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Die Begegnung PDF

334 Pages·2014·1.37 MB·German
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Dani Aquitaine Themiskyra BAND I DIE BEGEGNUNG Text Copyright © 2013 Dani Aquitaine Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Dani Aquitaine Umschlagschriften: Selfish von Eduardo Recife, www.misprintedtype.com Liberation Serif unter der SIL Open Font License Für den besten Vater der Welt. P ROLOG Sie blickte auf ihr Kind herab. Es schlief friedlich und sein leiser Atem ging ganz ruhig, wurde nur ab und an von einem kleinen schluckaufartigen Seufzer unterbrochen. Tränen stiegen ihr in die Augen und kurz wunderte sie sich darüber. Ungewohnt. Unpraktisch. Überflüssig. Für einen Moment ließ sie die Überlegung zu, ob sie das Richtige tat. Doch sie wusste, dass es keine andere Lösung gab. Die Zeit drängte, sie musste zurück nach Themiskyra. Bevor Schuldgefühle sie übermannen konnten, wandte sie sich um und ging, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. K 1 APITEL Ich stand am Grab meines Vaters. Kein Blumenschmuck, nur ein kahler Erdhügel. Keine Tränen, nur vereinzelte Regentropfen, die aus dem grauen Frühlingshimmel auf meine kalte Haut fielen. Keine Trauergemeinde, nur ich. Keine Totengräber, nur ich. Keiner mehr da, nur ich. Und von mir war auch nicht besonders viel übrig. Schweiß vom Schaufeln und Erde und Dreck – und Leere. Ich fühlte nichts. Seit dem Moment, als ich mittags vom Schwarzmarkt mit der Ware zurückgekommen war und meinen Vater mit einem Loch in der Brust, einem überraschten Ausdruck im Gesicht und einer silbernen Halskette in der Hand gefunden hatte, hatte ich völlig automatisch gehandelt. Gegraben. Begraben. Zugeschüttet. Ein Windstoß fuhr durch das Geäst und wirbelte Samenwölkchen aus den Bäumen und Büschen über die Wiese. Manche setzten sich auf die frische Erde vor mir, wie Schneeflocken, die nicht schmolzen. Die Kette an der Tür des Gewächshauses schlug laut gegen die blinde Plexiglasscheibe, dann wurde es wieder still. „Willst du wirklich alleine los, Ell?“, hatte mein Vater gefragt. „Ja. Es ist doch nur ein knapper Kilometer zur Bücherei. Das schaffe ich schon. Und wir brauchen Mehl.“ „Wenn du noch eine halbe Stunde wartest, kann ich mit dir kommen.“ „In einer halben Stunde sind die guten Sachen weg. Ich bin sowieso spät dran. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück.“ Alle paar Tage derselbe Dialog. Und natürlich machte er sich Sorgen, jedes Mal, wenn ich die Neristas traf, um etwas einzutauschen. Wenn er mitgekommen wäre, würde er vielleicht noch leben. Wenn du auf ihn gewartet hättest, wären wir vielleicht beide tot. Tot? Ich begann zu zittern. Weg? Für immer? Das plötzliche Begreifen erdrückte mich. Mein Vater war tot. Ich fiel ins feuchte Gras und brach endlich in Tränen aus. Als die Sonne schon lang versunken war, stand ich langsam auf und taumelte ins Haus zurück. Ich schloss die Terrassentür und stolperte über das gesplitterte Display der MultiM-Station. Mein Gehirn blieb an Banalitäten hängen. Zum ersten Mal wunderte ich mich darüber, dass wir es überhaupt aufgehoben hatten. Es war utopisch zu denken, dass es irgendwann wieder Strom geben würde. Papa ist eben – er war ein Optimist. Zumindest mir gegenüber. Er hat immer versucht, mich nicht spüren zu lassen, wie schlimm es wirklich ist. Und vielleicht habe ich ihm geglaubt. Vielleicht habe ich jetzt erst begriffen, wie aussichtslos alles ist … Ich kämpfte neue Tränen zurück und tastete mich durch die Dunkelheit durchs Zimmer, versuchte, nicht über die Trümmer zu stürzen, die von unserer Einrichtung übrig waren. Mit bebenden Fingern entzündete ich eine Kerze. Langsam blickte ich mich um. Als ich ihn gefunden hatte, war ich zu hysterisch gewesen, um irgendetwas anderes wahrzunehmen als all das Blut und seinen leeren Blick– Ruhig, sagte mein Verstand und ich drängte die Bilder mit aller Kraft weg. Im Licht der flackernden Flamme sah die Verwüstung noch viel erschreckender aus und die zerbrochenen Gegenstände warfen tanzende Schattenungeheuer an die Wände. Jemand hatte etwas gesucht und mein Vater war ihm im Weg gewesen. In diesen Zeiten war ein Menschenleben ohnehin nicht viel wert. Den marodierenden Banden, die seit Beginn des Verfalls umherzogen und die Stadt terrorisierten, fehlte mittlerweile jegliches Gewissen … Ich konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Ich wollte nie wieder nachdenken. Am liebsten hätte ich mich einfach direkt hier im Chaos zusammengerollt und mich ganz weit in mich hinein verzogen. So weit, dass nur noch ich da war und sonst nichts, so weit, dass alles um mich herum verschwand … Ich bin mir ganz sicher, dass du es schaffst. Du darfst nur nicht aufgeben, sagte mein Papa aus den Tiefen meiner Erinnerung. Wie konnte er davon ausgehen, dass ich es schaffen würde, ohne ihn? Mein Herz tat so weh, dass es mir kaum gelang, den nächsten Atemzug zu tun. Mein Blick vermied automatisch den getrockneten Blutfleck auf dem Teppich. Bücher, Urlaubsfotos und Souvenirs daneben. Die rotgesprenkelte Wand dahinter. Und dann erweckte doch etwas meine Aufmerksamkeit: ein Funkeln inmitten des Durcheinanders. Ich bückte mich und hob eine Kette mit einem silbernen, runden Anhänger auf, von dem sich ein fein gearbeitetes Reh reliefartig abhob. Woher kommt es nur? fragte ich mich. Wieso habe ich es noch nie gesehen? Wieso hat er es zum Zeitpunkt seines Todes in seinen Händen gehalten? Hat es ihm etwas bedeutet? Der Rand des Anhängers wies rundum eine leichte Einkerbung auf, so als ob man ihn wie ein Medaillon hätte öffnen können müssen, aber es gelang mir nicht, ihn aufzuklappen. Ich war zu ungeduldig und gleichzeitig zu erschöpft und schließlich gab ich auf. Vielleicht war die Kante tatsächlich nur ein Zierelement. Mit zitternden Händen hängte ich mir die Kette um und stand wieder auf. Wie betäubt ging ich in den Flur und schob die hölzerne Schuhkommode vor die aufgebrochene Haustür, damit der Wind sie nicht aufblasen konnte. Dann hob ich meine Umhängetasche auf, wo ich sie zusammen mit meinem Einkaufsbeutel hatte fallen lassen. Im Schein der Kerze blickte ich kurz hinein und blieb gedanklich wieder hängen. Dinge. Einfache Dinge, die ich verstand. Im Gegensatz dazu, was heute Nachmittag geschehen war. Ich sah die einfachen Dinge ganz genau an, um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass mir heute niemand gute Nacht sagen würde. Er hatte mir immer gute Nacht gesagt. Jeden Abend. Seit ich denken konnte. Wenn ich abends mit Freunden unterwegs gewesen war, war er wach geblieben, bis ich nach Hause gekommen war. Wenn ich im Schullandheim oder mit dem Sportverein unterwegs gewesen war, hatte er mich abends auf meinem EazFone angerufen, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Er war immer da gewesen, immer, immer– Dinge. Verschwommen starre ich mein Taschenmesser, meine Streichhölzer und meine Schütteltaschenlampe an, Sachen, ohne die ich das Haus inzwischen nicht mehr verließ. Außerdem Wasseraufbereitungstabletten, die ich heute nicht hatte tauschen können. Und die Ware, die ich erworben hatte: Eine Dose Mais. Ein Säckchen schwarzer Pfeffer, aufgeplatzt vom Aufprall auf den Boden. Eine Familienpackung Müsliriegel, die mir Verne in der Stadtteilbücherei als besonders günstiges Sonderangebot aufgeschwatzt hatte. Sie war zu einem der zahlreichen Schwarzmärkte Citeys geworden. Nicht, dass es noch andere, legale Märkte gegeben hätte, seit der Verfall uns so massiv in die Knie gezwungen hatte. Nicht, dass es überhaupt noch irgendwas gegeben hätte. Wer nichts besaß, das er gegen Lebensmittel tauschen konnte, war allein von den sporadischen, immer geringer ausfallenden Rationen abhängig, die die versprengten Truppen der verbliebenen Hilfsorganisationen heranschaffen konnten. Oder wurde zum Dieb. Zum Marodeur. Zum Mörder. Ich atmete durch. Blinzelte die Tränen weg. Hängte mir die Tasche um und wollte mich gerade nach oben in mein Zimmer schleppen, als ich draußen plötzlich Männerstimmen hörte, die sich näherten. Ich erstarrte und lauschte. Jetzt waren sie so nah, dass ich einzelne Sätze verstehen konnte. „Ich hatte dir gesagt, dass es sich lohnt, abzuwarten“, sagte einer. „Halt's Maul“, sagte ein anderer leiser. „Ich wusste, dass der Typ da nicht allein wohnt … viel zu viel Weiberkram überall.“ Das war wieder der Erste. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was ich gehört hatte, ließ nur einen Schluss zu und ich handelte instinktiv: Ich blies die Kerze aus und rannte geduckt am Fenster vorbei, damit man mich durch die unverbarrikadierten, lediglich vergitterten Scheiben von draußen nicht sehen konnte. Im Wohnzimmer versuchte ich mich kopflos und ohne Erfolg zu erinnern, wo in dem Chaos etwas lag, das ich als Waffe gegen die Männer nutzen konnte. „Jep, du hattest wie immer recht“, lobte eine dritte, heisere Stimme sarkastisch. „Und jetzt halt's Maul.“ „Das Licht ist wieder aus“, sagte der Zweite und sie senkten ihre Stimmen, sodass ich nur noch Geflüster und leise Schritte hören konnte. Ich lief weiter zur Küche, riss eine der Schubladen auf und begann, sie panisch nach einem Messer zu durchsuchen. Dabei versuchte ich gar nicht mehr, leise zu sein. Die wussten sowieso, dass jemand da war. Deswegen waren sie zurückgekommen. Aber warum? Was wollten sie von mir? War es doch kein Zufall gewesen, dass sie genau hier eingebrochen waren und meinen Vater getötet hatten? Wir hatten doch niemandem etwas getan … Das alles ging mir im Schnellvorlauf durch den Kopf; ich konnte gerade überhaupt keinen Sinn in all dem sehen. Meine Hände zitterten so, dass ich mich schnitt, als ich endlich ein großes Brotmesser ertastet hatte. Im Flur rumpelte es. Vermutlich versuchten die Typen im Augenblick, die Haustür aufzustemmen. Ich hetzte durch das verwüstete Wohnzimmer, stolperte über zerstörtes Mobiliar und Bücher und fing mich gerade noch, bevor ich durch das Glas der Terrassentür gebrochen wäre. Hektisch und ungeschickt vor Angst zerrte ich am Griff, kämpfte mit der Verriegelung, bis sie endlich nachgab, riss dann die Tür auf – und lief einem meiner Verfolger direkt in die Arme. Er packte mich an den Handgelenken. Ich schrie auf, trat um mich und versuchte, meine Hand zu drehen, um das Messer doch noch zum Einsatz zu bringen, doch er lachte nur und verstärkte seinen Griff auf mein Handgelenk so schmerzhaft, dass ich das Messer fallen lassen musste. Dann verdrehte er mir die Arme hinter dem Rücken und dirigierte mich zurück ins Wohnzimmer. Ich wand mich immer noch, aber ich merkte, dass ich immer schwächer wurde und chancenlos gegen ihn war. Zwischen den Trümmern standen zwei andere Gestalten mit kräftiger Statur, die ich nicht genauer erkennen konnte, da mir einer mit einer Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. Die plötzliche Helligkeit schmerzte, doch ich zwang mich, genau hinzusehen. Das waren die Mörder meines Vaters – und womöglich auch meine – und ich wollte ihnen ins Gesicht sehen können. „Wo wolltest du denn hin?“, fragte der mit der Taschenlampe. „Ich glaube, sie hatte keine Lust auf Besuch. Ein Jammer, was aus der vielzitierten früheren Gastfreundschaft geworden ist“, kommentierte der andere, den ich vorher durch seine raue Stimme unterschieden hatte. Im Näherkommen schirmte er das Licht der Taschenlampe mit seinem Körper ab und ich konnte erkennen, dass sein gesamter kahl rasierter Schädel mit verschlungenen Tattoos verziert war. Der Typ seinerseits musterte mich auch eingehend. Dann beugte er sich ein wenig zu mir herab und sagte: „Obwohl man in so harten Zeiten doch zusammenhalten muss!“ Dabei spuckte er mir kleine Speicheltröpfchen ins Gesicht und ich hätte mich vor Ekel fast übergeben. Aber ich war nicht nur angewidert, ich war auch wütend. „Was zur Hölle wollt ihr?“, schrie ich. Ich hatte so viel geweint, dass meine Stimme ganz rau klang. „Was wollt ihr denn noch?“ Ich hatte mich in meiner Rage wohl mehr bewegt, als dem Typen, der mich festhielt, lieb war. Er drückte meinen rechten Arm so weit nach oben, dass mir der Schmerz wie ein gleißender Blitz in die Knochen fuhr. Den Tattooschädel schien mein Ausbruch zu amüsieren. Er machte eine knappe Handbewegung und ich wurde in die Küche gedrängt. Der andere stellte seine Taschenlampe aufrecht auf die Küchentheke, sodass sie die Decke beleuchtete. Er trug einen Vokuhila und einen verdreckten Parka, auf dessen Rückseite, die er mir nun zuwandte, Citey Clean Gebäudereinigung stand. Den Typen, der mich festhielt, konnte ich immer noch nicht sehen, aber ich konnte hören, dass er eine knarzende Lederjacke trug. Vokuhila fing an, die Schränke aufzureißen und die Lebensmittel, die sich noch darin befanden, auf dem Küchenboden zu verteilen, aber der Tattooschädel gebot ihm Einhalt.

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