HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5105 Redaktion: Rainer Michael Rahn Copyright © 1994 by Hans Joachim Alpers Die Kapitelüberschriften sind Songtitel von The Doors, The Rolling Stones und Radio Birdman Die Kapiteleinleitungen sind Zitate aus: Michael Immig & Thomas Römer (Hrsg.): Deutschland in den Schatten. Copyright © 1992 by Fantasy Productions, Erkrath Die Karten auf Seite 4 und 5 zeichnete Dietrich Limper Umschlagbild: Jim Nelson Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-07757-1 2 Inhalt 1. Kapitel ›Riders On the Storm‹ .................................6 2. Kapitel ›Sympathy for the Devil‹ ..............................27 3. Kapitel ›Sittin’ On the Fence‹ .................................48 4. Kapitel ›Alone In the Endzone‹ ...............................66 5. Kapitel ›Expectations‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6. Kapitel ›Burned My Eye‹ ................................... 115 7. Kapitel ›Let’s Spend the Night Together‹ .......................146 8. Kapitel ›Murder City Nights‹ ................................173 9. Kapitel ›Paint It Black‹ .....................................199 10. Kapitel ›(I Can’t Get No) Satisfaction‹ .........................223 Glossar .................................................251 3 4 5 ›Riders On the Storm‹ 1. Kapitel Die Tradition der Hexe ist uralt: Bereits die Antike kannte die zaubermächtige ›Striga‹ oder ›Maleficia‹ und fürchtete sie. Im Mittelalter jedoch galt – entgegen der landläufigen Meinung – schon der Glaube an die pure Existenz von Hexen als Ketzerei. Erst die Neuzeit brachte die furchtbaren Hexenverfolgungen, in deren Verlauf unzählige Frauen, aber auch Männer Verleumdungen und Aberglauben zum Opfer fielen. Die Deutung dieser Zeit reicht vom Frauenhaß der Kirche über eine bewußte Tötung der kräuterkundigen Hebammen bis hin zur versuchten Ausrottung verborgener Kulte naturverbundener Gottheiten. Letztere Interpretation gewinnt vor allem seit der Mitte des zwanzigsten Jahr- hunderts Anhänger – weniger unter der Wissenschaft als in den Kreisen ›neuer Hexen‹ und Weiser Frauen, die in dieser Zeit zum erstenmal an die Öffentlichkeit gingen. Aus Teilen der Frauen- und Ökologiebewegungen sowie älteren esoteri- schen Traditionen entstand zuerst in den damaligen USA eine neue Kraft: Namen wie Gardner, Sanders, Starhawk sind nur Beispiele für den besonders um die Jahrhundertwende aufblühenden Wicca-Kult, der vor allem der Großen Göttin der Natur gewidmet ist. Dr. Natalie Alexandrescu: Hexenwesen und andere Naturmagie in der ADL, Deutsche Geschichte auf Vid-Chips, VC 24, Erkrath 2051 Ein kalter, steifer Nordwestwind peitschte die Wellen. Der Wind schmeckte nach Salz und Petrochemie, was eine widerliche Mischung war, die sich er- fahrungsgemäß selbst nach einem doppelten Aquavit nicht vom Gaumen lösen wollte. Immerhin vertrieb die Brise den durchdringenden, chlorgeschwängerten Waschküchengeruch, der mit dem Nebel der vergangenen Tage über dem Wasser gehangen hatte. Die Piraten hätten es allerdings lieber gesehen, wenn der Nebel sich noch ein paar Stunden gehalten und mit dem Dunkel der Nacht zu einer undurchdringlichen schwarzen Suppe verschmolzen wäre. Im Südosten, gut zehn Kilometer entfernt, schimmerten die Lichter der Arcolo- gie Bremerhaven herüber. Die wandernden Halogenkegel der Suchscheinwerfer blinkten aus dieser Entfernung wie die harmlosen Lämpchen einer Christbaum- girlande. Aber sobald ein größeres Luft- oder Wasserfahrzeug in den Radius der fünf Kilometer umfassenden Sicherheitszone geriet und nicht den gültigen Si- cherheitscode funkte, wurden die Lämpchen zu Raubtieraugen, unter denen sich gierige Rachen öffneten, die eine tödliche Fracht ausspuckten. Aber die Piraten hatten nicht die Absicht, es mit der Feuerkraft der Arcologie aufzunehmen, und hielten sich deshalb in gebührendem Abstand. 6 »Kein Wetter für Pinkel, die ihre Glatze unter einem Toupet verstecken«, schrie Druse herüber, der sich wie Pandur gegen den Wind stemmte, während er mit einem Lappen über die Auswurfschienen des Katapults wischte. Pandur prüfte im Licht einer abgedunkelten Niederfrequenzlampe die Muniti- onszuführung der Minikanone und verzichtete auf eine Antwort. Wenig später hatten die beiden Männer die Routineinspektion ihrer Wamos ab- geschlossen, die in die Startbuchten am Bug des Hovercrafts eingeklinkt waren, und kehrten zur Brücke zurück. Ihren glatten Monturen aus dunkelrotem Syn- tholeder vermochten weder der Wind noch die aufspritzende Gischt etwas an- zuhaben, aber da sie ihre Helme noch nicht aufgesetzt hatten, wurden ihnen die Haare stromlinienförmig nach hinten gedrückt. Für Sekunden gerieten die Köpfe der Männer in den Lichtkegel einer der beiden Lampen. Druses kantiger Schädel sah mit der rote Fahne seines Kraushaares aus, als habe er Feuer gefangen. Seine Stirnbuchse wirkte dabei wie eine Kopfschußverletzung, und die vernähte und längst vernarbte frühere Hasenscharte zwischen Mund und Nase ließ ihn zusätz- lich wie das Opfer eines Beilhiebes erscheinen. Mit seinem energisch gestutzten, kurzen blonden Haar wirkte Pandur dagegen eher wie ein struppiger Punk, dem ein eigensinniger Friseur vergeblich eine Dauerwelle auf zwingen wollte. Seine Stirnbuchse lag ebenfalls frei. Die asketisch strengen Gesichtszüge mit der wie Pergament gespannten blassen Haut, die leicht gekrümmte Nase und die tiefen Schatten unter den Augen signalisierten körperliche Zähigkeit und zugleich eine Art von geistiger Müdigkeit und Entrücktheit, die an Selbstverlorenheit grenzte. Es schien, als würden die Elemente für einen Moment sein Innerstes auf seinem Gesicht abbilden. Der Moment verging, und zurück blieben starre Linien, die eiserne Entschlossenheit ausdrückten, seinen Job bestmöglich zu verrichten, und nichts weiter. Du bist ein Profi, und damit hat es sich! Pandur senkte den Kopf gegen den Wind und stapfte weiter, immer eine Hand an der Reling, die Dünung des Schiffes mit den Knien ausgleichend. Unter der Synthojacke drückte sein Cyberdeck schmerzhaft gegen die Rippen. Es war al- bern, es dauernd mit sich herumzuschleppen, und er bekam oft spöttische Be- merkungen darüber zu hören. Er war seit der Aktion bei Renraku nicht mehr in die Matrix gegangen. Aber so sehr er auch mit der Vergangenheit gebrochen hatte: Von dem Deck hatte er sich bisher nicht trennen können. Im Gegenteil, er klammerte sich geradezu daran. Es war sein Talisman und zugleich Symbol einer verlorenen Identität. Er redete sich selbst ein, ohne das Deck in einen Strudel hinabtauchen zu müssen, der sein ganzes Fühlen und Denken auffressen und ihn als seelenlose Maschine wieder ausspucken würde. Und vielleicht hatte er mit dieser Befürchtung sogar recht. Wünscht du dir nicht manchmal, eine solche seelenlose Maschine zu sein, um in dieser Welt besser zurechtzukommen? Warum wehrst du dich dagegen? Du bist ein Bündel von Widersprüchen und solltest dich endlich mal auf eine Linie festlegen! 7 Unwillkommene Gedanken, in diesen Minuten so überflüssig wie ein Kropf, sogar gefährlich und verdammt unprofessionell. Kapiert das endlich, ihr verdammten Synapsen! Endlich hatte er die Tür zur Brücke erreicht, zwängte sich als erster hinein und genoß die stickige Wärme. Die Broken Heart hielt sich mit Viertelkraft der Bremsdüsen in Position, um nicht vom Wind und von der Flut noch tiefer in den Weser-Jade-Busen gedrückt zu werden, ein Ergebnis der letzten Flutkatastrophe, von der die norddeutsche und holländische Küstenlinie einschneidend verändert worden war. Brack, der Rudergänger, hatte keine Mühe, den Hovercraft unter Kontrolle zu behalten, während Käpt’n Tupamaro gerade mit einem Nachtsichtgerät den Horizont ab- suchte. Wie immer trug sie ihren Colt Manhunter offen in einem klobigen Holster am Gürtel, als sei sie eine Killerlady aus einem Spaghettiwestern. Auf der ande- ren Seite baumelte ein Betäubungsschlagstock. Sie sah kurz auf, als Pandur und Druse zurückkehrten, sagte aber kein Wort. Tupamaro gehörte nicht unbedingt zu den Schweigsamen im Lande, aber in solchen Momenten demonstrierte sie gern ihre angebliche Ausgeglichenheit, verkaufte sie als Wortkargheit. Eine Fas- sade, die in Situationen echter Anspannung zerbröselte, wobei sich unbeherrsch- te Aggressionen in wilden Zornausbrüchen entladen konnten. Tupamaro war ihr selbstgewählter Piratenname, aber wegen ihrer Exzesse bei einigen Kämpfen wurde sie hinter ihrem Rücken manchmal Blut-Steffi genannt. Ob Steffi ihr rich- tiger Vorname war, wußte allerdings niemand so genau. Es interessierte auch niemanden. Oder doch? Pandur ging durch den Kopf, daß Druse sie vielleicht so nannte, wenn er es ihr im Bett besorgte. Aber Tupamaro paßte wirklich besser. Wahrscheinlich auch im Bett. Pandur und Druse gesellten sich zu den anderen, zu denen außer Tupamaro und dem Rudergänger noch zwei Männer und eine Frau gehörten, die Männer bis zu den Zähnen bewaffnet und verdrahtet. Die Frau, schon älter und in eine Art Tunika aus schmutzigblauem Leinen gehüllt, war blaß und ungepflegt, wirkte irgendwie so, als sei sie gerade nach wochenlangem Darben aus einem Keller- loch gezerrt worden. Absurderweise nannte sie sich Lady X und war praktizie- rende Hexe. Carlo, der kleine und ältere der Männer, bediente außerdem den Funkcomputer und holte fiepende Codes von den Schiffen herein, die sich fernab von ihnen in der tiefen Fahrrinne bewegten. Die Broken Heart hatte nur einen geringen Tiefgang. Tupamaro nutzte dies aus, indem sie den Hovercraft über den Untiefen kauern ließ, die bei Ebbe als Sandbänke aus dem Wasser ragten. Früher waren das einmal künstliche Wurten, Deiche und andere Erhebungen gewesen, inzwischen dienten sie zumindest bei Flut als Meeresboden. Reklamegirlanden wie die anderen Schiffe brauchte der Piraten-Hovercraft erst recht nicht. Deshalb verzichtete man auf Positionslichter. Die Brücke war abgedunkelt. Es brannten nur einige abgeschirmte Niederfrequenzer, die ein diffuses, bläuliches Licht ver- strömten, das aus der Ferne kaum auszumachen war. Das Schiff würde zwar auf den Radarschirmen der Schiffe auftauchen, aber kaum Aufsehen erregen. Es gab hier reichlich Bauwerkreste, ehemalige Hafenkräne, zusammengeschobene, auf- 8 getürmte Autowracks und andere Relikte aus früheren Tagen, die aus den Fluten ragten und das Radar irritierten. Die verdrahteten Samurais waren Troubleshooters, die Eingreifreserve, außer- dem Tupamaros Leibgarde. Die eigentliche Entermannschaft bestand aus weite- ren achtzehn Piraten, zwölf Männern und sechs Frauen, und hielt sich unter Deck auf. Einige davon lümmelten an den Geschützen oder den Geschützcomputern herum, während sich der Rest wahrscheinlich dösend oder saufend die Zeit ver- trieb, obwohl Tupamaro jedem an die Gurgel ging, den sie im Einsatz mit einer Pulle, mit Drogen oder einem BTL-Chip erwischte. Gemeinsam starrte die Brückencrew zu den Lichtern der Arcologie hinüber. Aus der Ferne sah er wie die Lichtsilhouette eines hoch über die Wellen aufra- genden Schiffes aus, aber in Wahrheit ragte die Arcologie mit fünfhundert Me- tern Kantenlänge fast zweitausend Meter empor und ließ dagegen jeden Oze- anriesen wie einen Zwerg erscheinen. Den Kern bildete ein Quader, der sich im Bereich der letzten dreihundert Meter zu einem Pyramidenstumpf verjüngte. Eigentum von Proteus. Niemand wußte genau, welchem Zweck die Arcologie diente. Proteus sprach lediglich von Forschungsvorhaben, was alles bedeuten konnte. Der multinatio- nale Megakonzern hatte vielfältige Interessen in allen wichtigen HighTech-Be- reichen. Die Belegschaft, international zusammengesetzt, wurde hermetisch von der Umgebung abgeschottet. Gewiß war nur, daß der Megakon nicht nur expan- dierte, sondern förmlich explodierte und weitere Arcologien baute, die schon jetzt als Arcoblocks die norddeutsche Küstenregion dominierten. Das Bestreben von Proteus, sich in den festungsähnlichen Arcologien abzuschirmen, ließ nichts Gutes ahnen. »Die Arcoblocks von Helgoland bis Emden werden wir uns als erste schnap- pen«, sagte Tupamaro leise, »wenn wir erst einmal die Freibeuterrepublik Fries- land ausgerufen haben.« »Hirngespinste«, erwiderte Pandur ohne Schärfe. »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß sich die Freibeuterkapitäne jemals einigen werden.« Tupamaro sah ihn wütend an. »Hast ’ne verdammt große Klappe an Bord mei- nes Schiffes, Chummer!« »Damit fängt es schon an, Käpt’n«, entgegnete Pandur, der vor Tupamaro Re- spekt, aber keine Angst hatte, was ihn von den meisten anderen an Bord unter- schied. »Du duldest an Bord keinen Widerspruch, und von einem anderen Kapi- tän läßt du dir erst recht nicht reinreden. Und die anderen Kapitäne sind genauso. Wie wollt ihr da jemals eine Republik auf die Reihe kriegen?« »Auf der letzten Kapitänsversammlung waren wir uns fast einig.« »Ihr wart meilenweit auseinander.« Pandur war vor zwei Monaten auf den Far- öerinseln gewesen und hatte die chaotische Versammlung miterlebt. Die Kapi- täne arbeiteten gut und effizient zusammen, wenn es darum ging, gemeinsam Beute zu machen, die Beute zu verkaufen oder Waffen zu beschaffen. Aber teilen oder Macht abgeben wollte keiner von ihnen. Instinktiv taten sie damit sogar das 9