ebook img

Dichtung im Dritten Reich?: Zur Literatur in Deutschland 1933 – 1945 PDF

306 Pages·1996·9.039 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Dichtung im Dritten Reich?: Zur Literatur in Deutschland 1933 – 1945

Christiane Caemmerer· Walter Delabar (Hrsg.) Dichtung im Dritten Reich? Christiane Caemmerer Walter Delabar (Hrsg.) Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933 -1945 Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dichtung im Dritten Reich?: Zur Literatur in Deutschland 1933 - 1945 / Christiane Caemmerer; Walter Delabar (Hrsg.). - Opladen: Westdt. VerI., 1996 NE: Caemmerer, Christiane (Hrsg.) Aile Rechte vorbehalten © 1996 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulas sig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Gedruckt auf saurefreiem Papier ISBN 978-3-531-12738-5 ISBN 978-3-322-95638-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95638-5 Inhaltsverzeichnis Christiane Caemmerer, Walter Delabar Dichtung im Dritten Reich? Eine Einleitung .................................................................................................................. 7 Werner Jung Auf der Suche nach der verlorenen Totalitat. Ernst Junger und Georg Lukacs ....................................................................................... 15 Peter Sprengel Priester und Hanswurst. Inszenierungen der Dichter-Rolle im Spatwerk Gerhart Hauptmanns ............................ 29 Kai Luehrs, Gerald Sommer Nach Katharsis verreist. Heimito von Doderer und der Nationalsozialismus ........................................................ 53 Erhard Schutz Zwischen "Kolonne" und "Ethos des bescheidenen Standhaltens". Zu den Romanen von Horst Lange und August Scholtis wahrend des Dritten Reichs.. .. 77 JorgDoring Eulenspiegel schreibt Gespenstergeschichten. Wolfgang Koeppen im Dritten Reich .............................................................................. 97 Sabine Koflling, Jorg Sobotka "Unordnung ist ihm verhafit, alles Fremde und Abenteuerliche." Uber Karl Heinrich Waggerl und sein Werk ................................................................. 119 Walter Delabar Unheilige Einfalt. Zu den Verhaltenskonzepten in den Romanen Ernst Wiecherts ................................... 135 Carsten Wurmann Vom Volksschullehrer zum "vaterlandischen Erzieher". Wilhelm Schafer: Ein volkischer Schriftsteller zwischen sozialer F rage und deutscher Seele .................................................................. 151 Claudia Schoppmann Die innigsten Sympathien fur den Fuhrer. Ruth Magarete Roellig im "Dritten Reich" .................................................................... 169 6 Inhalt Christiane Caemmerer Einfach nur einer von denen. Der nationalsozialistische Autor Rudolf Ahlers ............................................................. 177 Sebastian Hoffmann Konzept und Konstanz. Dber das Konzept des geistigen und politischen Fiihrertums bei Hans Grimm ............. 193 Leopold R. G. Decloedt "Weder Kaiser noch Konig - sondem der Fuhrer" . Die Funktionalisierung der Geschichte bei Bruno Brehm... ............ ................. ... .......... 205 Hans Richard Rrittnacher Martyrer im Braunhemd. Hanns Heinz Ewers: Horst Wessel. Ein deutsches Schicksal (1932) ................................... 215 Johanna Robley Erziehung zur Heimat? Die Heimat-und Identitatsmodelle bei Emil Straufi ...................................................... 231 Jens·Peter Wagner Die Kontinuitat des T rivialen. Hans Friedrich Blunck (1888-1961) ................................................................................ 245 Herbert Van Uffilen Hohe Lieder auf die gesegnete Erde Flanderns. Niederlandische Literatur und Nationalsozialismus ....................................................... 265 HelgeDra/z Konvention oder Kollaboration? Zur Langlebigkeit bildungsburgerlicher Kulturideale am Beispiel der Schriften von Otto Briies .................... ............ ...... ................................ 277 Viktor Otto Literatur im Nationalsozialismus. Bibliographie .................................................................................................................. 293 Autoren. ........... .................. .................................... ........................................ ................ 309 Dichtung im Dritten Reich? Eine Einleitung Christiane Caemmerer und Walter Delabar lichtung manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum! EmstJandl! Keine Frage, die Vergangenheit ruht nicht. Ein "normales" Verhaltnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, ihrer "Nation" und ihrem Staat ist angesichts der Jahre 1933 bis 1945 kaum vorstellbar. Diese Geschichte lastet auf Kindem und Kindeskindern, nicht allein der Deutschen - ein Erbe, das niemand ausschlagen kann -, und treibt sie zu immer neuen Anstrengungen, ohne Rucksicht auf jene vielzitierte "Gnade der spaten Geburt". "Das Dritte Reich ist ein Rotes Meer, des sen Fluten nie und nimmer sich werden uberbriicken lassen."2 Aber an seine Ufer kommen sie dennoch alle. Freilich nicht ohne allen Vorbehalt. Distanzierung und Polarisierung sind die gebote nen Haltungen, urn nicht in den verhangnisvollen Sog zu geraten, der die Guten wie die Bosen erfa6t. Gibt man dem Teufel nur eine Locke yom sparlicher gewordenen Haupt haar, fragt man mithin nach dem, was Ernst Bloch schon 1935 unter dem zu rettenden Rest verstand3 und Uwe-Karsten Ketelsen dann im Jahre 1992 "das Moment subjektiver Wahrheit" genannt hat,4 rei6t er einem £lugs den Kopf ab und das ganze Leben aus dem Leib, und am Ende steht jenes Verdikt, mit dem notfalls alle Deutschen zur Holle fahren: Nazi. Gedenktagsprosa? Allerdings, aber nicht ohne Grund. Denn eine Beschaftigung mit der Literatur im Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 notigt jeden zur ausfuhrlichen Be griindung, zur Fixierung seiner weltanschaulichen Position, zur Demonstration seiner Unanfechtbarkeit, zu weniger genauen als entschiedenen Urteilen. Diesseits der Grenzen ist denn auch alles klar: NS-Literatur hier, Innere Emigration, Exil dort, Widerstand hier, Apologetik dort. Das macht gelegentlich durchaus Muhe - auf einen Gottfried Benn und einen Ernst Junger mag man in der deutschen Literatur nicht verzichten, und hat es auch nicht getan. 1 Ernst Jand!: Laut und Luise. Mit einem Nachwort von Helmut Heiflenbiittel. Stuttgart 1991, S. 135. 2 Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. 2., durchgesehene Auflage. Vierow 1994, S. 398. Erste Aus gabe 1992. 3 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe Bd. 4. Frankfurt/M. 1977, S. 18. 4 Er hat dies, soli hier immerhin mitgeteilt werden, auf die ideologisierte Literatur des friihen Z wanzigsten Jahrhunderts insgesamt bezogen, die die Nationalsozialisten mehr oder minder gelungen kanalisiert hatten. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich (wie Anm. 2), S. 69. 8 Christiane Caemmerer, Walter Delabar Aber damit nicht genug. Die harschen Auseinandersetzungen urn diese Autoren sind weniger urn die literarische Qualitat ihrer Werke oder urn ihre Position im literarischen und ideologischen Kontext ihrer Zeit gefiihrt worden, denn urn ihre ideologische Digni tat. N och jiingst der Streit urn Giinter Eichs Anpassungsleistungen an das NS-Regime,5 der durch die Wiederentdeckung des Horspiels Rebellion in der Goldstadt aus dem Jahr 1940 eine besondere Scharfe erhielt, hat dies demonstriert.6 Dabei schien Eich, als Vertre ter und Preistrager der Gruppe 47, einer jener renitenten Autoren der fiinfziger und sech ziger Jahre (beriihmt sein "seid Sand, nicht 01 im Getriebe der Welt"i') zu sein, die sich nicht von der Restauration hatten einvernehmen lassen, iiberaus erfolgreich mit seinen Horspielen zudem. Er schien mithin einer der Reprasentanten des anderen Nachkriegs deutschland zu sein, einer derjenigen, die mit ihrer Person und mit ihrem Werk gegen die ideologische Kontinuitat von Drittem Reich zu Bundesdeutschland standen. Aber auch dem war - erneut - nicht so. Vielleicht erklart sich die gereizte Reaktion des Suhrkamp Verlages, der dem Eich-Herausgeber Axel Vieregg die Publikation seines kritischen Kom mentars im Materialien-Band der neuen Eich-Ausgabe verweigerte,8 aus dem Bemiihen, die reinliche Scheidung zwischen rechtem und falschem Verhalten aufrecht zu erhalten. Die Verunsicherung allerdings, die angesichts solcher Aufarbeitungen jeden befallt, dem die WeIt nicht von vorneherein als geordnet erscheint, erzwingt Anstrengungen, die Grenze zwischen dem, was an literarischem wie alltaglichem Handeln als noch akzeptabel und dem puren Oberle ben dienlich verstanden wird, und dem, was die T oleranz der Nachgeborenen iiberschreitet, neu zu bestimmen, mithin auch die Verfahren, mit denen dies moglich ist. Ohne der Diskussion, an der sich dieser Band beteiligen will, vorzugrei fen, meinen wir festhalten zu konnen, dag diese Grenze nicht zwischen Gruppen und Personen, sondern meistenteils mitten durch sie hindurch verlauft. Freilich ist das Bediirfnis nicht zu tilgen, nicht allein Texte und bestimmte Handlun gen von Autoren, unsretwegen auch Haltungen innerhalb bestimmter Phasen zu "retten", sondern den ganzen Autor gleich mit - und wenigstens die Frage bleibt, weshalb denn ge rade wir uns so engagiert urn "Rettung" bemiihen. Warum kann sich Karl Heinz Bohrer in seiner jiingst publizierten Hommage an das Abenteuerliche Herz Ernst Jiinger nicht damit begniigen, den Jubilar als einen bedeutenden Autor bedeutender Schriften zu prei sen, sondern mug ihn zudem auch noch durch einige, intellektuell nicht immer integre sti listische und argumentative Manover entnazifizieren?9 Weil eben die Dichter doch nicht 5 V gl. Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Gunter Eichs Realitaten 1933-1945. Eppingen 1993. Eich ist zwar in unserem Band kein Beitrag gewidmet, einen iihnlichen Fall behandelt jedoch Jorg Doring in seinem Beitrag: Wolfgang Koeppen. 6 Vgl. als exemplarische Reaktion: Frank Olbert: Strammstehen fur Goebbels, Geld und Urlaub. Mit Gustav Knuth gegen Engeland: Gunter Eichs wiederentclecktes Horspiel "Rebellion in der Goldstadt". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 253, 30.10.1993; zuletzt zum Eich·Streit: Holger A. Pausch, Marianne Herzog: Ver gessene Texte, Schrift und Sprache. Beobachtungen zur Gunter Eich-Kontroverse. In: Wirkendes Wort 45 (1995) H. 1, S. 133-150, v.a. S. 133-139. 7 Gunter Eich: T raume. In: Gunter Eich: Gesammelte Werke in vier Banden. Revidierte Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Karl Karst. Frankfurt/M. 1991, S. 349·384, hier S. 384. 8 Vgl. etwa Ulrich Greiner: Ein Streit urn Eich. In: Die Zeit Nr. 16, 16.4.1993. 9 Karl Heinz Bohrer: Hommage an das Abenteuerliche Herz. In: Merkur 49 (1995) H. 4, S. 334-342. Dazu ge hort der Vergleich mit anderen, europaischen Autoren, clie clem Faschismus in einer seiner Spielarten zuneig ten, die Diskreditierung der Junger-Kritiker als kleinburgerlich und nachrangig und nicht zuletzt die Entpoli- Einleitung 9 nur Texte schreiben, nicht allein Personen des offentlichen Lebens, sondern dariiber hin aus Vorbilder sind und mit der eigenen Haut haften? Das kann kaum stimmen, minde stens in einer Zeit nicht mehr, die sich schon lange andere Idole mit anderen MaBstaben erkoren hat. Und nicht nur in dieser Hinsicht erweisen sich Intellektuelle immer wieder als hoffnungslos anachronistisch: Die Frage, ob der Rapper Snoop Doggy Dogg wirklich einen Mord begangen hat (IRL wie es abgekurzt und neudeutsch heiBt), interessiert nicht, weil seine Fans ihn von jeder Schuld gereinigt wissen wollten, sondern ganz im Gegenteil: nichts ware fur seine kunstlerische Karriere verhmgnisvoller als der Verlust seiner street credibility, als das Eingestmdnis, er habe von all dieser Gewalt nur gesungen. Dieses Exempel von der Einheit von Leben und Werk zuriick auf den Fall Junger ge wendet: Gewinnen Jungers literarische und politische Schriften der zwanziger Jahre nicht gerade dadurch an Signifikanz, wird nicht die ganze Figur erst dadurch authentisch, daB sie Stilwillen, Dezisionismus, Nihilismus und Faschismus miteinander verbunden hat? Ein Junger ohne Faschismus? Das ware ein anderer Autor. Die Vorstellung, In Stahlgewittern ware nicht in den Zwanzigern, sondern vielleicht in den spaten Vierzigern oder Funfzigern erschienen? Wie absurd. Was heiBen soll: Einen Autor wie Junger von seinem kulturellen wie politischen Kontext befreien zu wollen, bedeutet nichts weniger, als seinen Texten die Polyvalenz und - nicht allein, aber auch - ihre literarische Brisanz zu nehmen, heiBt mithin nicht zuletzt, der Literatur generell ihre Wirkmachtigkeit und Integration ins wirkliche Leben abzustreiten. 1st es nicht vielmehr so, daB die volkischen und nationalistischen Autoren dieser Zeit sich allesamt innerhalb der Spannbreite zwischen den unvorstellbaren Verbrechen, die von ihnen ideologisch mitbegriindet wurden, und jener bereits zitierten "subjektiven Wahrheit" bewegen, die bis heute Ankniipfungsmoglichkeiten bietet? In Botho StrauB' Anschwellendem Bocksgesang10 schwingt die gesamte zivilisationskritische Literatur seit Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu Thomas Mann, Oswald Spengler, Wilhelm Scha fer und Adolf Hitler mit. Damit wird Thomas Mann nicht zum Hitler-V orlaufer und Botho StrauB nicht zu seinem Apologeten - wer das aus solchen Formulierungen lesen will, den kann man daran nicht hindern -, aber alle drei (Mann, Hitler, StrauB) produzie ren wie reproduzieren Denkmuster, die sich zu einem groBen in jedem Fall nationalisti schen, zugleich konservativem wie revolutionarem Komplex formiert haben und aus dem sich die Nationalsozialisten mehr oder weniger beliebig bedienen konnten. Der Nationalsozialismus war ohne Zweifel der erfolgreichste und damit verhmgnis vollste Teil einer in ganz Europa zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts starken natio nal-konservativen politischen, ideologischen und kulturellen Stromung. Damit wird er nicht verharmlost - weils ja die anderen auch nicht besser gewuBt hatten -, sondern es wird nur der Blick auf das gesamte kulturelle Feld eroffnet, ohne das der Nationalsozia- tisierung Jiingers, indem ibn Bohrer auf den Kiinstler reduziert. der weder philosophisch noch politisch kriti sierbar sei. Man mag den Arger Bohrers angesichts der intellektuellen Schlampigkeit. mit der oftmals litera· turpolitisch agiert wird. verstehen. allerdings ist gerade dies eine schlechte Ausrede fur das. was er an dieser Stelle selbst exerziert hat. 10 Botho Strau£l: Anschwellender Bocksgesang. In: Deutsche Literatur 1993. Jahresiiberblick. Hrsg. von Franz Josef Gortz. Volker Hage und Uwe Wittstock. Stuttgart 1994, S. 255-269. zuerst in: Der Spiegel. 8.2.1993. 10 Christiane Caemmerer, Walter Delabar lismus nicht moglich gewesen ware. Er ist kaum sinnvoll als "vulgar"ll von den mit ihm verwandten und mit ihm auch in regem Austausch befindlichen Ideologemen zu separie ren. Eine wissenschaftliche, insbesondere literaturwissenschaftliche Beschaftigung mit einem Autor dieser Zeit und seinem Werk kann also nur auf seine spezifische Position in nerhalb der politisierten Kultur der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zielen, vielleicht sogar getrennt fUr seine biographischen Entscheidungen, politischen Haltungen und literarische Produktion. Sie kann, will sie ihrem Gegenstand angemessen sein und zugleich aktualisierbares Wissen produzieren, zudem eigentlich nur in einen groBeren Zusammenhang gestellt werden, der sich etwa in einer Kombination der Thesen Detlev J. K. Peukerts12 und Zygmunt Baumans13 so formulieren lieBe: die Weimarer Republik als die Krise der modernen Gesellschaft in Deutschland (Peukert) und das Dritte Reich als ihre katastrophische Konsequenz (Bauman). In diesem Kontext verliert die Frage danach, ob ein Werk oder ein Autor im engen Sinn nationalsozialistisch ist, an Sinn, denn mit mehr oder weniger groBer Miihe ist beinahe jeder zeitgeni:issische Autor dem "Dunstkreis des Nazimilieus"14 zuzuordnen oder verwendet Motive, die auch dort Verbreitung hatten. Dber Apologie oder Opposition entscheiden oft nur unscheinbare Faktoren - wenn wir diese Entscheidung nicht zu groBen Teilen den Rezipienten iiberlassen wollen. Die Frage verschiebt sich als von der nach der nationalsozialistischen Literatur zu der nach der Lite ratur im Nationalsozialismus. Dennoch: Was aber ist dann nationalsozialistische Literatur? Literarische Modernitat als AusschluBkriterium allein reicht nicht aus, obwohl die re prasentativen Autoren des Regimes literarisch nachrangig und in der Regel anti-modern sind und schreiben. Hatten sich namlich die NS-Kulturpolitiker darauf verstandigen kon nen, den Expressionismus wenigstens als pra-nazistisch anzuerkennen, was nicht unmi:ig lich gewesen ware und worauf nicht allein Gottfried Benn gedrangt hat, dann ware es urn dieses liebgewordene Kriterium schlecht bestellt.15 Auf der anderen Seite: Eine definitive Antwort auf die - eigentlich damit schon als unergiebig herausgestellte - Frage, was denn nun nationalsozialistische Literatur sei, gibt es anscheinend nicht. Weder die Zeitgenossen noch die Nachkriegsforscher haben sich darauf verstandigen ki:innen, welche Autoren hierzu zu zahlen sind. Ralf Schnell hat zwar eine Reihe von Kriterien zusammengetragen, mit denen relativ deutlich ein Kernbereich von NS-Literatur ausgemacht werden kann, die zugleich den Kontext, in dem diese Literatur steht, erkennen lassen.16 Kennzeichen wie zugleich polare 11 Bohrer: Hommage (wie Anm. 9), S. 334. 12 Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt 1987. 13 Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 21994. 14 Bohrer: Hommage (wie Anm. 9), S. 334. 15 Vgl. zuletzt: Klaus Theweleit: Buch der Konige. Bd. 2x: Orpheus am Machtpol. Basel, Frankfurt/M. 1994. Zum italienischen Parallelfall und zu den spezifischen Differenzen vgl. Eva Hesse: Die Achse Avantgarde·Fa· schismus. Reflexionen uber Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound. Zurich 1991. Ebenso Bohrer (wie Anm.9) . 16 Ralf Schnell: Was ist 'nationalsozialistische Dichtung'? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Na· tionalsozialismus. Hrsg. von Jorg Thunecke. Bonn 1987, S. 28-45. Karl-Heinz Joachim Schoeps hingegen hat in seinem Lehrbuch eine F austformel benutzt, die eben nur solange tragt, wie sie tragen 5011, namlich fur seine Monographie: "Unter NS-Literatur werden im weitesten Sinne aile volkisch-national-konservativen Werke Einleitung 11 wie sakrale Aufbruch- und Heimkehrdichtung, die eine spirituelle Gemeinschaft stiften will, die der Monumentalitat wie Auktorialitat gleichermaBen verpflichtet ist (und das sind nur einige Charakteristika, die Schnell aufzahlt), lassen sich mehr oder weniger voll standig auch bei anderen T exten und T extgruppen finden, bei der christlichen wie prole tarischen Erweckungs- und Bekehrungsliteratur der Zeit beispielsweise, sind also nicht spezifisch. Solche strukturellen Merkmale haben allgemeine Funktionen, die ideologisch nicht festlegbar sind.17 Was Schnell uns also anbietet, sind Charakteristika und Struktu ren, die die NS-Dichtung ohne Zweifel aufweist. Der UmkehrschluB - Texte mit diesen Eigenschaften sind NS-T exte - ist jedoch nicht zulassig. Selbst unter den NS-Kulturpolitikern Goebbels und Rosenberg hat wenig Uberein stimmung dariiber bestanden, was denn im Kern nationalsozialistische Literatur sei, und dies hat zu den ratselhaftesten Autor-Karrieren im Dritten Reich gefiihrt: Karl Broger, Erich Kastner, Ernst Wiechert sind nur einige, sehr unterschiedliche Beispiele. Dieser Mangel an Konsens setzt sich bei den NS-Literaturhistorikern fort, wie eine Untersu chung zeigt, die Uwe-Karsten Ketelsen durchgefiihrt hat. Er hat in einem Vergleich von zehn zeitgenossischen Literaturgeschichten gerade einmal 25 Autoren ausgemacht, die von allen als zentral genannt werden, und auch nur 46, die von wenigstens neun von ihnen unbestritten zum Kanon gezahlt werden.18 Ernst JUnger gehort im iibrigen zur ersten Gruppe wie Stefan George, Rainer Maria Rilke und Gerhart Hauptmann zur weiteren zweiten. Unterstellt man nicht nur propagandistische Griinde, die die damaligen Literar historiker dazu bewogen haben konnten, diese Autoren zur NS-konformen Literatur zu zahlen, kann es nicht wundern, daB Ketelsen selbst sich weigert, den Kernbereich einer Literatur des Dritten Reiches auf die Propagandaautoren und -texte zu reduzieren, und statt dessen sein Interesse auf ein T extkorpus richtet, das einen "noch naher zu bestim mende[][ n], charakteristische[][ n] Versuch der Simulation von sozialer Realitat" unter nehme.19 Das heiBt nichts weniger, als daB nicht die Literatur des Dritten Reiches, son dern die Literatur im Dritten Reich untersucht werden muB, mehr noch daB iiber die Li teratur des Dritten Reiches nicht zu reden ist, wenn nicht zugleich iiber das gesamte lite rarische, kulturelle und politische Spektrum der Jahre 1933 bis 1945, aber auch der Wei marer Republik, des Kaiserreichs und so fort gesprochen wird.20 Allerdings ist mit der und Autoren subsumiert, die sich im Dritten Reich offizieller Forderung und hoher Auflagen erfreuten, auch wenn sie selbst zum Teil dem offiziellen Nationalsozialismus gegeniiber kritisch eingestellt waren, wie bei spielsweise Ernst Jiinger." Karl-Heinz Joachim Schoeps: Deutsche Literatur zwischen den Weltkriegen III. Li teratur im Dritten Reich. Bern u.a. 1992 (= Germanistische Lehrbuchsammlung 43), S. 7. Damit benutzte er eine ahn1iche Formel wie Klaus Vondung in seinem Beitrag Der literarische Nationalsozialismus im Band: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen - Traditionen - Wirkungen. Hrsg. von Horst Denkler und Karl Priimm. Stuttgart 1976, S. 44-65, hier S. 45f. 17 Wie Hans Richard Brittnacher in seinem Beitrag am Beispiel des Horst Wessel-Romans Hanns Heinz Ewers' exemplarisch vorgefiihrt hat. 18 Ketelsen: Literatur und Drittes Reich (wie Anm. 2), S. 86£. 19 Ketelsen: Literatur und Drittes Reich (wie Anm. 2), S. 62. 20 Ketelsen hat in Literatur und Drittes Reich denn auch ein groBes Kapitel iiber die L yrik der dreiBiger und vierziger Jahre und ein kleines iiber Curt Langenbecks Drama Das Schwert und Georg Brittings Erziih1ung Der Sturz in die Wo/fsschlucht sowie einige umfangreichere methodische Uberlegungen aufgenommen, auf die wir dankbar zuriickgreifen. Den groBeren Teil seiner Studien hat er jedoch der "Literatur der Wilhelminischen

See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.