WilfriedNippel Die antike Stadt in Max Webers Herrschaftssoziologie HiersolldieFragebehandeltwerden,wieWeberdieHerrschaftsstrukturin- nerhalbderantikenStädtekennzeichnetundwiesichseineinhaltlichenAus- führungenzuseinengenerellenTypologienimKontextderHerrschaftssozio- logieverhalten.DiefolgendenBemerkungenbeziehensichnuraufdiegrie- chisch-römische Antike unter Ausschluß des Alten Orients (der in Webers Darlegungen breiten Raum einnimmt); innerhalb dieses Rahmens werden vonWeberausführlichnurdiegriechischenPoleisderarchaischenundklassi- schenZeitsowiedierömischeRepublikbehandelt,diedasKriteriumvonAu- tonomie und Autokephalie des Verbandes erfüllen; die anders gelagerten VerhältnisseindenStädtenderhellenistischenReicheundimrömischenKai- serreich kommen bei ihm nur am Rande vor. Textgrundlage sind einerseits Webers Abhandlung »Die Stadt«, die posthum zunächst als Aufsatz veröf- fentlicht und später in »Wirtschaft und Gesellschaft« integriert worden ist,1 andererseitsdieverschiedenenFassungenderHerrschaftssoziologiein»Wirt- schaftundGesellschaft«bzw.indemAufsatzüberdie»dreireinenTypender legitimenHerrschaft«;hinzukommeneinschlägigeBemerkungenin»Politik alsBeruf«unddenpolitischenGelegenheitsschriften. DieAbhandlungüberdie»Stadt«kannalsGanzenichtalsTeilderHerr- schaftssoziologiegelten.DiegegenteiligeAnnahmegehtbekanntlichaufdie ominöse Kapitelüberschrift »Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte« zurück, die sich in Webers »Einteilung« zum »Grundriß der Sozial- ökonomik«von1914findet,unddieJohannesWinckelmannspäter(seitder4. Auflage1956)veranlaßthat,denTextder»Stadt«derHerrschaftssoziologie von »Wirtschaft und Gesellschaft« zuzuordnen.2 Inhaltlich läßt sich dieser (unvollendete)Text,dereineVielzahlvonWebersFragestellungennachder Einzigartigkeit des politisch verfaßten okzidentalen Bürgertums im univer- salhistorischenVergleichbündelt,gewißnichtsoverstehen,daßdieAusfüh- rungenzurStadtgemeindeinsgesamtdemThemader»nichtlegitimenHerr- schaft«gelten. ImmerhingibteseinigePhänomene,dieWeberzwarnichtals»nichtlegi- tim«,wohlaberals»illegitim«bezeichnet.DerSchwerpunktliegtaufBeob- achtungen zur Verfassungsentwicklung der Städte, besonders der italieni- 1 WilfriedNippel,EditorischerBericht,MWGI/22–5,S.45ff. 2 Nippel,EditorischerBericht,MWGI/22–5,S.46und52,Anm.36. 190 WilfriedNippel schen,imMittelalter.DieKommunebildungverdanktsichderconiuratio,der auf wechselseitigem promissorischem Eid beruhenden Verbrüderung der Bürger,dieeinenusurpatorischenAktdarstellt,dasiesich,jedenfallsformal- rechtlich gesehen, gegen bestehende legitime Gewalten gerichtet habe.3 In bezugaufdiespätereKonstituierungdespopoloindenitalienischenStädten – gegen die aus der ursprünglichen coniuratio hervorgegangene Honoratio- renherrschaft–sprichtWeberdavon,eshabesichumden»erste[n]ganzbe- wußtillegitime[n]undrevolutionäre[n]politischenVerband«gehandelt.Die bewußteIllegitimitätliegthierdarin,daßmitderKonstituierungeiner»politi- sche[n]SondergemeindeinnerhalbderKommune,miteigenenBeamten,ei- genen Finanzen und eigener Militärverfassung [...] im eigentlichsten Wort- sinneinStaatimStaate«gegründetwordensei.4Alsursprünglichillegitime HerrschaftbetrachtetWeberauchdiejenigederSignori,dieerstmitderUm- wandlung in erbliche Fürstentümer »in den Kreis der legitimen Gewalten« eingetreten sei.5 Er vergleicht die italienischen Stadtfürsten wiederholt mit denantikenTyrannenals»spezifischillegitimenHerren«,6vorallemdeshalb, weilsichdasMusterähnelt,daßsicheineAlleinherrschaftaufdieUnterstüt- zungbreitererSchichtenderBevölkerungstützenkann.7 EsentsprichtdemgesamtenDuktusdesvorliegendenTextesder»Stadt«, daßdieAusführungenzumMittelaltermehrRaumeinnehmenalsdiejenigen zurAntike,unddaßderVergleichzwischendiesenbeidenEpochendereuro- päischenGeschichtejeweilsvomMittelalterausgeht.Soauchhier:dieanti- ken Äquivalente zu illegitimer Herrschaft – Weber nennt die Sonderver- bandsbildungendesspartanischenDemosundderrömischenPlebssowiedie Tyrannis – werden nur knapp in diesem Sinne angeführt. Über diesen Ver- gleichsrahmen hinaus geht noch eine Bemerkung über ein illegitimes Ele- ment innerhalb der athenischen Demokratie. Auf Einzelheiten komme ich nochzurück. HiergehteszunächstnurumzweiFeststellungen:Erstens:derText»Die Stadt«kannnichtalsGanzesderHerrschaftssoziologiezugerechnetwerden. Zweitens:dieherrschaftssoziologischbesondersrelevantenPassagenindie- semTextgeltendemPhänomenillegitimerHerrschaft.Obdiesegrundsätz- licheinensinnvollenPlatzinnerhalbderWeberschenKategorienhabenkann undoberdaranspäternochfestgehaltenhätte,8lasseichoffen.HierhatWe- 3 MWGI/22–5,S.124ff. 4 MWGI/22–5,S.200. 5 MWGI/22–5,S.230. 6 MWGI/22–5,S.224. 7 MWGI/22–5,S.208,222,226,230. 8 NachweisederLiteraturzudieserFragebeiWilfriedNippel,Einleitung,MWGI/22–5, S.26f.–FürdieVereinbarkeitmitderHerrschaftssoziologieplädiertjüngst:StefanBreuer, NichtlegitimeHerrschaft,in:HinnerkBruhns,WilfriedNippel(Hgg.),MaxWeberunddie StadtimKulturvergleich,Göttingen2000,S.63–76. DieantikeStadtinMaxWebersHerrschaftssoziologie 191 ber jedenfalls davon gesprochen, wobei er sich augenscheinlich im Kontext herkömmlicherVorstellungenvonstaatsrechtlicherLegitimitätbewegt,also noch nicht mit einer eigenen, anspruchsvollen Theorie über die Anerken- nungsgründepolitischerHerrschaftsformenoperiert. InderSachegehtesvorrangigumdiemittelalterliche,speziellitalienische Verfassungsgeschichte, was sich auch daraus erklärt, daß im Mittelalter die BildungeinerStadtgemeindegegenexistierendeübergeordneteHerrschafts- gewaltenerfolgte.InderAntikestelltesichdasProblemsonicht.DerZusam- menbruchdermykenischenKultur,dieaufeinemKönigtummitpatrimonial- bürokratischer Administration beruht hatte, insofern durch quasi-orientali- scheStrukturengeprägtgewesenwar,9hatteeinMachtvakuumhinterlassen. In den nach mehreren Jahrhunderten bei Homer erkennbaren Frühformen kleinräumigerpolitischerOrganisationistderKönignureinprimusinterpa- res,deraufdieKooperationeinerKriegeraristokratieangewiesenist,10eines Adels,derauchverhindernkann,daßderKönigdurchMonopolisierungvon HandelsgewinnenundGrundrentensichdieMöglichkeitenzumAufbauei- nesvonihmabhängigenMachtapparatsverschaffenkann.11DietypischeEnt- wicklungistdie»UmbildungderGewalteinerseitsdesStadtkönigs,anderer- seitsderSippenältestenzueinerHonoratiorenherrschaftdervollwehrhaften ›Geschlechter‹«.12GemeintisteinerseitsdieAblösungdesKönigtumsdurch diesukzessiveHerausbildungvonJahresmagistraturen,13andererseitsdieEr- setzungeinesRatesdernichtmehrwehrfähigenAltenimphysischenSinne durch einen Rat der Honoratiorengeschlechter, gebildet aus den Häuptern der Geschlechter bzw. aus den ehemaligen Magistraten, für den dann die mögliche Bezeichnung als Ältestenrat nur noch übertragene Bedeutung hat.14EinweiteresgrundlegendesElementistfürWeberschließlichdasFeh- leneinesstarkenPriestertums;PriestersindimwesentlichenfürdenVollzug von Kulthandlungen zuständig, die offiziellen Kulte unterliegen aber der KontrolledurchdieMagistratederPolis,dieauchwesentlicheTeilederVer- handlungenmitdenGötternselbstwahrnehmen.15Dieseinder»Stadt«ent- wickelten Gesichtspunkte16 finden sich in kürzerer, stärker von der histori- schenEntwicklungabstrahierenderFormauchinverstreutenBemerkungen imälterenTeilderHerrschaftssoziologievon»WirtschaftundGesellschaft«. 9 MWGI/22–5,S.173. 10 MWGI/22–5,S.174f. 11 MWGI/22–5,S.177. 12 MWGI/22–5,S.124. 13 MWGI/22–5,S.189. 14 MWGI/22–5,S.189f. 15 MWGI/22–5,S.184f. 16 VerschiedeneAspektefindensichauchschoninfrüherenArbeitenWebers,nament- lichinden»AgrarverhältnissenimAltertum«;vgl.dieHinweiseMWGI/22–5,S.2ff. 192 WilfriedNippel Die Geschlechterherrschaft wurde modifiziert oder ganz gebrochen, weil breitereSchichtenderBürger,die–alssichselbstausrüstendeHopliten–für diemilitärischeLeistungsfähigkeitderPolisunverzichtbarwaren,einenAn- spruchaufgrößerepolitischePartizipationerhoben.ImRegelfallführtediese »demokratische Bewegung der nichtadligen Bürger gegen die Geschlech- ter«17 zu einer »Gleichstellung« aller Bürger, die jedoch »durch Abstufung des Stimmrechts und der Amtsfähigkeit, anfänglich nach Grundrenten und Wehrfähigkeit,späternachVermögen,durchbrochen«wurde.18Selbstwenn alle über gleiches Stimmrecht in der Volksversammlung verfügten, konnte doch nur die vermögende Elite der Nicht-Adligen neben den alten Ge- schlechterndenZugangzuRatundÄmternfinden,seies,weildieBerechti- gungdazuformalaneinenZensusgeknüpftwurde,seies,weildieMasseder BürgerfürdieÜbernahmesolcherFunktionenökonomischnichtabkömm- lichwar.EshandeltsichlautWeberumeine»Demokratieäußerlichähnlicher Art,wiesieauchinzahlreichenitalienischenKommunenauftrat«.19 AbernurimAusnahmefallwurdeinderAntikedieseEntwicklunginähnli- cherWeisewiebeimitalienischenpopolodurchgesetzt,indemeinSonderver- bandgebildetwurde,andessenSpitzeeigeneMagistratestanden,dieeinen AnspruchaufKassationderAmtshandlungenderMagistratederGesamtge- meindeerhoben.DerauffälligsteFallliegtbeiderFormierungderrömischen Plebs und der Etablierung der Volkstribune vor.20 Deren Anspruch, die Handlungen der Magistrate verhindern bzw. aufheben zu können, war zu- nächstnurgestütztaufdenSchwurderPlebs,daßihreTribunesakrosanktsei- en, was nichts anderes als die Androhung der Lynchjustiz gegen jeden war, der einen Tribunen angreifen sollte. Den Tribunen fehlte insofern legitime Amtsgewalt;alles,wassieanVerbesserungdermateriellenLage,derrechtli- chen Stellung und politischen Beteiligung der Plebejer durchsetzten, ging letztlichaufihrusurpiertesInterzessionsrechtgegendieregulärenMagistrate zurück.21MitderBeilegungderStändekämpfewurdendieTribunealsfastre- guläreMagistrateindasGesamtgefügederMagistraturintegriert,wennauch eineSonderstellungerhaltenblieb,dieunterUmständenwiederzueigenstän- digenpolitischenAktivitätenführenkonnte.22InsgesamtführtederStände- kampfzueinerErweiterungdesKreisesderHonoratiorenumdieEliteder Plebejer. Die Stellung des Senats als solchem, stellt Weber fest, wurde da- 17 MWGI/22–5,S.214. 18 MWGI/22–5,S.215. 19 MWGI/22–5,S.215. 20 WuG5,S.159,werdendieBeispieledesmittelalterlichencapitanodelpopolo,derrömi- schenTribunenundderspartanischenEphorennochumdasjenigederArbeiter-undSolda- tenrätevon1918/1919ergänzt. 21 MWGI/22–5,S.209f. 22 MWGI/22–5,S.211. DieantikeStadtinMaxWebersHerrschaftssoziologie 193 durchjedochnichtangetastet;erblieb»dieleitendeBehördederStadt,undes istniederVersuchgemachtworden,daranetwaszuändern«.23 IndergriechischenGeschichtefindetsicheinepartiellvergleichbareEnt- wicklungnurinSparta,wodieEphoren(ähnlichwiedierömischenVolkstri- bune) ursprünglich als Interessenvertreter des Demos auftraten und später alsreguläreJahresbeamteintegriertwurden.DieBesonderheitderEntwick- lunginSpartalagwiederumdarin,daßhierdasKönigtum(indereigenartigen FormdesDoppelkönigtums)alsmilitärischesFühreramterhaltengeblieben war,währendalsErgebnisderStändeauseinandersetzungenderursprüngli- cheAdelganzverschwundenwar,24sodaßdieVerfassungSpartasinklassi- scherZeitdurcheinenKompromißzwischendenKompetenzenderKönige einerseits, der Ephoren als Vertreter der Gesamtgemeinde andererseits ge- kennzeichnetwar.25 InAthenwiederumläßtsichdasPhänomenderBildungeinesSonderver- bands,derdannspäterintegriertwurde,nichtfeststellen;hieraberführtedie militärische Bedeutung der mittleren und unteren Bürger, namentlich seit- dem die athenische Machtentfaltung auf der von den eigenen Bürgern be- manntenFlotteberuhte,zueinerweitergehendenDemokratisierung,die»der MassederKleingewerbetreibenden,KleinhändlerundMinderbesitzer[...]im Ergebnis[...]dieMachtindieHände«legte.26ErmöglichtwurdediesimLau- fedes5.Jahrhundertsv.Chr.durchdieHerabsetzungbzw.faktischeAußer- kraftsetzungdesÄmterzensus,durchdieBegrenzungderÄmteraufeinJahr beiVerbotderWiederwahl,dieEinrichtungeinerVielzahlvonÄmternmit eng definierten Aufgaben, die jeweils von größeren Kollegien wahrgenom- menwurden,dieBestellungvonRatundÄmternperLos,dieReduzierung desgelostenRates(nachderpolitischenEntmachtungdesausdenehemali- gen Oberbeamten zusammengesetzten Rates auf dem Areopag) auf die Funktion eines »einfachen geschäftsführenden Ausschusses« der Volksver- sammlung, so daß die Volksversammlung für alle wichtigen Fragen das tat- sächlich, nicht nur formell, entscheidende Gremium wurde; hinzu kam schließlich,daßdieAbkömmlichkeitauchderkleinenBürgerfürdieWahr- nehmungvonMagistraturenundRatsmitgliedschaftdurchdieZahlungvon Tagegeldern ermöglicht wurde.27 Es blieben nur noch wenige Funktionen übrig,diedieArbeitskraftvollinAnspruchnahmen,somitnichtalsGelegen- heitsamtauszuübenwaren,namentlichdiehohenFinanz-undMilitärämter, fürdiedeshalbweiterhinnurHonoratioreninFragekamen.28 23 MWGI/22–5,S.268. 24 MWGI/22–5,S.181,272. 25 MWGI/22–5,S.212–214. 26 MWGI/22–5,S.215f. 27 MWGI/22–5,S.215f.,219f.,268,295. 28 MWGI/22–5,S.219. 194 WilfriedNippel AthenundRomhättensichalshöchstunterschiedlicheAusprägungender jeweilsgegebenenMischungzwischeneinerSelbstverwaltung,anderpoten- tiell alle Bürger beteiligt waren, und der Überlassung von Amts- und Füh- rungsfunktionen an Honoratioren darstellen lassen. Dieser Gesichtspunkt kommtinder»Stadt«durchausvor.Weberthematisiertihnaberbesonders imHinblickaufdieFähigkeit,eineExpansionspolitikineinestabileReichs- bildung zu überführen. Im athenischen Fall scheiterte dies aus seiner Sicht notwendig an einem Demos, der an der Exklusivität seines Bürgerstatus samtdendamitverbundenenmateriellenGratifikationen(Landzuteilungen, Getreideversorgung, Tagegeldern, Sold) interessiert war, insofern seine Bundesgenossen nur militärisch beherrschte, sie aber nicht in einen umfas- sendenBundesstaatmiteinemeinheitlichenBürgerrechteinzugliedernver- mochte.29 Rom war deshalb so viel erfolgreicher, weil hier »in ungleich stärkerem MaßealsinirgendeinerantikenPoliseineHonoratiorenschichtstarkfeuda- len Gepräges Träger der Herrschaft geblieben« war.30 Das »feudale« Ele- ment lag in der Kontinuität von Klientelverhältnissen, die der römischen Aristokratienichtnurerlaubten,dasBürgerrechtimInnerenoffenzuhalten, u.a.Freigelassenezuintegrieren,31sondernauchimZugederExpansionei- ne Herrschaft mit geringem Aufwand an Personal und Ressourcen auszu- üben:»DersiegreicheFeldherrnahmverbündeteStädteundLänderinper- sönlichenSchutz,unddiesePatronagebliebinseinemGeschlecht:sohatten dieClaudierSpartaundPergamon,andereFamilienandereStädteinKlien- tel,empfingenihreGesandtenundvertratenimSenatderenWünsche.Nir- gendsinderWeltisteinederartigepolitischePatronageindenHändenein- zelner, formell rein privater Familien vereinigt gewesen«.32 Webers Sympa- thie für das aristokratische Regime Roms im Vergleich zur Herrschaft des DemosinAthenistunverkennbar:»EstratimrömischenpolitischenLeben dieBedeutungderRedeunddesVerkehrsaufderAgoraundinderEkkle- sia [...] weit zurück [...]. Reden wurden erst später und dann wesentlich im SenatgehaltenundhattendemgemäßeinenganzanderenCharakteralsdie politische Redekunst des attischen Demagogen. Tradition und Erfahrung derAlten,dergewesenenBeamtenvorallem,bestimmtediePolitik.[...]Ra- tionaleErwägung,nichtaberdiedurchRedenangeregteBeutelustdesDe- mos[...]gabinderPolitikdenAusschlag.RombliebunterderLeitungder Erfahrung, Erwägung und der feudalen Macht der Honoratiorenschicht«.33 29 MWGI/22–5,S.289–292. 30 MWGI/22–5,S.293. 31 MWGI/22–5,S.215,280–282. 32 MWG I/22–5, S.294. – Zu den historischen Beispielen vgl. die Erläuterungen ebd., Anm.275.–WuG5,S.560f.,wirddieExpansionsfähigkeitvonStaatenmitHonoratioren- herrschaftauchandenBeispielenvonVenedigundEnglanderläutert. 33 MWGI/22–5,S.298f. DieantikeStadtinMaxWebersHerrschaftssoziologie 195 DieVeränderungenderrömischenOrdnungdurchdieEntstehungdesPrin- cipats werden in Webers – augenscheinlich unvollendetem – Text34 nicht (mehr) thematisiert.35 Diese Gegenüberstellung macht deutlich, daß sich Webers Kritik an der athenischenDemokratie–außeraufdieangeblichfehlendeFreiheitderLe- bensführung, die Unterordnung aller individueller Interessen unter diejeni- gender»Kriegerzunft«,dieOrientierungderBürgeranpolitisch-militärisch vermitteltenstattanfriedlichenErwerbschancen–36auchaufdasZusammen- spielzwischenderVolksversammlungunddemDemagogengründet.»Derei- gentlicheLeiterderPolitik,dendievolldurchgeführteDemokratieschuf:der Demagoge,warformalimperikleischenAthenregelmäßigderleitendeMili- tärbeamte.AberseinewirklicheMachtstellungberuhtenichtaufGesetzoder Amt,sonderndurchausaufpersönlichemEinflußundVertrauendesDemos. Sie war also nicht nur nicht legitim, sondern nicht einmal legal, obwohl die ganzeVerfassungderDemokratieaufseinVorhandenseinebensozugeschnit- ten war wie etwa die moderne Verfassung Englands auf die Existenz des gleichfallsnichtkraftgesetzlicherKompetenzregierendenKabinetts«.37We- bersBehandlungdieserRolledesDemagogenfolgterkennbarAusführungen beiEduardMeyer,derdieBekleidungdesAmteseinesStrategenalsnotwen- dige,wennauchnichthinreichendeBedingungfürdieRolledesDemagogen angesehen38unddessenzentraleRollefürdasathenischeVerfassungssystem hervorgehobenhatte.39Auchdie–starkübertreibende–AussageWebersan andererStelle,ohnedenDemagogenhätteinAthendie»Staatsmaschinekei- 34 Nippel,EditorischerBericht,MWGI/22–5,S.45,Anm.1.DerzitierteSatzbildetnun- mehrdenSchlußsatzderAbhandlungunderhältdadurch,wennauchzufällig,besonderes Gewicht. 35 BemerkungendazufindensichnurMWGI/22–5,S.211,295f. 36 WeberstehtindiesenPunktenineinerbisaufdas18.Jahrhundertzurückgehenden TraditionderKritikandermilitärischenAusrichtungderPolisunddemFehlenindividuel- lerRechte;vgl.WilfriedNippel,Republik,Kleinstaat,Bürgergemeinde.DerantikeStadt- staatinderneuzeitlichenTheorie,in:PeterBlickle(Hg.),TheorienkommunalerOrdnungin Europa,München1996,S.225–247. 37 MWGI/22–5,S.219f. 38 »DerseinemWesennachamtloseDemagoge,derthatsächlicheRegentdesStaats,ge- winntinderStrategiegewissermasseneinNebenamt,dasdieunentbehrlicheErgänzungsei- nerHerrscherstellungbildetunddaserbekleidet,solangeersichinderHerrschaftzube- hauptenvermag«;EduardMeyer,GeschichtedesAlterthums,Bd.3,1:DasPerserreichund dieGriechen.I.Hälfte:BiszudenFriedensschlüssenvon448und446v.Chr.,Stuttgart1901, S.347. 39 Meyer,GeschichtedesAltertums,Bd.3,1,S.579,betont,»dassdieattischeDemokratie thatsächlich auf eine Institution zugeschnitten ist, von der die geschriebene Verfassung nichtsweiss:aufdieLeitungdesStaatsdurchdenvomVertrauendesVolksaufunbegrenzte ZeitanseineSpitzeberufenenDemagogen«. 196 WilfriedNippel nen Augenblick funktionieren« können,40 geht wohl auf eine Formulierung beiEduardMeyerzurück.41 Webergehtnichtnurdavonaus,daßdieFunktiondesVolksführersgekop- pelt ist an die Bekleidung des militärischen Führungsamtes, der Strategie, sondernnimmtauchan,daßvondenjährlichzehnzuwählendenundbeliebig wiederwählbaren Strategen jeweils einer eine formal herausgehobene Stel- lung gehabt hätte. Das wird zwar heute in der Forschung im Allgemeinen nichtmehrsogesehen,42warabereineinderLiteraturdes19.Jahrhunderts verschiedentlichvertretenePositiongewesen.SieberuhteaufderBeobach- tung,daßmanim5.Jahrhundertv.Chr.,namentlichinderZeit,inderPerikles immer wieder zum Strategen gewählt worden war (443–429 v.Chr.),43 ver- schiedentlichvondemPrinzipabgegangenwar,daßjedederzehnPhylen(der für die militärische Organisation maßgeblichen Untereinheiten der Bürger- schaft)einenStrategenzustellenhatte,undstattdesseneinerderStrategen aus der gesamten Bürgerschaft gewählt worden war.44 Im älteren Teil der Herrschaftssoziologie von »Wirtschaft und Gesellschaft« behauptet Weber, diesereineherausgehobeneStratege(konkretPerikles)seigewähltworden, während die übrigen neun durch das Losverfahren bestellt worden seien.45 Hierfürberuftersichausdrücklichaufeine»Hypothese«EduardMeyers.Al- lemAnscheinnachberuhtdiesaufeinemMißverständnis,dasichMeyernur aufdieSonderregelungfürdieWahleines»Oberstrategen«ohneBerücksich- tigungderPhylenzugehörigkeitbezieht,keinesfallsaberbehauptet,dieübri- gen neun Strategen seien ausgelost worden.46 (Daß Weber an dieser Stelle voneinercharismatischenKomponentespricht,stelleichzunächstzurück). TrotzdiesesMißverständnissesimDetailsindWebersFeststellungenüber dieFührungsrolleeinesManneswiePerikles,dessenherausragendePosition aufdemVertrauendesVolkesberuhte,grundsätzlich–auchnochausheuti- gerSicht–zutreffend.Esistaberunverständlich,warumdieseStellung»nicht nurnichtlegitim,sondernnichteinmallegal«gewesenseinsoll,wieesinder obenzitiertenStelleausder»Stadt«heißt.DieVerfassungwarganzaufdie 40 MaxWeber,DiedreireinenTypenderlegitimenHerrschaft,WL,S.483. 41 »DerattischeStaatohneanerkanntenDemagogenwarnichtsanderesalspermanente Anarchie«;Meyer,GeschichtedesAltertums,Bd.3,1,a.a.O.,S.582. 42 Vgl.v.a.KennethJ.Dover,Dekatosautos,JournalofHellenicStudies80(1960),S.61– 77. 43 Plutarch,Perikles16,3. 44 Sou.a.beiJohannGustavDroysen,BemerkungenüberdieattischenStrategen,Her- mes9(1874),S.1–21;KarlJuliusBeloch,DieattischePolitikseitPerikles,Leipzig1884, S.274–288. 45 WuG5,S.665;auchin»PolitikalsBeruf«,MWGI/17,S.191,istvom»Oberstrategen« als dem »einzigen Wahlamt« die Rede. – Ebenso schon, wenn auch vorsichtiger, in den »Agrarverhältnissen«:»InAthenwurden[...]alleÄmter(mitderzweifelhaftenAusnahme desProtostrategen)durchLosbesetzt[...]«;SW,S.125. 46 Meyer,GeschichtedesAltertums,Bd.3,1,a.a.O.,S.347. DieantikeStadtinMaxWebersHerrschaftssoziologie 197 uneingeschränkte materielle Entscheidungskompetenz der Volksversamm- lungausgerichtet;wenneinerunterdenzahlreichenRednernundAntragstel- lerninderVolksversammlungeinbesonderesVertrauengenoßunddamitdie Chancebesaß,fürdievonihmvertretenePolitikimmerwiederdieMehrheit zugewinnen,isteigentlichnichtnachvollziehbar,wasdaranillegitimoderille- galgewesenseinsoll,selbsthinsichtlichdervonWebernichtweiterthemati- sierten Konstellation der nachperikleischen Zeit, in der eine solche Rolle nichtmehrandieBekleidungderStrategiegebundenseinmußte.47DerVer- gleichmitderfaktischen,jedochnichtrechtlichennormiertenHerausbildung desbritischenKabinettsausdemPrivyCouncil48kannWebersArgumenta- tionschwerlichstützen.AufeinenmöglichenAnhaltinderantikenÜberliefe- runggehternichtein.Manhättenämlicheinerseitsaufzeitgenössische(inder Perikles-BiographievonPlutarchzitierte)KritikanPeriklesBezugnehmen können,seineüberragendeStellungkommeeinerTyrannisgleich,oderande- rerseitsaufdieseitdemspäten5.Jahrhundertv.Chr.inderVerfassungstheo- riereflektiertegrundsätzlicheMöglichkeit,daßsicheinVolksführerzueiner Alleinherrschaftaufschwingenkönnte.49EinenRückgriffaufdieseTraditio- nenvermagichhierjedochnichtzuerkennen;insofernbleibtdieBegründung fürWeberssachlichhöchstanfechtbareBemerkungmysteriös. Inder»Stadt«deutetWeberzwaran,daßdieRolledesDemagogeninder athenischen Demokratie an seiner »politischen Redekunst« hängt,50 spricht hierabernichtvoneinercharismatischenStellung.DieserBezugwirdjedoch wiederholt in den anderen Ausführungen zur Herrschaftssoziologie (ein- schließlich der einschlägigen Passagen aus »Politik und Beruf«) hergestellt. DerDemagogedesathenischenMusterserscheintnebendemProphetenund demKriegsheldenalsPrototypdescharismatischenHerrschers,eristeinspe- zifischesProduktdesokzidentalenStadtstaates.51DerantikeDemagogewird einmal mit einem parlamentarischen Parteiführer à la Gladstone assoziiert, dessen Stellung auch auf einer unmittelbaren Bindung an die Wählerschaft 47 Kleon,denführendenPolitikernachPerikles,derinderantikenTraditionalsPrototyp desunverantwortlichagierendenDemagogenimGegensatzzueinemidealisiertenPerikles dargestelltwird,erwähntWeberindemSinne,daßsichbeiwertneutralerVerwendungdes Charisma-Begriffs kein grundsätzlicher Unterschied zu Perikles feststellen lasse; WL, S.483;MWGI/17,S.191;WuG5,S.668. 48 FürNachweisezurDiskussiondes19.Jahrhundertsüberdienichtrechtlichfixierte FormderKabinettsregierungvgl.MWGI/22–5,S.220,Anm.76. 49 Herodot3,82,4.DasMotivlebteweiterfortundbildeteschließlichim2.Jahrhundertv. Chr.einederGrundlagenfürdieVorstellungeines»KreislaufsderVerfassungen«beiPoly- bios(6,3–9).AufdieseKreislauftheoriehatsichz.B.WilhelmRoscher,Politik:Geschichtli- cheNaturlehrederMonarchie,AristokratieundDemokratie,Stuttgart1892,S.588–714,für seineKonzeptiondes»Caesarismus«bezogen. 50 MWGI/22–5,S.298. 51 MWGI/17,S.162;WL,S.483. 198 WilfriedNippel beruht,52 zum anderen in einem Atemzug mit den caesaristischen Regimes vonNapoleonI.undNapoleonIII.genannt.53(Auffälligist,daßCaesar,der historischeBezugspunktderCaesarismustheoriedes19.Jahrhunderts,nicht genannt wird).54 Der Demagoge taucht im jüngeren Teil der Herrschaftsso- ziologievon»WirtschaftundGesellschaft«55unterdemStichwort»plebiszitä- reDemokratie«auf:diedortgegebeneListestelltihnineineReiheunteran- deremmitantikenTyrannen,römischenVolkstribunenvomTypusderGrac- chen, capitani del popolo in italienischen Städten, Cromwell, Robespierre und Napoleon.56 Gemeinsam soll allen sein, daß ihre Herrschaft auf dem Glauben der Anhängerschaft an außerordentliche persönliche Qualitäten gründet,unddieLegitimierungderHerrschaft,wennüberhaupt,»inderple- biszitärenAnerkennungdurchdassouveräneVolkgesucht«wird.57 AuchdiesistimHinblickaufdenathenischenDemagogenhöchstbefremd- lich.PerikleskannmansichermitWeberein»CharismavonGeistundRe- de«58 als Grundlage seiner Führungsrolle attestieren, aber ob man in einer jährlichvorzunehmendenWahl(selbstbeiWeberssachlichfalscherAnnah- meandieserStelle,daßdieWahleineAusnahmeregelungfürdieBestellung allein des »Oberstrategen« sei) einen »charakteristischen charismatischen Einschlag«59sehenkann,isthöchstzweifelhaft.DennfüralleAnträgemußte derVolksführerinderVolksversammlungjeweilsneueineMehrheitsuchen; selbstwenndiesalsFolgeeineskontinuierlichgewachsenenVertrauenskapi- talsvoneinembestimmtenZeitpunktanregelmäßiggelang,istdiesnichtals plebiszitäreZustimmungzueinerpersönlichenHerrschaftanzusehen.Peri- klesunterlagwiejederanderederKontrollederVolksversammlung,konnte auch,wiezuBeginndesPeloponnesischenKriegesgeschehen,kurzfristigsei- nesAmtesalsStrategeenthoben(unddannraschwiedergewählt)werden.60 AuchwennmandensonstigenKatalogvonWeberfürdasEntstehenunddie Transformierung charismatischer Herrschaft heranzieht – die tiefgreifende Krise,diedieSuchenachdemRetterbedingt,denGlaubenderAnhängeran außeralltägliche, übernatürliche Fähigkeiten, die charismatische Rekrutie- rungdesVerwaltungsstabes,dieProblemederNachfolgerregelungbzw.gene- rellderVeralltäglichungdesCharisma–,paßtdieseigentlichallesnichtauf 52 MWGI/17,S.209. 53 WuG5,S.665. 54 ZurVorstellungvomCaesarismus,aufdieWeberrekurriert,vgl.WilfriedNippel,Cha- rismaundHerrschaft,in:ders.(Hg.),VirtuosenderMacht.HerrschaftundCharismavonPe- riklesbisMao,München2000,7–23,281–289,hierS.12ff. 55 WuG5,S.156f. 56 EineähnlicheListeliegtRoschersCaesarismus-Darstellungzugrunde,nurdaßbeiihm –andersalsbeiWeber–auchCaesarunddierömischenKaisereingeschlossenwerden. 57 WuG5,S.156. 58 WuG5,S.665. 59 WuG5,S.665. 60 Thukydides2,65,3f.;Plutarch,Perikles35,4;37,1.
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