Sabine Hark, deviante Subjekte Sabine Hark deviante Subjekte Die paradoxe Politik der Identität 2., völlig überarbeitete Auflage Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1999 Gedruckt auf säurefreiem und alterungs beständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hark, Sabine : deviante Subjekte: die paradoxe Politik der Identitä / Sabine Hark; 2. völlig überarb. Auf]. ISBN 978-3-8100-2586-9 ISBN 978-3-663-09665-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-09665-8 © 1999 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1999 Die erste Auflage dieses Buches erschien 1996 als Band 14 der Reihe "Kieler Beiträge zur Poli tik und Sozialwissenschaft", herausgegeben von Prof. Dr. Wilfried Röhrich und Dr. Karsten Schlüter-Knauer. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Vorwort ....................................................................................................................... 9 Exposition: Identität(s)Brocken................................................................. 15 I. Der Identitätspolitik auf den Leib gerückt Theoriereflexionen ................................................................................. 29 I. Einleitung ............................................................................................... 29 2. Genealogie. Geschichte der Gegenwart................................. J4 3. Spuren. Subjekt und Macht .......................................................... 39 Foucaults Analytik der Macht und die historische Ontologie des modemen Subjekts ........................................................................ 41 Die Paradoxie lesbischer Identitätspolitik .................................... 49 4. Repräsentation und Macht ...... ................ .............. ........ .............. 51 5. Feminismus, Identität und Differenz .................................... 56 6. Identität, Identifikation und die konstitutive Dimension des Politischen .......................................................... 59 Identität: Effekt einer verkennenden IdentifIkation.. ........ ........... 61 Das Politische als instituierende Dimension des Sozialen.... 63 Resümee.......................................................................................................... 65 H. Genealogien. Sexualität - Geschlecht - Identität Zur historischen Genese "lesbischer Subjekte" ............... 67 1. Einleitung ............................................................................................... 67 2. Genealogien. Sexualität - Geschlecht - Identität ........ 69 Macht - Wissen - Lust: Die Diskursivierung der Sexualität..................................... .............................................................. 74 Die sexualwissenschaftliche Systematisierung "weiblicher Homosexualität" .................................................................................... 78 Die modeme Codierung der Geschlechterdifferenz ............ ......... 83 Identität. Eine modeme Technologie des Selbst ....................... 86 Resümee .......................................................................................................... 89 111. Einsätze im Feld der Macht Zur Kritik lesbischer Identitätspolitik ................................... 91 1. Einleitung ............................................................................................... 91 2. Essentielle Ambivalenzen? ......................................................... 94 3. Kämpfe um das Zeichen ............................................................... 100 4. Magisches Zeichen ........................................................................... 108 Gründungsgeschichten. Feminismus ist die Theorie, war Lesbianismus die Praxis? ................................................................... 111 Emblematisierung. Die konzentrierte Wut aller Frauen am Explosionspunkt ..................................................................................... 122 Mythologisierung. Das Goldene Zeitalter .................................... 132 5. Tautologische Radikalität ............................................................ 136 6. Strategischer Essentialismus? .................................................. 139 Resümee .......................................................................................................... 145 IV. Politik ohne Geländer. Identitätspolitik neu denken .. , 147 I. Einleitung ............................................................................................... 147 Exkurs: Nach der "Politik" fragen? ............................................. 150 2. Hannah Arendt und die Identitätspolitik ........................... 153 Kritik der Identitätspolitik .................................................................. 155 Archäologie der politischen Begriffe ............................................... 156 Das Risiko des Essentialismus ........ .......... .......... ............ .......... ....... 161 3. Politik ohne Geländer .................................................................... 168 Identitätspolitik neu denken .............. ................................................. 169 Politische Identitäten: Performative Zeichen ............................... 171 Die Paradoxie der Identitätspolitik: Fixierung und Dezentrierung ..... ..... ............ .................................. ................................... I 72 Resümee .......................................................................................................... 173 V. deviante Subjekte. Disloyal und deplaziert ........................ 175 I. Einleitung ............................................................................................... 175 2. Die Politik des Selbst ...................................................................... 178 Die Grammatik von Identität .............. .............................. ................. 180 Ethos und Politik .................................... .................... .................... ....... 180 3. deviante Subjektivität ..................................................................... 181 Literatur ....................................................................................................................... 184 Index ............................................................................................................................... 199 Für Ilona " ... und machen wir uns einen N amen, sonst werden wir zerstreut über das Antlitz der Erde." Genesis 11 "Das Problem besteht genaugenommen darin zu entscheiden, ob es tatsächlich angemessen ist, sich innerhalb eines wir zu situieren, um für die Prinzi pien und Werte, die man anerkennt, einzustehen, oder ob es nicht viel eher nötig wäre, die zukünf tige Formierung eines wir zu ermöglichen, indem man die Frage ausführlich behandelt. Denn es scheint mir, daß das wir der Frage nicht voraus gehen kann; es kann nur das Ergebnis - und not wendigerweise ein temporäres Ergebnis - der Frage sein, wie sie in den neuen Begriffen, in denen man sie formuliert hat, gestellt wurde." Michel Foucault "Wir müssen eine kulturelle Sprache erfinden, eine Vorstellung von Identität, die Differenzen an erkennt, aber die Sackgassen der Polarisierung von outsider/insider und die daraus resultierende Vorstellung einer exklusiven Subjektivität, eines unkritischen Essentialismus vermeidet. Das wird keine leichte Aufgabe sein. Bis heute haben wir uns allenfalls für einen einfachen Multikulturalis mus entschieden, eine höfliche, achtungsvolle An erkennung und Respektierung kulturellen Plu ralismus - Verschiedenheit - ohne einen strik ten und scharfen Diskurs entwickelt zu haben, der analysiert, wie multiple Erfahrungen und Subjek tivitäten sich überschneiden, miteinander konkur rieren und kollidieren." Marlon Riggs .... , meine ich, daß es da viele Ich gibt und über Ich keine Einigung - als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern immer nur neue Entwürfe." Ingeborg Bachmann .. Weil sie beide bereits Jahre zuvor erkannt hatten. daß sie weder weiß noch männlich waren, und daß alle Freiheit und alle Triumphe ihnen verwehrt sein würden, hatten sie sich daran gemacht. sich als etwas anderes neu zu entwerfen." Toni Morrison Vorwort zur Neuauflage "Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben?" Michel Foucault Der verbindende Stachel der in diesem Buch versammelten heterogenen Theoriereflexionen und Diskursanalysen ist der Komplex "Identität", Kaum ein Begriff hat im vergangenen Jahrzehnt in politischen Kontexten und Konflikten ebenso wie in kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten eine ähnlich erfolgreiche Karriere durchlaufen wie eben jener Begriff der "Iden tität", Wie kaum ein anderer Begriff schien er geeignet, umstandslos in den unterschiedlichsten alltagsweltlichen, politischen und wissenschaftlichen Dis kursen funktionieren zu können, Fungierte der Begriff dabei anfänglich eher als Platzhalter für ein bis dahin nur in Umrissen erkenn- und erklärbares Unbehagen ebensowie für diejenigen Transformationen, die zunehmend unter dem Stichwort "Kultur" - statt "Gesellschaft" - verhandelt wurden, so hat der Begriff der "Identität" mittlerweile in verschiedenen Disziplinen eine Tiefenschärfe erhalten, die ihn als analytisches Werkzeug tauglich gemacht haben. Dies vor allem ist der Grund für eine Neuauflage von deviante Subjekte. Politisch gesehen ist das Kapital von "Identität" vornehmlich symbo lischer Art. Wer 'im Namen' von Identität spricht, spricht in jedem Fall mit dem Gewicht der Authentizität, wahlweise mit dem Gewicht der Geschichte, der aufklärerischen Emanzipation, mit dem Gewicht des gesellschaftlichen Fortschritts oder der kulturellen Bewahrung. 'Im Namen' von Identität wer den soziale und kulturelle Grenzen gezogen, werden Rechte gefordert und verweigert, soziale Normen und Praktiken formuliert, kurzum: Es wird politisch gehandelt. Dabei ist oft genug mit einer Selbstverständlichkeit von nationalen, kulturellen, ethnischen, geschlechtlichen oder sexuellen Identi täten die Rede, als sei immer schon klar, um was oder wen es sich dabei jeweils handelt, gerade so, als seien Identitäten "soziale Tatsachen" (Durk heim), Reflektionen präsozialer Phänomene. Dagegen forderte Sey la Benhabib kürzlich eine "Untersuchung der Genealogie kollektiver Identi täten", um verstehen zu können, wie bestimmte Arten kollektiver Iden titätsansprüche gegenüber anderen Formen zu bestimmten Zeiten dominant werden konnten (vgl. Benahbib 1999, 27). Denn "Klarheit über die neue Politik der Identität/Differenz zu gewinnen" sei die Aufgabe zeitgenössischer 9 kritischer Gesellschaftstheorie, so Benhabib weiter (ebd., 13). - Und dies ist der zweite Grund für eine Neuauflage. Im gleichen Maße jedoch, wie Politik zunehmend als Identitätspolitik formuliert wurde, wird Identität als Movens politischen HandeIns auch in Frage gestellt. Mehr noch: Die Formierung von Identitäten und ihr Einsatz in den Kämpfen um kulturelle und politische Hegemonie wird selbst als politischer Prozeß analysiert und befragt. deviante Subjekte situiert sich in genau diesem Widerspruch: Wann immer wir 'im Namen' einer Identität politisch handeln - eine, wie es scheint, in bestimmten Momenten unverzichtbare politische Strategie, um Ungleich heiten zu thematisieren - affirmieren wir zugleich die sozial oktroyierte Differenz, die wir herauszufordern suchen. Statt diese Differenzen als Mo mente des Prozesses zu verstehen, in dem und durch den sich Macht kon stituiert, werden Unterschiede dagegen allzu oft zu konsolidierten Kollek tiven hypostasiert. Die historische Aufgabe besteht jedoch nicht darin, Identitäten zu verdinglichen. Es gilt vielmehr, ihre soziale Produktion als den fortwährenden, unbarmherzigen Prozeß der hierarchisierenden Differen zierung zu verstehen, der aber zugleich immer auch der Neudefinition und der Veränderunt; unterworfen ist. Das heißt zunächst, Differenzierungen als disziplinierende Konstruktionen zu analysieren und die Prozesse der Ver machtung von Differenz selbst noch in jenen Praktiken wahrzunehmen, die affinnativ im Namen der Differenz operieren. Der Grund, warum mich Fragen sowohl der Produktion von "Identität" wie ihres politischen Einsatzes ebensosehr faszinieren wie sie mich irritieren, ist dabei derselbe: Die Ambivalenz, einer Gruppe anzugehören bzw. zuge ordnet zu werden, die kontinuierlich und gleichsam rituell verhöhnt und verleugnet wird, und die sich zugleich durch die Produktion eines "eigenen" Entwurfs von Identität gegen diese ritualisierte Verwerfung immer wieder zur Wehr setzt. Doch nach wie vor finde ich jeden Versuch, eine "Iesbische Sensibilität" oder eine "Iesbische Gemeinschaft" zu definieren, letztlich un haltbar. Denn wovon, wenn überhaupt von irgendetwas, kann gesagt werden, daß es Lesben gemeinsam ist? Und wer möchte diese Frage entscheiden und in wessen Namen? Identitätskategorien sind mithin, in den Worten ludith Butlers, perma nente Unruhestifter, aber auch Orte notwendiger Störungen und Beunruhi gungen. Und vielleicht, so Butler weiter, ist es gerade die Tatsache, daß Identitäten immer Ärger machen, die den Genuß der Beschäftigung mit ihnen ausmacht. Entstanden ist deviante Subjekte in einer Art intellektueller "Diaspora". In der deutschsprachigen Soziologie sind sowohl Thematiken, die im Schnitt feld kultursoziologischer Fragestellungen und politischer Theorie angesiedelt sind, als auch das, was im angloamerikanischen Raum als Gay and Lesbian bzw. Queer Studies verhandelt wird, eher randständig. Die missing sexual 10 revolution, die Arlene Stein und Ken Plummer für die Soziologie überhaupt konstatieren, gilt für die deutschsprachige Soziologie in besonderem Maße (vgl. Stein/Plummer 1994) - und das ist ein weiterer Grund für eine Wiederveröffentlichung. Die wesentlichen Impulse und Orientierungsmarken entstammen mithin theoretischen und politischen Kontexten "vom anderen Ufer". Oft unabgesichert waren auch meine Grenzgänge zwischen den theo retischen Debatten der Gay and Lesbian bzw. Queer Studies und den Cultural Studies angloamerikanischer Provenienz, der poststrukturalistisch orientierten, radikaldemokratischen politischen Theorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes sowie den Werken von Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Deplaziert mag in diesem Kontext zunächst auch die politische Philosophie Hannah Arendts wirken. Auch das in seiner Redundanz oft ermüdende Primärmaterial der lesbisch-feministischen Bewegung in der BRD der letzen drei Jahrzehnte wollte sich so manches Mal überhaupt nicht in mein theoretisches Gerüst zwingen lassen, um an anderer Stelle meine Kritik umso deutlicher zu überbieten. Gegenüber der ersten Auflage wurden für diese Neuauflage nicht nur not wendige Korrekturen angebracht und stilistische Ungetüme gebannt, sondern auch die seitdem erschienenen Veröffentlichungen zu den im einzelnen hier verfolgten thematischen und theoretischen Strängen auf- sowie - wo nötig - inhaltliche und sprachliche Präzisierungen und Reartikulationen vorge nommen. Dies betrifft insbesondere die Exposition sowie Kapitel I, IIl, IV und V. Der Text behandelt in fünf Kapiteln - eingeleitet durch eine problem orientierte Exposition - die Frage, wie 'im Namen' der Legitimierung einer sozial oktroyierten Differenz gesprochen werden kann, ohne die historisch spezifischen Mechanismen disziplinierender Differenzierung erneut zu stabi lisieren. Was sind die Einsätze, die bei dem Versuch auf dem Spiel stehen, eine Identitätskategorie - zugleich Instrument regulativer Regime der Normalisierung und persönlich, sozial und politisch (potentieller) Ort des Einspruchs gegen die vielfältigen Formen von Normalisierung - zu reartiku lieren? Das Buch sucht eine Antwort auf diese Frage zwischen der Dekon struktion von Identität und ihren totalisierenden Effekten im politischen Feld und einer Reformulierung von Identität, die ihrer arbiträren "Natur" Rech nung trägt, ohne sie dem Orkus der Beliebigkeit preiszugeben. In der Exposition werde ich meine Frage- und Problemstellung entwickeln und die Theorieaxiomatik skizzieren, mit der der "Brocken" Identität zer bröselt werden soll. Das erste Kapitel rückt den Begriff der Identität und dessen Verbindungen mit Politik ins Zentrum und versucht zugleich, beidem dekonstruktiv "auf den Leib" zu rücken. Dabei geht es nicht um eine Ver werfung von Identität, sondern um eine Genealogie ihrer vielfältigen Ur sprünge und um die Dekonstruktion derjenigen Mechanismen und Proze- 11