildenden Erzählung beweisen. Schon deshalb wird das Historien Kunst betreffen, ausführliche Äußerungen und Begrün bild als die Krönung der im einzelnen noch wenig aus 25 differenzierten Bildgattungen präsentiert. Besonders der Antike als die höchste galt: das „movere", das heißt die Aspekt der „inventio" wird für den Schöpfungsprozess seelische Erregung der Rezipienten. Dies geschieht auf eines Bildes herausgehoben: der Schritt also, der dem Grundlage einer nicht näher ausgeführten Affektenleh handwerklichen Schaffen vorausgeht, und zugleich der re, wie sie auch Quintilians Rhetorik zugrunde liegt. jenige, mit dem auch das Produktionsmodell der Rhe Danach vermag der körperliche Ausdruck eines be torik beginnt. Von hier war er längst in die Regelwerke stimmten Affektes den entsprechenden Affekt bei den zur Poetik eingeflossen. Alberti betreibt also ein „ut pic jenigen auszulösen, die jenen wahrnehmen. tura poesis" auf dem Umweg über eine bereits in der D Antike geadelten Kunst. amit ist für die Wertschätzung der Malerei ein Damit verlagert Alberti den entscheidenden Schritt der Argument ins Spiel gebracht, das die Geschichte Kunstproduktion in den Bereich des Geistigen: Nicht der neuzeitlichen Malerei maßgeblich prägen sollte. Es umsonst lässt er die seither immer wieder rezitierte und war besonders Leonardo da Vinci (1452 1519), der in Bilder umgesetzte antike Bildbeschreibung Lukians das wirkungsästhetische Potenzial der bildenden Kunst zur „Verleumdung des Apelles" als Beispiel für eine nicht nur leidenschaftlich propagierte, sondern mit „inventio" folgen, eben um zu zeigen, dass bereits der einer Hierarchisierung der menschlichen Sinne ver Gedanke eines Bildes von solcher Schönheit sei, dass es knüpfte, die es ihm erlaubte, die Wirkungsmacht der der Umsetzung in ein Gemälde kaum mehr bedürfe. Malerei über die aller anderen Künste zu erheben.5 In Der Einsatz unterschiedlicher Gesten ist für Alberti ein seinen um 1500 entstandenen Notizen zur Malerei, die wesentliches Mittel, die Vielfalt und Varietät der Bild man im Laufe der Geschichte immer wieder versucht komposition zu garantieren. Für die weitere Entwick hat, zu einer Art Traktat zusammenzustellen, nimmt lung des neuzeitlichen Kunstdiskurses ist jedoch vor der ParagoneAspekt viel Raum ein. Während die Poe allem eines von zentraler Bedeutung: die der Gestik sie auf diejenigen wirken könne, die blind seien, argu zugesprochene Rolle für die Wirkung eines Bildes auf mentiert Leonardo, so könne es die Malerei auf dieje seine Betrachter: nigen, die taub seien. Die Malerei bewahre aber immer „Eine ,historia' wird dann das Gemüt der Betrachter in dem Grade den höheren Rang, als sie einem besseren bewegen, wenn die im Bild dargestellten Menschen Sinne diene. Das Auge erfasse am unmittelbarsten die selbst starke Gemütsbewegungen zeigen. Die Natur, in Werke der Natur, während das Ohr nur davon berich welcher nichts zu finden ist, das sich mehr anzöge als ten höre, was das Auge gesehen hat. Dem Sehsinn das einander Ähnliche, sorgt dafür, dass wir weinen mit kommt nach Leonardo der höchste Wahrheitsgehalt zu dem Weinenden, lachen mit dem Lachenden und trau oder anders gesagt, die geringste Täuschungsgefahr. ern mit dem Traurigen. Diese Gemütsbewegungen aber Und damit erweist sich die Malerei sogar als der Philo erkennt man aus den Körperbewegungen."4 sophie überlegen. Der Philosoph wird nämlich „nicht Der Gestik im Bild kommt damit nicht irgendeine der mit solcher Wahrheit gesättigt wie der Maler, welcher Funktionen der Rhetorik zu, sondern diejenige, die der der Körper erste Wahrheit selbst beim eigenen Wesen 26 a I l i v f c / y 7 f? I »fe rra J i SP* v f •T Mt «h •TJ. 8 » f. WS** m h 'v- Abb. 1: Giacomo Grimaldi, nach: Giotto, Navicella, 1618 -1620. Biblioteca Apostolica Vaticana. Cod. Barb. Lat. 4410, fol. 29 Charakteristisch für die Wirkung der Malerei gegenü erfasse; denn das Auge täuscht sich weniger (als der Ver stand)"6. Um die gemalten Figuren und Historien zum ber der Literatur ist die Anekdote vom König Mat thias: Als dieser zu seinem Geburtstag ein Lobgedicht und scheinbaren Leben zu erwecken, sei es nötig, dass der ein Bildnis seiner Geliebten erhielt, schloss er sogleich das Maler die Gestik der Menschen studiere und in Skizzen Buch des Dichters und wandte sich zum Bild, und zwar festhalte, denn „deine Kunst wird sonst die Körper wahr lich zweimal tot zeigen"7. mit Staunen und Bewunderung („con grande ammiratio 27 ne").8 Auf den Protest des Dichters hin gebot er diesem Und es ist wohl kein Zufall, dass Alberti hier ausge Schweigen angesichts der stummen Malerei. rechnet auf eine mit den Naturgewalten verbundene Leonardo stellte sich offensichtlich bewusst in Wider Wunderszene zurückgriff: Die Affekte des Schreckens spruch zur Bildkritik Piatons, der im „Phaidros" und Staunens („terror" und „admiratio"), die in der behauptet hatte, die Malerei stelle „ihre Ausgeburten späteren Kunsttheorie als stärkste Betrachterreaktionen hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so eine entscheidende Rolle spielen werden, sind offen schweigen sie gar ehrfürchtig still"9. Wesentliche Berei sichtlich bereits hier in ihrer Bedeutung erkannt. che des neuzeitlichen Kunstdiskurses sind demgegen Eine besondere und wirkungsreiche Forderung Albertis über spätestens mit Leonardo von der Uberzeugung besteht darin, dass er eine Art rhetorischen Mittler im geprägt, dass keine andere Kunst so eindeutig — wenn Bild wünscht, der zwischen Betrachtern und Bild ver auch stumm „sprechend" sei, vor allem aber so mittelt, und zwar durch Gesten: unmittelbar auf die Seele ihrer Rezipienten wirke, wie „Es gefiele mir dann, dass jemand auf dem Bilde uns die bildende Kunst. zur Anteilnahme an dem weckt, was man dort tut, sei es, dass er mit der Hand uns zum Sehen einlade, oder S chon Alberti hat die Wirkungsmöglichkeit der mit zornigem Gesichte und rollenden Augen uns Malerei an einem Beispiel festgemacht, das später abwehre heranzutreten, oder dass er auf eine Gefahr, immer wieder aufgegriffen wurde, und das als Vorbild oder eine staunenswerte Begebenheit hinweise, oder dafür dienen soll, die Affektdarstellung innerhalb eines dass er dich einlade, mit ihm zugleich zu weinen oder Gemäldes gemäß der affektiven Anteilnahme der dar zu lachen ..."10. gestellten Personen zu steigern: Die auch von Quintili an geschilderte Darstellung der Opferung Iphigenies II. durch den Maler Timantes von Zypern. Die Stärke die Neben dem rhetorischen und eng mit der Affektenleh ses Gemäldes lag offenbar darin, die Trauer und Ver re verknüpften Verständnis der Gestik war eine ganz zweiflung angesichts des Menschenopfers von Figur zu andere Auffassung von Bedeutung. Im Sinne der sich Figur stufenweise zu steigern bis hin zum Vater Aga seit dem 15. Jahrhundert etablierenden Hieroglyphik memnon, dessen Affekt, da er von einem Tuch verhüllt wurden Gesten auch als Symbole verstanden und konn erscheint, der Imaginationskraft der Betrachter überlas ten in Bildern dementsprechend als Attribute eingesetzt sen bleibt. werden. Marsilio Ficino (1433 1499) interpretierte Als seinerzeit noch sichtbares, heute allerdings weitest auf der Grundlage des 1419 entdeckten Traktats des gehend verlorenes Beispiel wies Alberti auf Giottos Horapoll über die ägyptischen Hieroglyphen11 diese als NavicellaMosaik im Atrium von St. Peter in Rom hin, änigmatische Pictographen, mit denen die ägyptischen in dem Giotto die verschiedenen Ausdrucksmöglich Priester die Mysterien verschlüsselt mitgeteilt hätten.12 keiten der Verwunderung oder Verstörung gegenüber Ausgehend von der Schilderung der Hieroglyphen dem dargestellten Wunder vorgeführt habe (Abb. 1). durch Plotin galten Ficino die hieroglyphischen Bilder 28 schiedenes. Denn über das bloße „Eingeweihtsein" So Pierie Valeriano- De'nufnciie dita. 4 hinaus verlangt die Hieroglyphe persönliche Inspira 100, 10«8. 1- tion und intellektuelle Intuition. Diese Auffassung war SOCIO ^oo 7° Toog für die bildende Kunst schon deshalb von Bedeutung, 3eo. x -toa 40 .5.00c. SS als damit der bereits erwähnten Bildkritik Piatons aa 7 Je Jooo, (tu ** begegnet werden konnte: Wenn die Bildschrift der , 7e,r ; tfoo,. , ^7o, ' Tiöooooo 5,"3- fijcWßtünW Ägypter Abbild der priesterlichen Ideenschau wäre, 1 800.J 8c Eooc I• *« stünde sie den Ideen näher als entsprechende Wörter. 000 tft.1 C ^H £ • «Ii Zur Verbreitung der Hieroglyphik in der Neuzeit trug Wf PNI vor allem Piero Valeriano (1477 1558, Abb. 2) bei.'} Conforme diinquc alla rfeola, c nunirra de Caldci aecommodaremoi punti, emimeri n* dcHemani,edclledita,aprrndole loropalnKl vnaincontroa]l\Ucra.intalmodo,diclcvnh tfHJ Seine im Jahr 1556 in Basel erstmals erschienene, fiopponjjhinoillcccntituii.lcdccime jllcmiglioia,comcHaoE[i(iudiiopH,i.hcndkli«t Ha "tfptcucro. 3$ bereits im darauffolgenden Jahr erweiterten und dann 2ß?* S>» 1000. Kto mehrfach neuaufgelegten und übersetzten „Hierogly Ad phica" markieren den Beginn einer systematischen *tfir tpom «fco- historischen Auseinandersetzung mit der Bedeutung 3000. ^3 flEg •M von Zeichen oder Symbolen im Allgemeinen und von litt 400, T • Gesten im Besonderen. Ursprünglich als Untersuchung zu Horapolls Traktat fjßSi Wli begonnen, entwickelte sich das Projekt zu einer umfas 6000" «Kl >*,! senden Enzyklopädie antiker Symbole. Hier kann die 1)111 •ta Hand als solche symbolische Bedeutung haben, etwa hn fal als Hinweis auf „authoritas". Aber auch Gesten ent •fH sprechen bestimmten Begriffen. So ist die an die Brust *'« 6 gepresste Hand Zeichen der Habsucht, ausgestreckte Hände und Finger bezeichnen Eloquenz, der gestreckte rr„oSr <cJ.cr onnd,eoPnnlo t i' ™pu«d" .Mgn Rodfm Anmu,f bcrufbcbii ldqeura.,i,,c (pi .crovmnec im doitri ddef "I näonHwrl Rriiß«p rhl*u»o ndi-l».l t««>1« ™ Mittelfinger Schamlosigkeit. Viele dieser Hinweise hat ndc .chaUiu qwüo UriltuatldJ Bcda.cu.odi. comclcorontc tabbiimefc*'*' später Cesare Ripa (ca. 1560 1625) in seine „Icono (MM logia" aufgenommen.14 Abb. 2: Piero Valeriano, I leroelyphici, 1625, Universitätsbiblio thek Salzburg, Sondersammlungen, Inv. Nr. 17.498 II III. Ausführlicher wird die Anwendung der Gestik in der als Abbilder der göttlichen Ideen von den Dingen bildenden Kunst erstmals von Giovanni Paolo Eomaz selbst. Dementsprechend ist die Hieroglyphe nach heu zo (1538 ca. 1590) behandelt. Dessen „Trattato dell' tigem Verständnis etwas wesentlich vom Symbol Ver Arte de la Pittura", in Mailand 1584 erschienen, geht 25? K3> fl*? V- ST- f7 •s 23 V. X ss» «il N* Qc / J H H H H H H B B H H I^ 6 Abb. 3: Gesten der Trauer, Illustration zu Gerard de Lairesse, Groot Schilderboek, Teil 1,1720 auf zahlreiche Gesten und deren Bedeutung ein, ohne sie sich an Christus als Weltenrichter zeige, der damit allerdings einen systematischen Zugriff oder gar ein zu einer Art Urbild des Handelns mittels der Hände in Regelwerk anzustreben.15 Im Gegenteil: Worauf es an der Spanne von Auserwählen und Verurteilen wird. kommt, ist, den Lesern die mit der Schöpfung des Wie schon Alberti greift auch Lomazzo die von Quin Menschen gegebene „Natur" der Gestik zu vermitteln. tilian benannten sieben Bewegungsrichtungen auf: die Ausgangspunkt für Lomazzos Argumentation ist die Bewegungen nach oben, nach unten, nach vorne, nach unterschiedliche Wertigkeit von rechts und links, wie hinten, nach links, nach rechts und schließlich in ver 30 schiedene Richtungen miteinander verbunden oder reichsten sind allerdings die hier dem Text beigegebe überkreuzt. Im Unterschied zu Alberti verknüpft nen Abbildungen, in denen auch Gesten demonstriert Lomazzo diese Bewegungsrichtungen allerdings mit werden. Wie das spätere Aufgreifen bestimmter Motive bestimmten Grundbedeutungen, die über das bei daraus durch Johann Jakob Engel belegt, erfolgte die Quintilian Genannte herausreichen: Er behauptet, es Rezeption eher über das Bild als über den Text. liege grundsätzlich in der Natur der Bewegungen der Körperglieder, dass das Erheben in die Höhe Positives IV. bedeute, während das Senken in die Tiefe Negatives Entscheidend für die weitere Entwicklung des neuzeit zum Ausdruck bringe; das Bewegen nach vorn zeige die lichen Kunstdiskurses ist, dass den Affekten eine Kraft des Handelns, das Bewegen nach hinten hingegen wesentliche moralische Dimension zugesprochen wur das SichEntziehen; das Handeln mit rechts zeige de. Dies gilt vor allem für die heute weniger bekannte, Majestät, Kraft und Entschlusskraft; das Handeln mit bis in das 19. Jahrhundert jedoch außerordentlich ein links Mangel, Schmach, Schwäche und Unfähigkeit. flussreiche Affektenlehre des Jesuiten Cyprian Soarez Uberkreuzt schließlich und in unterschiedlicher Weise (1548 1617).17 Soarez zufolge sind gute Taten erst miteinander verbunden können die Glieder nicht allein dann vollkommen, wenn die Affekte dabei mitwirken. Hieroglyphen bilden, sondern alles menschliche Han Und dementsprechend soll auch die Rhetorik geeignet deln zum Ausdruck bringen. Von eben dieser Kunst, so sein, die Seele zu bewegen. Diese Auffassung blieb aller Lomazzo, haben die Maler und Bildhauer der Antike dings nicht unwidersprochen. Gerade stoizistisch aus viel Gebrauch gemacht. gerichtete Autoren gingen davon aus, eine gute Tat sei Entscheidend für die Anwendung der Gestik im Bild ist nur dann sittlich gut, wenn Affekte dabei keinerlei Rol für Lomazzo, dass sie mit der jeweiligen Funktion der le spielten. Bereits hier deuten sich offenbar die Kern Figur im Bild in Einklang steht. Dafür verweist er in punkte der späteren Auseinandersetzung Friedrich erster Linie auf in die Antike projizierte Idealvorstel Schillers mit der Ethik Immanuel Kants an. lungen, anstatt konkrete Vorgaben zu machen eine Das Ansprechen der Affekte wurde maßgeblich von lendenz, die sich anschließend durch weite Teile der den Jesuiten in den Dienst der Gegenreformation neuzeitlichen Kunstliteratur ziehen wird. gestellt. Zu den einflussreichsten Abhandlungen der Rhetorik gehörte hier das vom Jesuiten Jean Voel (1541 E iner der kunsttheoretischen Traktate, die sich aus 1610) verfasste „Generale Arteficium orationeis", das drücklich an jenem Lomazzos orientieren, ist das erstmals 1589 in Köln erschien.18 Im RhetorikUnter „Groot Schilderboek" (Abb. 3) des Malers Gerard Lai richt spielte die Gestik eine herausragende Rolle, und resse (1640 1711).16 Dieses ist zugleich ein Beleg gerade das Gestikrepertoire Quintilians wurde hier für dafür, wie sehr die in der Frührenaissance aulgestellten die zeitgenössischen Anforderungen der Predigt adap ästhetischen Grundregeln, besonders die von Leonardo tiert. Die „actio" wurde an den JesuitenGymnasien etablierten, fortlebten. Für die Folgezeit am einfluss offenbar so sehr geschätzt und gefördert, dass manche 31 letztlich auf Quintilian zurückzuführende Gesten noch fe der „venustas" oder „gratia". Auch der Begriff der heute in Jesuitenpredigten wiederzufinden sind, „facilitie" (gelegentlich auch „ease") spielt hier eine obwohl die entsprechenden Regeln längst nicht mehr maßgebliche Rolle, am ehesten zu vergleichen mit dem zum üblichen Curriculum zählen. Die mit den hervor der „sprezzatura", den Baldessare Castiglione (1478 gerufenen Affekten beabsichtige Katharsis hatte zum 1529) im 16. Jahrhundert als ästhetisches Ideal des Ziel, zur Kontrolle der Affekte beizutragen. Höflings etabliert hatte.22 „Sprezzatura", eine Entspre Wesentliches Übungs und Anwendungsfeld für die chung zu Ciceros „negentia diligens",21 nimmt die Ver Redekunst war das an den Gymnasien praktizierte mittlungsposition zwischen der Natürlichkeit und der Schauspiel. In seiner Abhandlung zur Schauspielkunst, Künstlichkeit der Körperbewegung ein: Die Bewegun posthum 1727 in München erschienen, hat der im gen des idealen Höflings sollen so perfekt eingeübt sein, Rahmen seiner Lehrtätigkeit als Dichter und Bühnen dass ihre Anwendung als vollkommen mühelos und regisseur tätige Ingolstädter Jesuit Franciscus Lang natürlich erscheine. (1654 1725) grundlegende Maßregeln zur rechten V Körperhaltung und Gestik demonstriert.19 Doch auch ielfalt und Abwechslung der dargestellten Bewe hier wird schließlich daraufhingewiesen, die beste aller gungen stehen nach Junius im Dienst der Anmut Lehrerinnen sei die Natur selbst. („grace"). Unter dieser Prämisse benennt er exempla risch die Möglichkeiten des Ausdrucks einzelner Kör V. perteile, angefangen beim Kopf, unter besonderer Wesentliche argumentative Grundlagen für die wir Berücksichtigung der Augen, Augenbrauen, Nase und kungsästhetischen Aspekte der Gestik in der bildenden Lippen, über Nacken und Schultern bis zu den bei wei Kunst hat der überwiegend in England tätige Francis tem am ausführlichsten behandelten Händen. Dabei cus Junius (1589 1677) gelegt.20 Dieser verfasste macht er ausgiebig von Quintilian Gebrauch. unter dem Titel „The Painting of the Ancient" eine Als ersten Maler der Antike, der den Ausdruck von umfassende kommentierte Kompilation aller verfugba Affekten beherrscht habe, nennt Junius Aristides von ren Textstellen zur bildenden Kunst, die in der klassi Theben. Dieser habe neben der Darstellung einer fah schen Literatur zu finden waren, nicht zuletzt diejeni renden Kutsche ein leidendes Kind an der Brust seiner gen Plinus' des Älteren.21 Hier spielt besonders die schwer verwundeten Mutter sowie einen Flehenden Betrachterwirkung eine Rolle, vor allem unter dem gemalt, und zwar so, dass die Stimme desselben selbst Aspekt der „compassio". Neben den im dritten Buch zum Ausdruck komme. entwickelten fünf Hauptprinzipien der Malerei betont Anstelle der bereits in der Antike verbreiteten Künstler Junius den Aspekt der „gracefulnesse" („which is the life Legenden, nach denen Künstler am Kriterium der Per and soule of Art"), dessen wesentlicher Träger die fektion ihrer Naturnachahmung gemessen wurden, Gestik der dargestellten Figuren ist. Dabei bezieht er nahmen Kunstschriftsteller des 17. Jahrhunderts Anek sich zumeist auf die in der Antike verwendeten Begrif doten in ihre Schriften auf, die die Perfektion an der 32 sJf • I Abb. 4: Domenichino, Die Geißelung des hl. Andreas, 1609, S. Gregorio Magno, Rom In Giovan Pietro Belloris (1603 1686) Bericht über ^Echtheit" der dargestellten Affekte maßen. Als wichtig die Ausführung der Darstellung des Martyriums des wurde darin hesonders die Empfindung entsprechender heiligen Andreas für S. Gregorio Magno in Rom durch Affekte beim künstlerischen Akt sowie beim Betrachten Domenichino (Abb. 4) kulminiert ein solcher Topos des dargestellten Affekts betont. Gemäß der bereits von zur AffektAnwendung im Motiv des gestreckten Fin Quintilian gestellten Eorderung, der Rhetor müsse die Affekte, die er beim Zuhörer erwecken wolle, selbst gers, mit dem ein Soldat dem Heiligen droht:24 „[...] und er fügte hinzu, dass es für die Handlung des empfinden, wird geschildert, wie Künstler sich selbst in bestimmte Gemütsbewegungen versetzen, um einen Bildes nicht allein vonnöten ist, die Affekte zu betrach ten und zu erkennen, sondern dass man sie auch in sich ICWcils entsprechenden Ausdruck zu erzielen. JJ selbst fühlen muss, dass man eben die Dinge, die man du diesen anderen, der zornig dem Heiligen mit dem darstellt, tun und empfinden muss; daher hörte man Finger droht, und den, der mit so viel Gewalt die Fesseln ihn bisweilen für sich allein Reden führen und Worte an den Füßen zusammen schnürt?"26 des Schmerzes oder der Fröhlichkeit aussprechen, je Dass die „vecchiarella" Guidos Gemälde betrachtete nach den Gefühlen, die er ausdrückte. Deswegen pfleg und ging, ohne etwas zu sagen, ist für Bellori ein Hin te er sich zurückzuziehen, um weder gehört noch gese weis darauf, dass Domenichino in Handlung und Dar hen zu werden, und er achtete darauf, sich nicht einmal stellung der Affekte der Überlegene sei. seinen Schülern oder Hausgenossen bemerkbar zu Zugleich bestätigt die Anekdote die These, dass der machen, weil er andernfalls den Verdacht des Wahn Maler nicht einfach die Natur imitieren dürfe, sondern sinns auf sich gezogen hätte, und es waren ihm Fälle aus seinem Geist heraus arbeiten müsse, in dem die vorgekommen, für welche er sich geschämt hatte. Und notwendigen Naturbeobachtungen gespeichert sind es ist bemerkenswert, was ihm in seiner Jugend mit und aus dem die Fantasie des Künstlers schöpfen kann, dem Meister geschah; Annibale [Carracci] war nach S. um zur jeweils angemessenen Darstellung zu finden. Gregorio zu Besuch gekommen, als er dort gerade am Echte Gemütsbewegungen könne man eben nicht am Martyrium des heiligen Andreas malte, und da er alles Modell studieren, das allenfalls für die Grundhaltungen offen fand, sah er ihn plötzlich, aufgebracht Lind mit und Stellungen herhalte. Worten der Entrüstung drohend; Annibale zog sich Dass die verbale Äußerung des Erlebten für besser erach zurück und wartete, bis er bemerkte, dass Domenico tet wird als das Schweigen vor dem Bild, lässt auf die jenen Soldaten meinte, der dem Heiligen mit dem Fin grundsätzliche Erwartung schließen, dass dem vom Bild ger droht; nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten, verursachten „movere" auch die Rückführung aul die und er kam heran, um ihn zu umarmen, und sagte ihm Ebene der Sprache folge. Zugleich verweist das Beispiel dabei: ,Domenico, heute lerne ich von dir'"25. der mutmaßlich leseunkundigen Frau auf die in der Für die Frage des Künstlerwettbewerbs ist der „sprechen gegenreformatorischen Traktatliteratur des 16. und 17. de" Charakter der Affekte von entscheidender Bedeu Jahrhunderts verbreitete Auffassung, das Bild sei eine Art tung. Anhand desselben Bildbeispiels setzte Bellori stummes Buch, dessen Qualität nicht zuletzt daran zu Domenichinos Gemälde in Konkurrenz zu Guido Renis messen ist, ob und inwieweit es die Rückübersetzung in „Gang des hl. Andreas zur Kreuzigung", indem er die eine sprachlich formulierte „historia" erlaubt. Dabei las angeblich von Annibale Carracci beobachteten Reaktio sen sich vor allem zwei für besonders wichtig erachtete nen einer einfachen alten Frau mit einem Mädchen Kriterien erkennen, nämlich die Lebendigkeit der Affek schilderte, „die bei der Betrachtung der von Domenico te und die Klarheit der Darstellung. gemalten Geißelung des heiligen Andreas mit dem Fin ger darauf zeigte, und zu einem kleinen Mädchen, das sie VI. an der Hand führte, sagte: siehst du diesen Schurken, Es gehört zu den Topoi der kunsthistorischen Literatur mit welcher Wut er die Geißeln emporschwingt? Siehst /n betonen, dass es nahezu nichts gebe, das nicht mit 34
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