Frank Keuper / Dieter Puchta (Hrsg.) Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall Frank Keuper Dieter Puchta (Hrsg.) Deutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall Rückblick und Ausblick Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Prof. Dr. Frank Keuper Keuper ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Konvergenz- und Medienmanagement an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Weiterhin ist er Akademi- scher Leiter und Geschäftsführer des Sales & Service Research Center, dessen Förderer die T-Punkt Vertriebsgesellschaft mbH ist. Prof. Dr. Dieter Puchta ist Vorsitzender des Vorstands der Investitionsbank Berlin und war zuvor Mitglied des Vorstands der Landesbank Berlin und der L-Bank Baden-Württemberg. Er ist Mitglied zahlreicher Aufsichts- und Beiräte. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Barbara Roscher | Jutta Hinrichsen Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jeder- mann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-8349-1527-6 Vorwort Der 9. November ist für die Deutschen ein geschichtsträchtiges Datum. So rief der Sozialde- mokrat PHILIPP SCHEIDEMANN am 9. November 1918 vom Reichstagsgebäude in Berlin die deutsche Republik aus. Auch KARLLIEBKNECHT, späterer Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands, proklamierte am besagten Tag in Berlin die „freie sozialistische Repub- lik Deutschland“. In der Folge entwickelte sich mit der Weimarer Republik die erste demo- kratische Staatsform auf deutschem Boden. Fünf Jahre später, am 9. November 1923, scheiterte in München der Versuch des bis dahin noch weitgehend unbekannten ADOLFHITLER, gemeinsam mit seinen Gefolgsleuten durch ei- nen Putsch die Regierungsgewalt zu übernehmen. Die spätere nationalsozialistische Schre- ckensherrschaft zeigte erstmals ihre unheilvolle Fratze. Genau fünfzehn Jahre später sollten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 („Reichskristallnacht“) die nationalsozialisti- schen Novemberpogrome beginnen – und damit die Zerstörung jüdischen Eigentums sowie die Verhaftung tausender jüdischer Bürger, in vielen Fällen mit Todesfolge. In den 1960er Jahren entlädt sich in Westdeutschland zunehmend der Ärger über die nicht bzw. aus Sicht der Opponenten nur unzureichend erfolgte Aufarbeitung der Naziverbrechen. Ihren Verdruss bringen Studenten erneut an einem 9. November (1967) anlässlich der Amts- übernahme des neuen Rektors der Hamburger Universität deutlich zum Ausdruck, indem sie ein Plakat ausrollen mit dem Spruch: „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“. Diese Aussage sollte zu einem Leitspruch der „68er-Bewegung“ in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Berlin (West) werden. Gut zwanzig Jahre später sind es am 9. November 1989 die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die mit ihrer friedlichen Revolution den „antifaschistischen Schutzwall“ niederreißen und damit nach über 28 Jahren den Grund- stein für ein wiedervereinigtes Deutschland. Der 9. November 1989 steht jedoch für weit mehr als den Mauerfall. Dieses Datum markiert das Ende des Kalten Krieges, der über Jahrzehnte hinweg die Welt in Atem hielt. So wurde die Welt nicht nur geografisch in Nord und Süd unterschieden, sondern vor allem anhand der Zugehörigkeit zu einer politischen Ideologie in Ost- und Westblockstaaten. Doch der Reihe nach … Als Ergebnis der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 teilen die Sieger- mächte USA, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion das ehemalige Deutsche Reich in so genannte Besatzungszonen auf. Vier Jahre später, am 23. Mai 1949, wird mit der Verab- schiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat auf dem Gebiet der westli- chen Besatzungszonen (USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich) die BRD ins Leben geru- fen. KONRADADENAUER wird Bundeskanzler und THEODOR HEUSS Bundespräsident. Demge- genüber schlägt am 7. Oktober 1949 in der sowjetischen Besatzungszone die Geburtsstunde der DDR. OTTO GROTEWOHL wird von der Volkskammer zum Ministerpräsidenten gewählt, WILHELM PIECK fungiert fortan als Staatspräsident. Mit der Gründung zweier deutscher Staa- ten auf deutschem Boden sind damit Fakten geschaffen. Auch wenn BRD und DDR vorgeben, ein geeintes Deutschland zu wollen, streben beide Staaten in unterschiedliche Richtungen. Sowohl die BRD als auch die DDR werden systema- tisch in den jeweiligen Machtblock integriert. KONRAD ADENAUER verordnete der BRD eine auf Westintegration ausgerichtete Außenpolitik. Zeichen hierfür ist nicht nur die deutsch- VI Vorwort französische Aussöhnung, sondern die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft für Koh- le und Stahl (EGKS) sowie der Beitritt zur NATO. Die DDR hingegen folgt politisch, öko- nomisch und gesellschaftlich dem Vorbild der Sowjetunion. Folgerichtig wird sie Mitglied des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und in den Warschauer Pakt – das Militär- bündnis des Ostblocks – integriert. Mit der Gründung der Bundeswehr in der BRD und der Nationalen Volksarmee in der DDR stehen sich bald zwei Armeen gegenüber, die die deut- sche Teilung auch auf militärischem Gebiet manifestieren. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet verfolgen beide deutsche Staaten unterschiedliche Ansätze. In der BRD wird das Modell der Sozialen Marktwirtschaft sehr erfolgreich umgesetzt. Nicht zuletzt durch die Mittel aus dem MARSHALLplan – die durch die Schaffung eines Sonderver- mögens und die Gründung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) nicht durch einmalige Subventionen verpulvert, sondern nachhaltig, langfristig revolvierend eingesetzt wurden – schafft es die Wirtschaft in der BRD, schnell wieder Tritt zu fassen. Vom „Wirtschaftswun- der“ ist die Rede, das nicht nur fast zur Vollbeschäftigung führt, sondern den Westdeutschen nach der langen Zeit der Entbehrungen auch zu bescheidenem Wohlstand verhilft. In der DDR hingegen wird unmittelbar nach Kriegsende mit dem Aufbau einer zentralisti- schen Planwirtschaft begonnen. Auf Druck von STALIN dürfen MARSHALLplanmittel nicht in Anspruch genommen werden. Gleichzeitig muss die DDR an die Sowjetunion Reparations- zahlungen in erheblichem Umfang leisten, und die Remilitarisierung verschlingt Unsummen von Finanzmitteln. Die Ausgangslage zum Wiederaufbau der Wirtschaft in der SBZ nach dem Ende des II. Weltkriegs ist demnach denkbar schlecht. Die ständigen Versorgungseng- pässe, politische Repressalien, die mangelnden Möglichkeiten zur individuellen Selbstentfal- tung, die Niederschlagung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953, die nur mit Hilfe der sow- jetischen Streitkräfte möglich war, und der Blick auf den ökonomisch prosperierenden West- teil Deutschlands veranlassen viele Menschen, der SBZ den Rücken zu kehren. Besorgnis er- regend ist aus Sicht der SED-Partei- und DDR-Staatsführung vor allem die Abwanderung hoch qualifizierten Personals nach Westen, wodurch nicht nur die propagierte Überlegenheit des politischen Systems in Frage gestellt, sondern der das System tragende wirtschaftliche Wiederaufbau gefährdet ist. Als Konsequenz lässt WALTER ULBRICHT, der damalige Chef der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats, trotz anders lauten- der Bekundungen in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 die so genannte Sektoren- grenze in Berlin abschotten. In der Folge werden die kurzfristig aufgebauten Grenzanlagen in Form von Stacheldrahtzäunen durch eine Mauer aus Hohlblocksteinen ersetzt. Berlin (West) wird von Berlin (Ost) getrennt – und zusätzlich vom Staatsgebiet der DDR. Am 31. Juli 1989 ist die Demarkationslinie zwischen Berlin (West) und Berlin (Ost) 43,1 km und der „Außen- ring“ um Berlin (West) herum 155 km lang.1 Ein Höhepunkt des Kalten Krieges ist die Kuba-Krise, in deren Verlauf der Welt vor Augen geführt wird, wie unversöhnlich sich die Blöcke gegenüberstehen und wie schnell durch eine unbedachte Aktion die Menschheit vernichtet werden kann. Nicht zuletzt deshalb tritt in der bundesdeutschen Gesellschaft ein Sinneswandel ein, dessen Auswirkungen sich 1969 in ei- nem Politikwandel äußern. WILLY BRANDT und WALTER SCHEEL stehen einer sozial-liberalen 1 Vgl. ZENTRUMFÜRZEITHISTORISCHEFORSCHUNGE.V./BUNDESZENTRALEFÜRPOLITISCHEBIL- DUNG/DEUTSCHLANDRADIO(2009). Vorwort VII Koalition vor, die die Ostpolitik neu definiert und insbesondere eine Entspannung des deutsch- deutschen Verhältnissees anstrebt. Kern der neuen Ostpolitik ist ein Paradigmenwechsel weg von der HALLSTEIN-Doktrin, die das Ziel hatte, die DDR außenpolitisch zu isolieren, hin zum „Wandel durch Annäherung“. Ergebnis dieses Paradigmenwechsels sind u. a. der Moskauer Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD vom 12. August 1970, der Warschauer Vertrag zwischen Polen und der BRD vom 7. Dezember 1970, das Berliner Viermächteabkommen vom 3. September 1971 und das Transitabkommen zwischen BRD und DDR vom 17. Dezember 1971. Diese Verträge bilden die Basis für den Abschluss des Grundlagenvertrags vom 21. Dezember 1972 (Inkrafttreten am 21. Juni 1973), der die Beziehungen zwischen den deutschen Teilstaaten regelt. In der Folge werden die BRD und die DDR Mitglieder der Vereinten Nationen (18. September 1973) und richten am 2. Mai 1974 Ständige Vertretungen ein. Dem Grundlagenvertrag folgen weitere Abkommen, z. B. über das Gesundheitswesen (25. April 1974), den Bau einer Auto- bahn zwischen Hamburg und Berlin (16. September 1978) oder die Erweiterung der Eisen- bahnverbindung zwischen Berlin und Helmstedt (30. April 1980). Der Mauerbau führte zu einer politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der DDR. Trotzdem gelang es der DDR-Wirtschaft nicht, den Abstand zur Bundesrepublik in Bezug auf Wertschöpfung und Produktivität zu verringern. Die weltweite Wirtschaftskrise infolge des Ölpreisschocks von 1973 hinterließ auch in den Bilanzen der DDR-Industriekombinate deut- liche Spuren. Hinzu kam, dass die sozialen Wohltaten, z. B. im Bildungs-, Gesundheits-, Sport- oder Wohnungsbaubereich immer größere Summen verschlangen, galt es doch, dem Klassenfeind immer wieder die Überlegenheit des eigenen Systems vor Augen zu führen. Da- rüber hinaus wurden Prestigeprojekte wie die Produktion des 1-Mbit-Chip gefördert. Not- wendige Investitionen in die Infrastruktur unterblieben jedoch, so dass die DDR-Wirtschaft zunehmend von der Substanz lebte, was den Bürgern angesichts der leeren Schaufenster nicht verborgen blieb. Den sich in den westlichen Industrienationen zunehmend vollziehenden Wandel vom sekundären zum tertiären Sektor hatte die DDR schlichtweg verschlafen. Das Überleben der DDR konnte nur durch massive Finanzhilfen der BRD gewährleistet wer- den. So übernahm die BRD am 29.06.1983 eine Bürgschaft für einen Kredit an die DDR in Höhe von 1 Mrd. D-Mark, der von FRANZJOSEF STRAUSS vermittelt wurde. Mit der Gewäh- rung finanzieller Hilfen stieg auch die Bereitschaft der DDR, sich gegenüber dem Westen weiter zu öffnen. Am 10. Januar 1986 trifft ERICHHONECKER 11 Abgesandte des US-Reprä- sentantenhauses zur Erörterung der weltpolitischen Lage sowie zur Diskussion über die Be- ziehungen der DDR zu den USA. Zudem reiste der Präsident der DDR-Volkskammer, HORST SINDERMANN, vom 19. bis 22. Februar 1986 in die BRD, und am 6. Oktober desselben Jahres schloss Eisenhüttenstadt mit Saarlouis die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft nach dem Mauerbau. Bereits 1987 reiste ERICH HONECKER dann als offizieller Staatsgast persön- lich in die BRD, und in der Folge besuchte er auch Belgien und Frankreich. Diese Öffnung der DDR hin zur BRD konnte nur zu Stande kommen, weil sich in der Sow- jetunion seit dem Amtsantritt von MICHAIL GORBATSCHOW ein grundlegender politischer Wandel vollzog, der mit zwei Begriffen eng verbunden ist: Glasnost und Perestroika. Die Sowjetunion war wirtschaftlich nicht mehr in der Lage, das Wettrüsten zur Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts zwischen Ost- und West beizubehalten. GORBATSCHOW schwor die Bürger der Sowjetunion deshalb auf notwendige Reformen ein. Glasnost stand für Offenheit und Transparenz gegenüber dem eigenen Volk. Dahinter verbarg sich ein deutlich größeres Maß an Presse-, Rede- und Meinungsfreiheit, als es in der Sowjetunion bis dahin der Fall VIII Vorwort war. Medien durften frei berichten, politische Gefangene wurden frei gelassen, das De- monstrationsrecht wurde gelockert und die Kirchen konnten wieder freier agieren. Ziel von Glasnost war es, die überkommenen stalinistischen Strukturen in der Sowjetunion endgültig abzuschaffen und ein demokratischeres Staatswesen zu schaffen. Perestroika bezeichnet die Neugestaltung des gesellschaftlichen und politökonomischen Systems in der Sowjetunion. Ausgangspunkt war die Erkenntnis von GORBATSCHOW, dass die sowjetische Wirtschaft auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig war, Forschung und Wissenschaft aus Geldmangel hinterherhinkten, die Schattenwirtschaft blühte, die Korruption nicht in den Griff zu bekom- men war und die Ausgaben für Rüstung und Militär das Staatsbudget in unverhältnismäßig hohem Maße belasteten. Innenpolitisch sollte die Vormachtstellung der KPdSU beibehalten und der Sozialismus wei- ter gefestigt werden. Gleichwohl sollten freie Wahlen abgehalten und die Gewaltenteilung sowie das Rechtsstaatsprinzip ausgebaut werden, um die notwendige Demokratisierung des Landes zu forcieren. GORBATSCHOW strebte zudem an, das Wettrüsten zu beenden, sich aus Kriegsgebieten (z. B. Afghanistan) zurückzuziehen und die Vereinten Nationen in außenpoli- tischen Fragen besser einzubeziehen. Wichtig für die Zukunft der DDR und damit Gesamt- deutschlands war die Abkehr von der BRESCHNEW-Doktrin. Ein sozialistischer „Bruderstaat“ konnte dadurch den Sozialismus als Ideologie abschaffen, ohne das politische oder militäri- sche Eingreifen der Sowjetunion befürchten zu müssen. So unterzeichnete die Sowjetunion im Januar 1989 mit ihren Verbündeten auch das Wiener KSZE-Abkommen. Danach war die Ausreise und Rückkehr aus einem Land für alle Bürger ohne Repressalien möglich. Darauf- hin rissen die ungarischen Grenzsoldaten am 2. Mai 1989 den Grenzzaun nach Österreich ab und öffnete am 10. September 1989 die Grenze auch für DDR-Bürger gen Westen. Die Tschechoslowakei untersagte deshalb den DDR-Bürgern den Grenzübertritt nach Ungarn, woraufhin mehrere Tausend DDR-Bürger die Botschaft der BRD in Prag besetzten. Nach zä- hen Verhandlungen verkündete Bundesaußenminister HANS-DIETRICHGENSCHER am 30. Sep- tember 1989 um 18:58 Uhr vom Balkon der Prager Botschaft, dass die sich in der Botschaft befindenden ausreisewilligen DDR-Bürger die Reise in den Westen tatsächlich antreten durf- ten. Die DDR-Regierung war angesichts der Entwicklungen in der Sowjetunion, an der ungarisch- österreichischen Grenze sowie in der Prager Botschaft überfordert. Hinzu kam, dass sich am 4. September 1989 in der Bezirks- und Messestadt Leipzig Massenprotesten gegen die Partei- und Staatsführung und damit vor allem gegen die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und po- litischen Zustände in der DDR ereigneten. Diese Proteste griffen schnell auf andere Bezirks- städte, z. B. Dresden, Rostock oder Schwerin, über. Trotzdem feierte die Partei- und Staats- führung – ganz so, als sei nichts geschehen – am 7. Oktober 1989 den 40. Jahrestag der Re- publik mit einer glanzvollen Parade in Berlin, der auch MICHAIL GORBATSCHOW beiwohnte. Der Druck der Demonstranten wurde zu groß und ERICHHONECKER musste am 18. Oktober 1989 abtreten. Dieser personelle Wechsel an der Regierungsspitze konnte jedoch nicht ver- hindern, dass am 23. Oktober 1989 die Leipziger skandierten: „Wir sind das Volk“, und dass am 4. November 1989 sich mehr als eine Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz zur größten Massendemonstration, die Nachkriegsdeutschland bis dahin erlebt hatte, einfan- den, um ihrem Protest Gehör zu verschaffen. Am 8. November 1989 trat das Politbüro der SED zurück, und am 9. November kam es dann auf einer Pressekonferenz in Berlin zu der Vorwort IX folgenschweren, irrtümlichen2 Antwort von GÜNTER SCHABOWSKI auf die Frage des italieni- schen Journalisten RICCARDO EHRMANN, nach der Rechtswirksamkeit der neuen Reiserege- lung, dass die allgemeine Reisefreiheit für alle DDR-Bürger ab sofort gelten würde. Damit war die Öffnung der Berliner Mauer noch in derselben Nacht – der Mauerfall – nicht mehr aufzuhalten. Der Weg zur deutschen Wiedervereinigung war geebnet. Die Weltordnung, die für viele als unerschütterlich und kaum veränderbar galt, hatte sich komplett gewandelt, was manche Historiker und Journalisten fälschlicherweise sogar vom „Ende der Geschichte“ schwadronieren ließ. Das bemerkenswerte an diesem Wandel war unzweifelhaft der überwie- gend friedliche Verlauf – „Das Wunder von Berlin“ war geboren. Zunehmend stellte sich je- doch die Frage: Was kommt jetzt? Für das, was jetzt kommen sollte, gab es bisher keinen Plan, keine Blaupause und keinen Leitfaden. Ein solcher Plan war aber dringend erforderlich, denn der Strom ausreisewilliger Ostdeutscher ebbte nicht ab. Die dringend erwarteten Leitlinien kamen von Bundeskanzler HELMUTKOHL. Am 28.11.1989 hielt er eine deutschlandpolitische Rede in der Bonner Haus- haltsdebatte, die einen Plan zur Einheit Deutschlands enthielt: das Zehn-Punkte-Programm. Zu diesem Programm gehörten insbesondere Sofortmaßnahmen humanitärer Art, umfassende Wirtschaftshilfen, der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, der Aufbau einer Vertragsgemeinschaft, die Schaffung konföderativer Strukturen und letztlich auch die explizite Forderung nach der deutschen Einheit: „Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbe- stimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wieder- gewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregie- rung.“3 Im Januar 1990 skandierten die Menschen bei den Montagsdemonstrationen dann bereits nicht mehr „Wir sind das Volk!“, sondern „Wir sind ein Volk!“ Die Ereignisse überschlugen sich. Noch im März 1990 fanden die ersten wirklich freien Volkskammerwahlen statt, und nicht wenige in der DDR dachten, dass die DDR nun reformiert würde, aber die grundsätzli- che Teilung Deutschlands erhalten bliebe. Am 18. Mai 1990 aber fanden derlei Überlegungen mit der Umsetzung des von KOHL formulierten Plans auf dem Weg zur deutschen Einheit ein jähes Ende, denn der Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wurde ge- schlossen. Drei Tage später wurde dieser Vertrag von beiden Parlamenten, dem Bundestag und der Volkskammer, gebilligt. Der Beitritt der DDR zur BRD gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD war damit besiegelt, und der 3. Oktober 1990 gilt seither als Tag der deutschen Einheit – ein gesamtdeutscher Feiertag. So wie 1949 die Einführung der D-Mark im Westen wesentlich zur deutschen Teilung beitrug, war die Währungsunion 1990, durch die die DDR-Mark durch die vielfach heiß ersehnte D-Mark abgelöst wurde, ein wesentlicher Schritt für die Reunion. HELMUT KOHL gelang es am 17. Januar 1991, zum dritten Mal wiedergewählt zu werden – zum „Kanzler der Einheit“. Bei der Bundestagswahl 1994 setzte er sich erfolgreich gegen RUDOLFSCHARPING durch. Erst die Wahlniederlage 1998 gegen GERHARD SCHRÖDER beende- te die „Ära KOHL“ und somit die längste Kanzlerschaft nach Kriegsende auf deutschem Bo- den. In diese Zeit fallen neben den bereits erwähnten Ereignissen die erfolgreiche Integration 2 Dies ist bis heute die offizielle Version. Es gibt jedoch auch die These,dass die Frage des italienischen Journalis- ten (aus dem Politbüro) „bestellt“ war. 3 KOHL (1989). X Vorwort Deutschlands in die NATO als Folge des Zwei-plus-Vier-Vertrags, die Ansiedlung der Euro- päischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main, der Beitritt zum Schengener Abkommen oder der Abschluss des Vertrags über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht). Von 1998 an führte GERHARD SCHRÖDER als siebter Bundeskanzler die Regierungsgeschäfte und führte eine rot-grüne Bundesregierung. Innenpolitische Akzente setzte die Koalition u. a. beim Ausstieg aus der Kernenergie, bei der Einführung der Ökosteuer, der Förderung regene- rativer Energien, der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und der Einleitung einschneiden- der Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung. Das wohl bekannteste und vielleicht auch um- strittenste Projekt der SCHRÖDER-Administration war das als Agenda 2010 bekannte „Pro- gramm zur Reform des Arbeitsmarktes, zum Umbau der Sozialsysteme und für wirtschaftli- ches Wachstum“.4 Auf der Grundlage dieses Programms wurden einschneidende Verände- rungen in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Renten-, Familien- und Bildungspo- litik auf den Weg gebracht, die Deutschland für das neue Jahrtausend fit machen sollte. Durch den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin wurde im Jahre 1999 aus der „Bonner Repub- lik“ die „Berliner Republik“. Auch für die Deutschen westlich der Elbe wurde damit deutlich: Es hat sich etwas Grundlegendes verändert. Ab dem 19.04.1999 tagte das Parlament wieder im Reichstag in Berlin, der auch zum Pflicht- programm der rasant wachsenden Schar von Touristen gehört, die Berlin von Jahr zu Jahr neue Besucherrekorde beschert. Die ehemals geteilte Stadt erlebte im Zuge des Regierungs- umzugs einen Bauboom. Viele neue Wohn- und Geschäftsbauten entstanden, die Verkehrs- infrastruktur wurde modernisiert. Mit dem neuen Flughafen Berlin-Schönefeld International (BBI) erhält Berlin einen der modernsten Verkehrsknotenpunkte für die Luftfahrt weltweit und untermauert damit seinen Anspruch, in einem Atemzug mit den Metropolen dieser Welt genannt zu werden. Ein innen- wie außenpolitisches Großereignis stellte die Einführung der europäischen Ge- meinschaftswährung Euro am 1. Januar 2002 dar. Hierdurch wurde nicht nur die D-Mark als Zahlungsmittel abgelöst, sondern der bereits von HELMUTKOHL maßgeblich vorangetriebene Prozess der europäischen Integration konsequent umgesetzt. Die Euro-Einführung in Deutschland darf durchaus als logistische Meisterleistung bezeichnet werden, die insbesonde- re das deutsche Bankensystem vor enorme Herausforderungen stellte. Die anfängliche Skep- sis gegenüber der neuen Gemeinschaftswährung ist einem hohen Maß an Respekt vor der eu- ropäischen Geld- und Zinspolitik – maßgeblich verkörpert durch die EZB – im In- und Aus- land gewichen. Mit dem klaren Nein von SCHRÖDER zum Irak-Krieg setzte Deutschland außenpolitisch ein deutliches Zeichen für friedliche Völkerverständigung und gegen den Einsatz militärischer Mittel zur Lösung von Konflikten. Gleichwohl hat die Schröder-Regierung mit der Entsen- dung deutscher Truppen in den Kosovo und nach Afghanistan gezeigt, dass Deutschland be- reit ist, sich seiner internationalen Verantwortung zu stellen. Die von GERHARDSCHRÖDER forcierten Reformen stießen auf zunehmenden Widerstand. In der Konsequenz kam es am 18. September 2005 zu vorgezogenen Bundestagswahlen, und am 22. November 2005 wurde ANGELAMERKEL zur Bundeskanzlerin der zweiten Großen Koali- tion in der deutschen Geschichte gewählt. Dies war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: 4 Vgl. BUNDESREGIERUNG (2003). Vorwort XI Zum einen, dass erstmals eine Frau das Amt der deutschen Regierungschefin bekleidete und zum anderen, dass ANGELA MERKEL aus dem Osten Deutschlands stammt und in der DDR aufwuchs. Die begonnene Haushaltskonsolidierung fand auch unter der Großen Koalition ihre Fortsetzung. Zudem verstärkte die Regierung u. a. ihr Engagement im Bereich Bildung und Forschung sowie in der Familienpolitik (z. B. durch die Einführung des Elterngelds). Die an- fänglichen Sanierungserfolge in Bezug auf den Staatshaushalt wurden durch das Ausbrechen der Finanzkrise Ende des letzten Jahres gestoppt. Zur Begrenzung der Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat die Große Koalition zwei Konjunkturpakte auf den Weg gebracht. Darüber hinaus mussten milliardenschwere Stützungsmaßnahmen für den deutschen Bankensektor umgesetzt werden, die den Staatshaushalt um deutlich größere Summen belasten, als in den Konsolidierungsprogrammen der Vorjahre eingespart wurde. Die Verbesserung der Lebensbedingungen in Deutschland insgesamt und die Angleichung des Ost- an das Westniveau war das Anliegen aller Kanzler seit dem Mauerfall.5 Die Wissen- schaftler vom DIW bescheinigen der ostdeutschen Wirtschaft: „Von einer so großen Transfer- abhängigkeit wie zu Beginn der 1990er Jahre kann heute keine Rede mehr sein.“6 Trotzdem ist der Leistungsunterschied auch nach zwei Jahrzehnten noch beträchtlich. So erwirtschaften die Erwerbstätigen in Ostdeutschland weniger als 80 % des westdeutschen Vergleichswerts.7 Auch die Bundesregierung stellt in ihrem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2008 fest, dass „die Wirtschaftskraft in den neuen Ländern noch sichtbar hinter der in den al- ten Ländern zurückliegt.“8 Gleichwohl attestieren die DIW-Forscher der ostdeutschen Wirt- schaft einen schwierigen Start nach dem Mauerfall. Die ostdeutschen Betriebe produzierten im Jahr 1992 – nicht zuletzt wegen des Wegbrechens der Ostmärkte – gerade einmal 3,4 % der gesamtdeutschen Industrieproduktion. Der Wert liegt jetzt bei nahezu 10 %. In der Zeit ab 1991 wuchs die Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigem von unter 25 % auf 78,3 % des Westniveaus in 2008. Darüber hinaus stieg die Exportquote nach den Analysen des DIW von 12 % Mitte der 1990er Jahre auf 33 % im Jahr 2008.9 Diese vielversprechenden Entwicklungen sind u. a. das Ergebnis einer veränderten Wirt- schaftsförderpolitik weg von der Gießkanne hin zur gezielten Förderung von Innovationen und wirtschaftlichen Wachstumsfeldern.10 So haben sich in Ostdeutschland „regionale Wachstumskerne“ herausgebildet.11 In der Mikroelektronik und in der Datenverarbeitung wuchs die Produktion bis 2007 gegenüber dem Vergleichsjahr 2000 um 134 %, während im gleichen Zeitraum ein klassischer Zweig wie die chemische Industrie nur um 48,4 % zulegen konnte. Ostdeutschland kann überdies große Erfolge in der Optotronik, der Luft- und Raum- fahrtindustrie oder der Medizin- und Biotechnologie aufweisen.12 Auch die von der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise stark betroffene Automobilindustrie hat eine Schlüsselrolle in der ostdeutschen Wirtschaft inne; die Produktion wuchs zwischen 2000 und 2007 um 81 %. 5 Vgl. bspw. BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR,BAU UND STADTENTWICKLUNG (2008), S. 1. 6 DIW (2009). 7 Vgl. DIW (2009). 8 BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR,BAU UND STADTENTWICKLUNG (2008), S. 1. 9 Vgl. DIW (2009). 10 Vgl. PUCHTA (2008), S. 38 ff. 11 BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR,BAU UND STADTENTWICKLUNG (2008), S. 4. 12 Vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR VERKEHR,BAU UND STADTENTWICKLUNG (2008), S. 5.