Der Zugang zum Fall Brigitta Michel-Schwartze (Hrsg.) Der Zugang zum Fall Beobachtungen, Deutungen, Interventionsansätze Herausgeber Brigitta Michel-Schwartze Husum, Deutschland ISBN 978-3-658-10969-1 ISBN 978-3-658-10970-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-10970-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliogra(cid:191) e; detaillierte bibliogra(cid:191) sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikrover(cid:191) lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Lektorat: Stefanie Laux, Stefanie Loyal Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com) Inhalt Einleitung: Von der Fachwissenschaft Sozialer Arbeit und ihrer Relationalität zu Bezugswissenschaft en – Skizzen einer Beobachtung in drei Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Brigitta Michel-Schwartze Falldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I Disziplinäre bezugswissenschaft liche Perspektiven Was ist möglich? Eine pädagogische Perspektive auf beengende Verhältnisse und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Barbara Schäuble Psychologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Irmgard Teske Konfl ikt als zerfasertes Konkretes – eine verstehenssoziologische Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Lutz Finkeldey Recht und Recht(e) haben – Ein methodischer Zugang zum Fall aus juristischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Annegret Lorenz VI Inhalt Zugang zum Fall: Ökonomik. Ökonomische Modelle und Erklärungen für Partizipationshemmnisse ......................................... 105 Gisela Kubon-Gilke Politologie/Politikwissenschaft und methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit ..................................................... 119 Günter Rieger Philosophische Impulse für ein professionelles Sozialarbeitshandeln ...... 135 Thomas Schumacher „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist.“ Der Zugang zum „Fall“ aus theologischer Perspektive ......................................... 153 Andrea Tafferner II Transdisziplinäre Perspektiven Die Systemisch-Konstruktivistische Perspektive ........................ 177 Dagmar Hosemann Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften ......................... 203 Angela Gosch Rassismustheoretische Perspektiven auf sozialpädagogische Fallarbeit ..... 229 Iman Attia Sozialarbeitswissenschaftliche Fallarbeit: Zugänge unter Einbeziehung bezugswissenschaftlichen Wissens .................................... 243 Brigitta Michel-Schwartze Autorinnen und Autoren ............................................. 287 Einleitung: Von der Fachwissenschaft Sozialer Arbeit und ihrer Relationalität zu Bezugswissenschaften – Skizzen einer Beobachtung in drei Unterscheidungen Brigitta Michel-Schwartze Einleitung „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Ludwig Wittgenstein Gegenstand dieses Buches sind unterschiedliche disziplinäre Perspektiven auf einen Fall aus der Praxis der Sozialen Arbeit. Alle, die einen Beitrag zu diesem Buch geleistet haben, hatten die Aufgabe, denselben Fall nach wissenschaft lichen Kriterien der von ihnen vertretenen Disziplin einzuschätzen und damit jeweils einen spezifi schen Zugang zum Fall zu legen. Die Art des Zugangs zu einem Fall entschei- det über Deutungen der Fallkomponenten und die Art der Deutung entscheidet über die Zielstellung einer Fallarbeit. Zunächst geht es also darum, wie der Fall gesehen wird oder gesehen werden kann. Sehen und das Gesehene zu beschreiben sind die Basis sozialen Arbeitens. Denn nicht der Fall bzw. das Problem, sondern das Gesehene und Beschriebene sind Grundlagen sozialarbeiterischer Intervention. „Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir beschreiben können, könnte auch anders sein.“1 Diese kurze Eingangsskizze deutet einen Th eoriebedarf an; ohne theoretische Fundierung ist die angemessene Erfassung und Codierung des Gesehenen eine selbstreferenzielle, d. h. eine durch subjektive Erfahrungen geleitete und auf das eigene Wertesystem bezogene Aktion. Professionell Arbeitende aber benötigen professionelle Kriterien, die sie ihren Beobachtungen zugrunde legen. „Erst die Th eorie entscheidet, was man beobachten kann.“2 Diese Erkenntnis lenkt den Blick auf die Relation von Praxis und Th eorie. 1 Wittgenstein (1921/1963: 5.634) 2 Albert Einstein, zitiert nach Heisenberg (1979/2006, S. 31) B. Michel-Schwartze (Hrsg.), Der Zugang zum Fall, DOI 10.1007/978-3-658-10970-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 2 Brigitta Michel-Schwartze Soziale Arbeit als Praxis kann als komplexes Gefüge von Strukturen und sozia- len Handlungssystemen bezeichnet werden, in dem gegen individuelle Notlagen interveniert wird. Soziale Arbeit als Disziplin scheint noch in einem Konsolidie- rungsprozess zu stecken.3 Beispielsweise wird diskutiert über die Frage, ob sie einen Wissenschaftsstatus beanspruchen könne oder ob sie durch Theoretisierung ihrer Profession als „Akademische Soziale Arbeit“ 4 sich erst auf dem Weg zur Wissenschaft befinde. In dieser Information liegt eine erste der hier skizzierten Unterscheidungen5: die zwischen Wissenschaft bzw. eigenständiger Disziplin ei- nerseits und abhängiger Funktion in der Hochschullehre andererseits. Doch was spricht gegen den Wissenschaftsstatus? Soziale Arbeit hat auf wissenschaftlicher Ebene ihre spezifischen erkenntnisleitenden Problemstellungen entwickelt, die von denen anderer, auch und gerade ihrer Bezugswissenschaften, trotz partieller Interferenzen abgegrenzt werden können. Wir finden Grundlagen-, Handlungs- und Professionstheorien, die genuine Fragestellungen problematisieren und professio- nelles Handeln fundieren.6 Ohne ein Verständnis von Wissenschaftlichkeit Sozialer Arbeit über die Professionsebene hinaus wäre dieses Buch trotz seiner praxisbezo- genen Intention nicht entstanden, denn die Wahrnehmungen des Praxisfalles, die Erklärungsmodelle und die Lösungsansätze für die dargestellten Probleme sind ohne theoretische Fundierung nicht angemessen leistbar. Den bereits zur Diskussion stehenden Gegenstandsdefinitionen sei hier eine mo- difizierte Gegenstandsbeschreibung angefügt, die sowohl die Problem- als auch die Personenebene Sozialer Arbeit und darüber hinaus den Kontext zu erfassen sucht, in welchem Probleme entstehen, Personen in Not geraten und Soziale Arbeit tätig ist. Da Wissenschaften sich zunächst nach ihrem Materialobjekt gegliedert haben7, sei auch hier mit dem Erkenntnisgegenstand begonnen. Das Materialobjekt besteht aus der Gesamtheit der zu untersuchenden konkreten Erscheinungen8 und stellt 3 Vgl. Sommerfeld 2010 4 Vgl. Krieger (2009) 5 Bateson (1985, S. 488) bezeichnet eine Information als „Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht“ 6 Stellvertretend für die an dieser Stelle zu nennenden TheoretikerInnen sei auf die Übersicht von Spatscheck (2009) und die Arbeit von Erath (2006) verwiesen sowie auf die Beiträge in der Schriftenreihe „Theorie, Forschung und Praxis Sozialer Arbeit“ der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit 7 Vgl. Ropohl (2012, Kapitel 6) 8 Vgl. Wagner o. J. Einleitung 3 das gegenständliche Substrat einer Wissenschaft dar.9 Für das Materialobjekt einer Disziplin Soziale Arbeit wird folgende Formulierung vorgeschlagen: Soziale Probleme, die innerhalb Benachteiligung erzeugender Strukturen, Hand- lungssysteme und Kontexte entstehen, gegen die Soziale Arbeit in Einzelfällen intervenieren kann. Den begrenzbaren Objektbereich (den ersten Teil) dieses Ma- terialobjekts) teilt sich Soziale Arbeit zwar mit anderen Disziplinen, insbesondere mit der Soziologie und mit der Politologie. Diese Disziplinen fokussieren jedoch andere Elemente des Materialobjekts; sie zielen nicht auf Intervention in Einzelfällen. Eine disziplinäre Abgrenzung wäre durch das Materialobjekt noch nicht ge- geben. Zu disziplinärer Identität trägt das Materialobjekt nur mittelbar bei „über seine richtungweisende Bedeutung bei der Wahl des Formalobjekts“10. Was erkannt werden kann, bestimmt sich nicht nach dem Erkenntnisgegenstand, sondern nach dem Erkenntnisverfahren11. Das bedeutet: Die disziplingenerierende Differenz liegt in der spezifischen Erkenntnisperspektive: wie gegen diese Probleme innerhalb be- nachteiligender Kontexte in einzelnen Notlagen zu intervenieren sein kann. Denn über den Begründungszusammenhang einer Wissenschaft hinaus sollte der Verwen- dungszusammenhang wissenschaftlichen Wissens nicht vernachlässigt werden.12 Da sich infolgedessen die disziplinäre Identität im Formalobjekt entscheidet, sei obige Formulierung des Materialobjekts um einen Formulierungsvorschlag für das Formalobjekt, die Erkenntnisperspektive, ergänzt: Formalobjektiver Gegenstand der Sozialen Arbeit sind Definitions-, Erklärungs- und Bearbeitungsprozesse13 sozialer Benachteiligungsphänomene, die sich als soziale Probleme (durch Unterausstattung mit Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten bzw. erschwertem Zugang zu diesen) auf individueller Ebene identifizieren, beobachten und regulieren lassen. Auch formalobjektiv ergeben sich Berührungen und partielle Überschneidun- gen mit weiteren Disziplinen,14 die ihrer eigenen Materialobjekte wegen allerdings andere Interventionsperspektiven haben als Soziale Arbeit. Doch material- und formalobjektiv lässt sich ein eigener Gegenstand der Disziplin Soziale Arbeit ab- 9 Vgl. Jestaedt 2007 10 Jestaedt (2007, S. 269) 11 Vgl. a. a. O., (S. 268) 12 Vgl.Ropohl a. a. O. (Hervorhebungen durch BMS) 13 Unter Bezug auf Klüsche u. a. (1999) 14 Hier wären zu nennen: Psychologie, Pädagogik, Theologie und wiederum Soziologie, die jedoch eine andere teleologische Perspektive ihres Formalobjekts hat, d. h. sie kon- stituiert sich durch einen anderen Zweck. 4 Brigitta Michel-Schwartze grenzen.15 Die oben angedeuteten, bislang vorliegenden theoretischen Arbeiten der Disziplin Sozialer Arbeit zeigen spezifisch sozialarbeiterische Analysen, Deutungen und Lösungsansätze. Die Frage nach dem Wissenschaftsstatus sollte geklärt sein: Soziale Arbeit hat sich als eigenständige Wissenschaft profiliert.16 Mit einer Gegenstandsbeschreibung ist die Positionierung im Wissenschafts- system noch nicht markiert. Um diese bestimmen zu können, ist eine zweite Un- terscheidung zu beachten: die generelle Differenz zwischen Basiswissenschaften einerseits und den Handlungswissenschaften andererseits. In dieser Differenzierung ist die Zürcher Schule, vor allem Silvia Staub-Bernasconi, führend, die Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft konstituiert: „Die Basis- und angewandten Wissenschaften bearbeiten .. kognitive Probleme. Die Handlungswissenschaften bearbeiten praktische Probleme unter Beizug von theoretischen Aussagen und Forschungsergebnissen aus den Basis- und angewandten Wissenschaften. Die Basiswissenschaften werden so zu Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit.“17 Diese Kategorisierung in eine Handlungswissenschaft könnte Soziale Arbeit auf den ersten Blick als eklektizistische Sub-Disziplin mehrerer Basisdisziplinen er- scheinen lassen. Um den Eindruck von Abhängigkeit abzuwenden, bedarf es zweier Perspektiven: zum einen des Rückgriffs auf die Systemtheorie, zum zweiten einer dritten Unterscheidung. Systemtheoretisch kann Soziale Arbeit als autopoietisches System, damit als energetisch offen bei operationeller Geschlossenheit18 beschrie- ben werden. Denn beim Theorietransfer bleibt das Theoriesystem Sozialer Arbeit selbstreferenziell, weil die Theorien und Erkenntnisse der Bezugswissenschaften nach eigener Rationalität auf der Basis und unter Wahrung genuiner theoretischer Fundierungen verarbeitet werden. Die angedeutete dritte Unterscheidung in dieser Beobachtung ist die zwischen Einzel- und Transdisziplinen. Einzeldisziplinen repräsentieren einen kohärenten Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang innerhalb des Wissenschaftssystems. Infolge der Zunahme von Wissen differenzieren sie sich immer weiter aus, so dass durch Spezialisierungen neue „Bindestrich“-Disziplinen, 15 Andererseits hätten ohne gleiche oder benachbarte Materialobjekte und ohne ähnliche Formalobjekte die Basiswissenschaften nicht zu Bezugswissenschaften entwickelt werden können. 16 Zum gleichen Ergebnis sind schon Andere gekommen; stellvertretend für viele sei genannt: Sommerfeld (2010) 17 Staub-Bernasconi (2007, S. 169; Hervorhebungen im Original) 18 Vgl. hierzu das Konstrukt von Luhmann unter Bezug auf Maturana und Varela (Luh- mann 1987)