◯ S B EBASTIAN RETSCHNEIDER D A O IE NATOMIE DER RDNUNG Z D B M UM POLITISCHEN ENKEN ERNARD ANDEVILLES Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin Der Dekan der Philosophischen Faklultät I: Prof. Michael Seadle, PhD Datum der Verteidigung: 24. Juli 2013 Gutachter: Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Gerhardt Prof. Dr. Peter Nitschke ◯ Zusammenfassung: In einem Bienenkorb voll Antworten für Ordnung zu sorgen, so ließe sich mit Montaigne die Aufgabe der vorliegenden Arbeit beschreiben. Um ein Integral zu schaffen, wird Bernard Mandeville als Ordnungstheoretiker betrachtet. In dieser Form sollen sowohl die funktionellen als auch die normativen Aspekte seines politischen Denkens erfasst werden. In historischer Perspektive soll es so ermög- licht werden, Mandeville in einem weit gefassten, ideengeschichtlichen Kontext zu positionieren. In systematischer Hinsicht wiederum sollen stilistische, me- thodische und inhaltliche Untersuchungen koordiniert werden, um anthropologi- sche, ökonomische, soziologische, politische und ethische Momente in ihrem Ne- xus zu erfassen. Sofern man (1) die anthropologischen Fundamente fokussiert, wird die Bedingtheit ökonomischer und rechtsstaatlicher Ordnungsmomente hin- sichtlich der Entstehung wie dem Fortbestand der politischen Ordnung aufge- zeigt. Dabei wird (2) Mandevilles Konzeption einer spontanen Ordnung den Anfor- derungen einer zunehmend plural erfahrenen und global verwobenen Welt in funktionaler Hinsicht gerecht. Zugleich stellt (3) sein Modell einer Ordnung der Diversität eine Transformationsleistung dar, welche dem Prinzip der Individuali- tät faktisch eine zentrale Position im politisch-normativen Diskurs sichert. Wird darüber hinaus (4) das Konzept der Öffentlichkeit in Betracht gezogen, so das Ar- gument der vorliegenden Arbeit, kann dem lebendigen Individuum mit Mandeville eine moralische Dimension in der belebten Welt eröffnet werden. Schlagwörter: Ordnungstheorie; politische Philosophie; Selbstliebe; Diversität; kulturelle Evolution Abstract: To establish order in a beehive full of answers, could be a reformulation of the task within the research on hand. To achieve an integral, Bernard Mandeville will be perceived as an order theorist. His political thinking will be dimensioned in terms of this integral. This will include functional as well as normative aspects. Historically, the study will seek to site Mandeville in a broad context that the His- tory of Ideas has instituted. Systematically, it will coordinate stylistic, methodical, and topical investigations. Thus the nexus of anthropological, economic, sociolo- gical, political, and ethical elements within his philosophical thinking is exerted. If (1) the anthropological fundaments are focussed, the interdependency of eco- nomic and constitutional momenta is depicted. This will prove substantial for the evolution as well as the continuance of the political order. Mandevilles concept of (2) spontaneous order meets the functional claims arising in a pluralistic and globally experienced world. His shaping of (3) an order based on diversity achieves a transformation that may bring the principle of individuality to bear. This will hold up in the political as well as in the general normative discourse. Furthermore, (4) the concept of the public sphere is taken in account. The re- search argues that Mandeville hereby opens up a moral vista for human beings as living creatures in an animated world. Keywords: theory of order; political philosophy; self-love; diversity; cultural evolution ◯ Mein Dank gilt Volker Gerhard für die Begleitung und Betreuung meiner Arbeit mit Bernard Mandeville. Seinem in so vielen Vorlesungen an der Humboldt- Universität zu Berlin bewunderten philosophischen Ernst ist der vorliegende Text – gerade in Anbetracht seines Protagonisten – verpflichtet. Mein Dank gilt Peter Nitschke für die Betreuung und Begutachtung meiner Dissertation, seinem historisch geschulten und systematisch scharfen Blick, welchem ich eine Vielzahl von Anregungen wie einige Momente kritischer Reflexion verdanke. Mein Dank gilt dem King's College London und dem DAAD für Ermöglichung der so wertvollen Austausch zur Prüfung und Fundierung meines Projekts. Er gilt speziell Andrea Sangiovanni für seine Leitung durch die verwinkelten Gänge des Colleges und der politischen Theorie. Mein Dank gilt Christiane Eisenberg und Martin Disselkamp, deren Lehre & Forschung zur britischen Wirtschaftsgeschichte bzw. zur (früh-)neuzeitlichen Literatur den hier unternommenen Versuch um so viele Nuancen bereichert haben. Mein Dank gilt Nina Lex für ihre Anstiftung zur Beschäftigung mit Bernard Mandeville, ebenso wie für ihre Sachkenntnis und ihren Rat zur Philosophie der Aufklärung. Mein Dank gilt Frauke Annegret Kurbacher, Stascha Rohmer und Christian Möckel für ihre so wertvolle Unterstützung bei formalen Hürden und der Lenkung des Blicks nach vorn. Mein Dank gilt meiner Familie für ihre Unterstützung in allen Phasen und Pausen des Schaffens. Mein herzlicher Dank gilt Charlotte Bretschneider für ihre Interpretation der buntscheckingen Fetzen Montaignes, welche nicht nur die Anatomie der Ordnung erst sichtbar machte. Ihren Korrekturen, Anmerkungen und Interventionen verdankt sich der vorliegende Text. I NHALTSVERZEICHNIS 1 Einleitung..............................................................................5 2 Die Entstehung politischer Gesellschaften.........................19 2.1 Anthropologische Grundlagen....................................................22 2.1.1 Self-love und self-liking....................................................................25 2.1.2 Externe Kritik und interner Fokus...................................................33 2.1.3 Anthropologische Konstanz und politische Konsequenz..................41 2.2 Evolutionäre Entwicklung..........................................................53 2.2.1 Die Entwicklung der Kooperation....................................................54 2.2.2 Die Emanzipation der Koordination.................................................65 2.2.3 Die Entdeckung der Evolution.........................................................72 3 Funktionale Systematik der Ordnungstheorie....................79 3.1 Die Ordnung der Ökonomie.......................................................84 3.1.1 Die evolutionären Voraussetzungen.................................................85 3.1.2 Die funktionalen Möglichkeiten.......................................................92 3.1.3 Nationaler Pluralismus vs. globaler Imperialismus.......................101 3.2 Die Ordnung der Gesetze.........................................................112 3.2.1 Die evolutionären Voraussetzungen...............................................113 3.2.2 Die funktionalen Möglichkeiten.....................................................122 3.2.3 Coffee-house und House of Commons............................................131 4 Begriffliche Untersuchungen............................................145 4.1 Beobachtungen zur Begriffsgeschichte der Ordnung..............147 4.1.1 Die erste Ambivalenz – natürliche vs. künstliche Ordnung...........148 4.1.2 Die zweite Ambivalenz – Uniformität vs. Diversität.......................159 4.1.3 Interpretationen und Transformationen........................................168 4.2 Der Moralbegriff Mandevilles..................................................182 4.2.1 Die Probleme der Begriffsbestimmung..........................................183 4.2.2 Die Begriffsvarianten bei Mandeville.............................................194 4.2.3 Die Konsequenzen der Differenzierungen......................................205 5 Normative Dimension der Ordnungstheorie.....................217 5.1 Utilitaristisches Gebot und moralische Legitimation...............219 5.1.1 Invisible und Dirty Hands..............................................................221 5.1.2 Private Laster und öffentliches Recht............................................229 5.1.3 Exkurs: ›Bildung‹...........................................................................240 5.2 Die öffentliche Genese der Moral............................................251 5.2.1 Satire und Aufklärung....................................................................253 5.2.2 Diversität und Individualität..........................................................265 5.2.3 Einheit und Öffentlichkeit..............................................................278 6 Schlussbetrachtungen.......................................................295 Tell me what jarring Witchcraft reigns within That can both tempt us, and forbid to Sin? Some strange harmonious discord rules your Eyes; For there, an Army of young Cupids lies; But close to them a Cross-grain’d Goddess clings, That, as they strive to mount, withold their Wings. I see the Mien of Virtue, yet can trace Some secret Wishes in that Heav’nly Face; Bernard Mandeville Wishes to a Godson (To Madam N.) 1 E INLEITUNG Versucht man, ein philosophisches Portrait Bernard Mandevilles zu zeichnen, so begegnet man ebenso veränderlichen Zügen und wechselhaften Minen, wie sie ihm selbst im Bild der Geliebten begegnen – ihrem menschlich bewegten und doch himmlisch schönen Antlitz. Der Gesichtsausdruck des Denkers wird aller- dings eher zwischen den ernsten Zügen des kritischen Wissenschaftlers und der im Lächeln verzerrten Mimik des satirischen Autors schwanken. Noch bevor ver- mittels einer philosophischen Analyse der Versuch unternommen wird, die Konturen inhaltlich und methodisch zu schärfen, wird deutlich, dass das Vorha- ben von den metaphorisch skizzierten Ambivalenzen und Dichotomien nicht abzusehen vermag. Das Unterfangen, ein wohlproportioniertes und ebenmäßiges Urbild in den diffusen Umrissen und gebrochenen Linien wiederzuerkennen, ist – wie in der modernen Malerei – zum Scheitern verurteilt. Der systematische Ge- halt und der philosophische Sinn des Werkes gelangen erst dann zur Sichtbarkeit, wenn dem Wechselspiel des scheinbar Paradoxen und vermeintlich Fragmentarischen nachgeforscht wird. Nirgendwo treten die letztgenannten Momente so unmittelbar in Erschei- nung wie in Mandevilles Hauptwerk, The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits. Das berühmt-berüchtigte Paradox des Untertitels weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Fabel im klassischen Sinne handelt. Sie gibt sich nicht als stringente Erzählung, vielmehr zerfällt der Text sowohl in stilistischer wie gattungsspezifischer, zeitlicher wie methodischer Hinsicht. Während die 6 1 Einleitung Quelle und eigentliche Fabel, The Grumbling Hive, 1705 erschien und mit einer ›Moral‹ endete, ist mit ihr lediglich der Startschuss zu einem Projekt gegeben, welches Mandeville in vielfältiger Weise noch 25 Jahre beschäftigen und welches in zahlreichen neuen Anmerkungen und Essays, Verteidigungen und Dialogen seinen schriftlichen Niederschlag finden wird. Doch wer davon ausgeht, dass Mandeville seine Arbeit fortsetzte, um sich weiter zu erklären und seine Position verständlicher zu machen, sieht sich getäuscht. Dass es sich vielmehr um einen Weg voller Irrungen und Wirrungen handelt, eröffnet sich dem Philologen und Philosophen gleichermaßen bereits mit Blick auf die Gattungen: Mandeville bedient sich der Fabel und der Satire, der Aufklä- rungsschrift und der Utopie. Die darin angelegte Zwiespältigkeit setzt sich innerhalb der Gattungen fort. Die Satire scheint nicht zu kritisieren und die Fabel schlicht die Realität, die Aufklärungsschrift richtet sich nur an die bereits Aufge- klärten und die Utopie gelangt als Gegenentwurf zur Fabelwelt der Bienen zu vermeintlicher Wirklichkeit. Das im Portrait gezeichnete Motiv der ›Verkehrung‹ wiederholt sich, wobei die humorvolle Maskerade jenes ›Karnevals‹ keineswegs zufällig wirkt. Die wohl berühmteste Verdrehung und derartige Wendung eines Genres stellt das Encomium des Erasmus von Rotterdam dar, wird hier doch in einer literaturhistorisch prägnanten und philosophiegeschichtlich wegweisenden kritischen Form die Gattung des höhnenden Spottlieds zum Abgesang auf die Spötter selbst verkehrt.1 Mit jener letzten Anmerkung ist bereits eine weitere Problematik der philoso- phischen Beschäftigung mit Mandeville angeschnitten. Denn für gewöhnlich wird er maßgeblich als einer der ersten gesellschaftskritischen Denker und Autoren der politischen und entstehenden Sozialphilosophie unter den Konditionen einer sich rasant gestaltenden Marktgesellschaft in einem unter ökonomischen Vorzei- chen geführten, historischen Diskurs positioniert. Wenngleich die biographischen Informationen zu Mandeville alles andere als reichhaltig sind, so eröffnen doch bereits die Eckdaten seines Lebens eine Perspektive, welche dazu einlädt, über den zuvor angedeuteten, beschränkten Horizont hinaus zu blicken. Schon die Fa- miliengeschichte, angefangen beim Urgroßvater, Michael de Mandeville, zeigt dies an, erfüllte jener doch als Stadt-Arzt und Rektor der Latein-Schule in Nijme- gen gewissermaßen das traditionelle »humanistic ideal as the universal scholar.«2 Die Söhne, unter ihnen Bernards Großvater Immanuel, besuchten allesamt die Universität und wurden dabei über die drei klassischen Fakultäten verteilt. Auch Immanuel, welcher Rechtswissenschaften studierte, blieb der humanistischen 1 Neben Erasmus wird im Rahmen der folgenden Untersuchungen insbesondere ein deutscher ›Schü- ler‹ im 16. Jh., Leonhardt Fronsperger, als Vertreter des in der Komik so ernsten Encomiums einge- bunden werden. Einführend zu deren Verbindung und dem Wandel der Gattung, vgl. Schulze (1986), insb. 613. 2 Die biographischen Ausführungen stützen sich auf die neuesten, fundierten Ergebnisse bei Dekker (1992), 482.
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