ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN NATUR-, INGENIEUR- UND GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFfEN 124. SITZUNG AM 17.APRILl963 IN Dü S SELDOI<.F ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN NATUR-, INGENIEUR- UND GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTEN HEFT 129 SIR ROGER MAKINS Die Atomenergie im Vereinigten Königreich SIR JOHN COCKCROFT Die wissenschaftlichen und technischen Leistungen von Hochfluß-Forschungsreaktoren HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DES MINISTERPRAsIDENTEN Dr. FRANZ MEYERS VON STAATS SEKRETAR PROFESSOR Dr. h. c., Dr. E. h. LEO BRANDT SSIIRR RROOGGEERR MMAAKKIINNSS DDiiee AAttoommeenneerrggiiee iimm VVeerreeiinniiggtteenn KKoonniiggrreeiicchh SSIIRR JJOOHHNN CCOOCCKKCCRROOFFTT DDiiee wwiisssseennsscchhaaffttlliicchheenn uunndd tteecchhnniisscchheenn LLeeiissttuunnggeenn vvoonn HHoocchhfflluuffii--FFoorrsscchhuunnggssrreeaakkttoorreenn SSpprriinnggeerr FFaacchhttnneeddiieenn WWiieessbbaaddeenn GGmmbbHH IISSBBNN 997788--33--332222--9988007799--33 IISSBBNN 997788--33--332222--9988771188--11 ((eeBBooookk)) DDOOII 1100..11000077//997788--33--332222--9988771188--11 ©© SSpprriinnggeerr FFaacchhmmeeddiieenn WWiieessbbaaddeenn 11996644 UUrrsspprriiiinngg11iicchh eerrsscchhiieenneenn bbeeii WWeessttddeeuuttsscchheerr VVeerrllaagg GGeessaammtthheerrsstteelllluunngg:: WWeessttddeeuuttsscchheerr VVeerrllaagg .. INHALT Sir Roger Makins, G.C.B., G.C.M.G., London Die Atomenergie im Vereinigten Konigreich 7 Organisation ........................................... . 8 Magnox-Reaktoren ...................................... 11 Plutonium-Reaktoren 14 Dampferzeugungs-Schwerwasserreaktoren .................... 15 Atomarer Schiffsantrieb ................................... 16 Radioisotope ............................................ 18 Beziehungen zu anderen Lăndern ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 20 Sir John Cockcroft, O.M., K.C.B., C.B.E., F.R.S., London Die wissenschaftlichen und technischen Leistungen von HochfluB- Forschungsreaktoren ........................................ 25 Diskussionsbeitrăge Dr. rer. techn. Alfred Boettcher, Sir John Cockcroft, Staatssekretăr Professor Dr. h. C., Dr.-Ing. E. h. Leo Brandt, Sir Roger Makins, Pro fessor Dr. phil. Wolfgang Finkelnburg, Prăsident Professor Dr.-Ing. Martin Kersten, Landtagsabgeordneter Hans Wertz, Professor Dr. agr. Hans Braun, Professor Dr. phil. Giinther O. Schenck .............. 51 Die Atomenergie im Vereinigten Königreich Von Sir Roger Makins, London Es ist mir ein Vergnügen, heute nachmittag von der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen eingeladen worden zu sein. Der Augenblick ist gut gewählt, um über die Atomenergie im Vereinigten Königreich zu sprechen. Anfang April wurden die beiden ersten großen Atom kraftwerke für friedliche Zwecke in Bradwell, Essex und Berkeley, Glou cestershire, vom Herzog von Edinburgh feierlich eröffnet. Diese Kraftwerke arbeiten schon seit einigen Monaten ohne Unterbrechung; die vier Reaktoren dieser Kraftwerke arbeiten mit einem außerordentlich hohen Lastfaktor und liefern mehr als 500 MW Strom an das staatliche Eleketrizitätsnetz. Sieben weitere Kraftwerke sind zur Zeit in Bau oder wenigstens im Pla nungsstadium; sie zeigen eine ständige Zunahme an Größe und Verbesse rung der Leistung. In Windscale, Cumberland, wurde der Prototyp eines fortgeschrittenen, gasgekühlten Reaktors in Dienst gestellt und liefert 28 MW Strom an das staatliche Elektrizitätsnetz. Sein Hauptzweck liegt aber nicht in der Liefe rung von Elektrizität, er soll vielmehr den Entwurf eines Vollreaktors und das in einem solchen Vollreaktor verwendete Brennmaterial erproben. Der Prototyp-Reaktor läuft seit zwei oder drei Monaten mit voller Last, und die vorläufigen Resultate sind äußerst ermutigend. Der schnelle Brutreaktor in Dounreay arbeitet ständig mit 300 MW Wärme und liefert Strom an die Elektrizitätsbehörde für Nordschottland; er ist bisher der einzige Schnellreaktor, der dieses Energieniveau erreicht hat und das staatliche Stromnetz mit Strom beliefert. Der erfolgreiche Einsatz dieses Reaktors gibt wertvolle Informationen über Entwurf und Konstruk tion von plutoniumbeheizten Schnellreaktoren, eine Entwicklung, die ein treten muß, wenn das volle Potential des Urans als nuklearer Brennstoff ausgeschöpft werden soll. Außer diesen neuesten Errungenschaften gibt es eine Reihe neuer Projekte, die auf dem Wege der Realisierung sind und über die ich später noch sprechen werde. 8 Sir Roger Makins Organisation Die Organisation der Atomenergieforschung, -entwicklung und -produk tion ist von Land zu Land verschieden, und Sie möchten sicher gern wissen, wie sie in Großbritannien aussieht. Das britische Programm begann im Jahre 1946 und sah in den ersten Jahren im wesentlichen nur die Entwick lung der Atomenergie für militärische Zwecke vor. Aus diesem Grunde un terstand das Programm auch einer Regierungsbehörde, nämlich dem Ver sorgungsministerium; in dieser Periode wurden BEPO, der erste Graphit meiler in Harwell, die Plutonium produzierenden Meiler in Windscale, die Doppelzweckreaktoren in Calder Hall und Chapel-Cross und die Anlagen für U 235-Anreicherung und chemische Aufbereitung gebaut. Diese Arbeit erforderte natürlich den engsten Kontakt zwischen der damaligen Industrie gruppe des Atomenergieministeriums und der englischen Industrie. Im Jahre 1954 jedoch begann die friedliche Anwendung der Atomenergie aussichtsreich zu werden, und die Regierung stellte ein Programm auf, das zur Entwicklung der Atomenergie diente. Dieses Programm bezog die briti sche Industrie in großem Ausmaß in die Entwicklung mit ein und erforderte eine äußerst enge Zusammenarbeit zwischen den Atomenergieämtern und der Industrie. Darin lag einer der Gründe für die Schaffung einer Organi sation, die größere Beweglichkeit und Unabhängigkeit als eine Regierungs stelle hatte, besonders in bezug auf die Arbeitseinteilung und Neueinstellun gen von Personal. Demzufolge wurde die Atomenergiebehörde durch ein Gesetz im Jahre 1954 gegründet. Sie entspricht in Form und Struktur den verstaatlichten Industrien im Vereinigten Königreich, z. B. der Kohlebehörde oder Elektrizitätsbehörde, unterscheidet sich aber in zwei Punkten von die sen. Erstens erhält sie ihre Gelder durch jährliche, vom Parlament gebilligte Zuschüsse und nicht durch periodische Kredite von der Regierung. Das be deutet, daß die Atomenergiebehörde unter einer weit schärferen Kontrolle durch Regierung und Parlament steht als die verstaatlichten Industrien. Zweitens ist sie nicht wie diese durch ihre Statuten gezwungen, ihre Finan zen alle zwei Jahre ohne Gewinn oder Verlust auszugleichen. Diese Unterschiede sind unter anderem damit begründet, daß die Atom energiebehörde weitgehend mit dem Verteidigungsprogramm der Regierung verbunden ist, und daß sie - als eine Organisation, die sich so eingeheJ.1d mit Forschung und Entwicklung befaßt - nicht immer wie eine gewöhnliche kommerzielle Institution handeln kann, obwohl sie eine wichtige kommer zielle Funktion zu erfüllen hat. Die Atomenergie im Vereinigten Königreich 9 Die Atomenergiebehörde untersteht den Weisungen der Regierung durch den Minister für Wissenschaft, der für sie vor dem Parlament politisch ver antwortlich ist und über den sie finanziert wird; der Minister ist jedoch streng verpflichtet, sich jeder Einmischung in die täglichen Obliegenheiten der Atomenergiebehörde zu enthalten. Die oberste Verwaltung der Atomenergiebehörde ist ähnlich wie die in den verstaatlichten Industrien. Der Vorstand besteht aus einem Präsidenten, einem stellvertretenden Präsidenten und hauptberuflichen Mitgliedern, von denen jedes die Verantwortung für einen bestimmten Teil der Arbeit der Atomenergiebehörde trägt. Außerdem gibt es nebenberufliche Mitglieder, die aus den verschiedensten Berufen kommen. Im Augenblick sind es zwei hervorragende Wissenschaftler, von denen einer Sir John Cockcroft ist, zwei prominente Männer aus dem Wirtschaftsleben, ein ausgezeichneter beeidigter Wirtschaftsprüfer und ein Gewerkschaftler. Die Hauptaufgabe der Atomenergiebehörde liegt in der Produktion, An wendung und Einteilung der Atomenergie, der Forschung auf allen mit der Atomenergie verbundenen Gebieten sowie der Durchführung aller in diesem Zusammenhang notwendigen Maßnahmen für Bauten, Produktion und Einkauf. Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, ist die Atomenergiebehörde in Funktionsgruppen unterteilt, von denen jede einem Direktor oder Ge schäftsführer untersteht, der Mitglied im zentralen Exekutivausschuß ist. Sie bilden die Forschungsgruppe, deren Sitz in Harwell ist und die für die wissenschaftliche Forschung der Atomenergie, einschließlich kontrollierter thermonuklearer Energie, und für die Entwicklung der Isotopenanwen dung, -herstellung und -verkauf verantwortlich ist. Es gibt außerdem eine Reaktorgruppe, deren Aufgabe es ist, die Reaktoren bis zu dem Stadium zu entwickeln, in dem ihre kommerzielle Ausnutzung möglich wird, und die die Abkommen mit der Industrie und mit inländischen und ausländischen Elektrizitätsbehörden für die kommerzielle Ausnutzung der Reaktoren trifft. Ferner besteht eine Funktionsgruppe mit der Aufgabe, die Fabriken zu leiten, in denen spaltbares Material für zivile und militärische Zwecke hergestellt wird; sie ist auch für die Produktion der Brennelemente und die Wiederaufbereitung der bereits verwendeten Brennelemente zuständig so wie für den Betrieb der Reaktoren in Calder Hall und Chapel-Cross und des Prototyps des fortgeschrittenen gasgekühlten Reaktors. Wir haben auch eine Waffengruppe, die, wie schon der Name sagt, in erster Linie mit der Ent wicklung und Produktion von Atomsprengköpfen befaßt ist. Die fünfte 10 Sir Roger Makins Gruppe ist die technische Gruppe, die die Gebäude und Betriebsanlagen der anderen vier Gruppen entwirft und aufbaut. Wenn es sich darum handelt, Elektrizität mit Atomenergie zu erzeugen, ist es natürlich notwendig, daß die Atomenergiebehörde mit der Elektrizi tätsbehörde und der Industrie gute Kontakte pflegt, um das Programm durchführen zu können. Allgemein gesprochen ist die Arbeitsaufteilung zwi schen den einzelnen Gruppen folgende: Die Atomenergiebehörde entwickelt in enger Zusammenarbeit mit der Industrie die Reaktoren bis zum Stadium des Prototyps und betreibt diese Prototypreaktoren sowie die Materialprüf reaktoren. Die Atomenergiebehörde entwickelt und produziert auch den Brennstoff für alle Reaktortypen im Vereinigten Königreich. In enger Zu sammenarbeit mit der Atomenergiebehörde baut die Industrie die Kraft werke im Auftrag der Elektrizitätsbehörde. Die einzelnen Firmen, die sich zu Konsortien zusammenschließen, sind die Lizenzinhaber der Atomenergie behörde. Die Elektrizitätsbehörde betreibt die Kraftwerke und verkauft die Elektrizität. Ein System von Ausschüssen, in denen alle drei beteiligten Par teien vertreten sind, sorgt für Zusammenarbeit; die Atomenergiebehörde bespricht und plant in diesen Ausschüssen nicht nur die Entwicklung der ge genwärtig im Bau befindlichen Reaktorsysteme, sondern auch die zukünfti gen Tendenzen der Kernenergie und die Systeme, die nach dem Vorschlag der Atomenergiebehörde in den kommenden Jahren gebaut werden sollen. Die Atomenergiebehörde hat mit der Atomindustrie eine Vereinbarung getroffen, derzufolge die Forschung und Entwicklung bis zur kommerziel len Ausnutzung gasgekühlter graphitmoderierter Systeme gemeinsam durch geführt werden und die Kosten zwischen der Atomenergiebehörde und der Industrie geteilt werden. Diese kollaborative Vereinbarung hat den Zweck, doppelte Forschungs- und Entwicklungsarbeit für Reaktorsysteme zu ver meiden. Die Konsortien der Atomindustrie untersuchen die spezifischen Pro bleme, die die von ihnen konstruierten Reaktoren aufwerfen. Die Atom industrie wird nicht nur bezüglich der in Zukunft zu errichtenden Systeme konsultiert, sondern leistet auch für diese Systeme einen wertvollen Beitrag, indem sie mit der Atomenergiebehörde Verträge abschließt, denen zufolge sie die Forschungs-, Entwicklungs- und Planungsarbeiten einzelner Aspekte der fortgeschrittenen Systeme übernimmt. Dadurch werden nicht nur die Möglichkeiten vermehrt, die der Atomenergiebehörde zur Ausführung die ser Arbeiten zur Verfügung stehen, sondern es wird gleichzeitig garantiert, daß die Männer, die eines Tages zum Bau dieser Kraftwerke herangezogen werden können, ihre Planung schon im frühesten Stadium beeinflussen. Die Atomenergie im Vereinigten Konigreich 11 Auch auf anderen Gebieten hat die Atomenergiebehorde wichtige Auf gaben, z. B. auf dem Gebiet der Gesundheit und Sicherheit; ihr obliegt die Verbreitung von Informationen uber Atomenergie und die Aufrechterhal tung der Kontakte und Zusammenarbeit mit den Atomenergieorganisatio nen im Commonwealth und im Ausland. Das Gesetz legt der Atomenergiebehorde gewisse Beschrănkungen auf. Sie ist z. B. fur jeglichen Schaden an Personen oder Sachen, der durch die Strahlung auf ihren Grundstucken verursacht wird, voll verantwortlich. Augerdem benotigt sie die Erlaubnis der Regierung fur die Aufschuttung von Halden radioaktiver Abfallstoffe. Diese Bestimmungen sind zwar be lastend und restriktiv, sind aber im Hinblick auf die Befurchtungen der Of fentlichkeit bezuglich der Folgen nuklearer Energie unerlămich; solche Be furchtungen gibt es immer noch, wenn auch, wie mir scheint, in kleinerem Ausmag im Vergleich zu fruher. Tatsăchlich wurde im Verlauf der Entwick lungsarbeiten durch die Atomenergiebehorde geringfugiger Schaden an Per sonen und Sachen verursacht. Die Sicherheit in der britischen Atomindustrie ist vorbildlich. Das Arbeitsgebiet der Atomenergiebehorde ist so grog, dag ich nicht ver suchen werde, es in allen Einzelheiten zu erklăren; ich mochte nur einige Punkte auswăhlen, die, wie ich hoffe, fur Sie von besonderem Interesse sind. M agnox-Reaktoren Das gegenwărtige britische Atomenergieprogramm basiert auf dem Na tururan-graphitmoderierten-gasgekuhlten System, das unter dem Namen Magnox bekannt ist, der von der Magnesiumlegierung herstammt, welche zur Umhullung der Brennelemente verwendet wird. Ich mochte Ihnen kurz uber die Leistung unserer gegenwărtig bestehenden Reaktoren im Verlauf der letzten Monate berichten. Die acht Reaktoren von Calder Hall und Chape1-Cross waren fUr eine Produktion von 34,5 MW Elektrizităt be stimmt, die als Nebenprodukt bei der Herstellung von militărischem Pluto nium entsteht; die Gesamtproduktion sollte 276 MW betragen. Die Durch schnittsproduktion jedes Reaktors ist heute auf 42 MW angestiegen und die Gesamtproduktion auf fast 350 MW. Diese acht Reaktoren erzeugten im Verlauf des letzten Winters bei einem Lastfaktor von uber 98 ununter % brochen elektrischen Strom. Die beiden grogen zivilen Reaktoren in Bradwell und Berkeley liefern dem staatlichen Stromnetz uber 500 MW Elektrizităt bei einem Lastfaktor