DerTechnikdiskurs inder Der Technikdiskurs in der Herausgegeben von Wolfgang Emmerich und Carl Wege Verlag J.B. Metzler StuHgart ·Weimar DieDeutscheBibliothek- C1P-Einheitsaufnahme DerTechnikdiskursinder / hrsg.von Wolfgang Emmerichund Carl Wege.- Stuttgart;Weimar: Metzler; 1995 ISBN978-3-476-01307-1 NE:Emmerich,Wolfgang[Hrsg.) ISBN978-3-476-01307-1 ISBN978-3-476-03599-8(eBook) DOl 10.1007/978-3-476-03599-8 Dieses Werk einschlief31ich oller seiner leile ist urheberrechtlich geschGtzt. Jede Verwertung aul3erhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verloges unzulCissig und strafbor.DosgiltinsbesonderefUrVerviel fCiltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver arbeitunginelektronischenSystemen. ©1995Springer-VerlagGmbHDeutschland UrsprunglicherschienenbeiJ.B.MetzlerscheVerlagsbuchhandlungundCarlErnst Poeschel VerlagGmbHinStuttgart1995 EIN VERLAG DER SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . "* Helmut Lethen: Dieelektrische Flosse Leviathans. ErnstJungers Elektrizitat . . . . . . . . . . . . . . . 15 Ulrike Baureithel:Zivilisatorische Landnahmen.Technik diskurs und Manneridentitat in Publizistikund Lite- ratur der zwanzigerJahre . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Gudrun Kahn-Waechter: Ersatzwelt, totale Herrschaft, Risikolust - Elemente eines modernen Technikdiskurses am Beispiel von John Desmond Bernal . . . . . . . . . . 47 "* JeffreyHerf:Der nationalsozialistischeTechnikdiskurs. Diedeutschen Eigenheiten des reaktionaren Moder- nismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Anson Rabinbach: Nationalsozialismus und Moderne. Zur Technik-Interpretation im Dritten Reich . . . . 94 Friedrich Kittler: Auto Bahnen . . . . . . . . . . . . . 114 ErhardSchUtz: Faszination der blaBgrauen Bander. Zur »organischen« Technikder Reichsautobahn 123 DavidMilde: Lernen von den Eskimos. DerWeltfahrerColin RoB zwischen Moderne und Nationalsozialismus . . . . . . . . . .. 146 FrankTrommler:Amerikas Rolle imTechnikverstandnis der Diktaturen 159 VI Inha/fsveneichnis KlausStddtke: Wandel imTechnikbewuBtsein. Zur Geschichte eines sowjetischen Ideologems 175 Anneli Hartmann/Wolfram Eggeling:»Das zweitrangige Deutschland« - Foigen des sowjetischen Technik- undWissenschaftsmonopolsfur die SBZund diefruhe DDR 189 SigridMeuschel:SymbiosevonTechnik und Gemein schaft. DieReformideologie derSEDin den sechziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wolfgang Emmerich:»DieTechnik und die Kehre«. Affirmation, Protestund Regression im Iiterarischen Technikdiskurs der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Carl Wege: Zum Verhaltnisvon Filmkunstund Schrift- kultur im»realen Sozialismus« der DDR . . . . . . . . . 255 RolfSchnell:Tradition und Modernisierung Das Modell Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Einleitung Die Jahreszahlen 1917, 1922 und 1933 und die mit ihnen verbundenen Umbriiche in RuBland, ltalien und Deutschland markieren den Beginn einer Ara,die der HistorikerAlan Bullockdie »Hitler-Stalin-Ara«genannt hat.' DieofTenen,demokratischenSystemebefanden sichinderDefensive; ihre Zeit schien mit Beginn der dreiBigerJahre abgelaufen zu sein. Die groBen Diktaturen mit ihren aggressiven Machtanspriichen pragten die Signatur der neuen Epoche. Das Ende dieser relativ kurzen historischen Epoche liiBtsich,zumal fiirdieSowjetunion und dieLander Mittelosteuro pas,weitaus wenigergenau angeben alsihr Anfang.Der Stalinismus tiber lebte bekanntIich den ToddesDiktators.Gabor Ritterspomspricht vonder Zeit nach 1953 alseinem »Stalinismus ohneStalin.w Die poststalinistische Epoche wird gleichermaBen durch Kontinuitat, Reformbestrebungen und Auflcsungserscheinungenbestimmt. Ebenso wieaufdieVorgeschichteund Hochphase der Hitler-Stalin-Arasoliim Rahmen des vorliegenden Bandes auch aufdie Nachgeschichte und damit aufdie unveranderte Virulenz und allmahliche Erosion stalinistischer Tendenzen in den fiinfziger und sech zigerJahreneingegangen werden. VonBeginnanweistder»wissenschaftlicheSozialismus«einebesondere Affinitat zum technischen Fortschritt auf Hans Jonas schreibt in seinem philosophischenHauptwerkDas Prinzip Vemntwortung,daBder »technologi sche Impuls indasGrundwesendesMarxismuseingebautist«,und fiigtan gleicher Stelle hinzu, daB»ein fast religioser Glaube an die Allmacht der Technik« fiir die friihe Sowjetunion charakteristisch sei.' Jonas weist u.a. aufLenins beriihmte Kommunismus-Definition aus den Zeiten des russi schen Burgerkriegshin.»Kommunismus«,soverkiindete Lenin 1920,»das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung«."Der GOELRO-Plan, aufden sich 1 Alan Bullock:HitlerundStalin.ParalleleLeben.Berlin 1991,S.1250f. 2 GaborRitterspornzitiertnach DietrichBeyrau:Bildungsschichtenuntertotalitiiren Bedingungen.UberlegungenzueinemVergleichzwischenNS-DeutschlandundderSowjet unionunterStalin,in:ArchivjUrSozialgeschichte34/1994,S.35-54,hierS.40. 3 Hans Jonas: DasPrinzip verantwortung. versucheinerEthikjUrdie technologische Zivilisation.Frankfurt/M.1984,S.277und 276. 4 WI.Lenin: Unsereaullen-undinnenpolitischeLogeunddieAufgabenderPartei(1920), in:ders.: J#rke.Bd.31.Berlin/DDR1972,S.402-422,hierS.414. 2 fin/eilung LenininseinerRedeaufdem8.SowjetkongreBbezieht,sahdieumfassende Elektrifizierung SowjetruBiandsvor:Er war Teileines Industrialisierungs plans und Teileines sakularen Heilsplans zugleich, der mit der Errichtung einer technologisch hochentwickelten klassenlosen Gesellschaft seine Er fiillung finden soUte. Den im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre ver fiigten IndustrialisierungsmaBnahmen war bereits eine terroristische Grundtendenzeinbeschrieben,diesichimmer starkerausbilden soUte.Der Sieg des Sozialismus in einem Schwellenland der Modeme, die Kon solidierung des Sowjetsystems unter schwierigen Bedingungen und die AusschaltungzivilisationskritischerStrornungen fiihrten friihzeitigzurHer ausbildung einer totalitaren Modernisierungskonzeption, in der die kom munistische Utopie primar durch die gewaltsam forcierte Entfaltung der Produktivkrafte erreicht werden sollte. Diese Modernisierungskonzeption, die nach 1945aufden gesamten mittelosteuropaischen Raum iibertragen wurde,gingindersowjetischbesetztenZone zwischenElbeund Odereine spezifisch (ost-)deutsche Verbindung mit dem Erbe der Kriegs- und Vor kriegsara ein. Zum Erbe der Vorkriegsara gehorten humanistische und wenigerhumanistische,autoritative Traditionen ausdem 19.und friihen20. Jahrhundert. Das Erbe der Kriegsarawar eine weitgehend zerstorte Indu strielandschaft. Allen Zerstorungen zum Trotz entwickelte sich in den Ruinen und Triimmern des 2.Weltkriegsein beispielloser Technikkult,der in keiner Weisedem tatsachlichen Stand der Produktivkraftentfaltung ent sprach.WennZygmunt Baumandavonspricht,daB»derKommunismusdie Moderne in ihrer entschlossensten Stimmung und entschiedensten Hal tung«war",somuBimGegenzug daranerinnertwerden,daBdieDDR(und mit ihr das Sowjetimperium) bis in die sechziger Jahre hinein ein vor modernes Land blieb, dessen Lebenswelt weit weniger durchrationalisiert war als die der westeuropaischen Lander. Peter Christian Ludz spricht (1980)inbezugaufdieSystemesowjetischenTypsvon»partiellere",Dieter Senghaas (1982) von »nachholendere", Wlodzimierz Brus (1984) von 5 Zygmunt Bauman: Modeme und Ambivalenz.Das Ende derEindeutigkeit(1991). Hamburg1992,S.326. 6 Vgl.Peter ChristianLudz:MechanismenderHerrschaftssicherung.Einesprachpoliti scheAnalysegesellschaftlichenWandelsinderDDR.Miinchen,Wien 1980,S.58. 7 Vgl.DieterSenghaas: lim Europa lemen.EntwicklungsgeschichtlicheBetrachtungen. Frankfurt/M.1982,KapitelVI,S.277-320. Ein/eilung 3 »konservativere", und I1ja Srubar (1991) von »verzogerter Modernisie runge", Wahrend in der DDR, trotz aller Bekenntnisse zum »wissenschaftlich technischen Fortschritt«, pra- und protomoderne Faktorenweiter wirksam blieben, kann umgekehrt, im Fall der NS-Diktatur, die volkische Kritik an der Moderne kaum dariiber hinwegtauschen, daB ungeachtet des politi schen Paradigmawechsels nach 1933 die Durchrationalisierung der Gesell schaft unvermindert vorangetrieben wurde. Bereits Mitte der sechziger Jahre sprach RalfDahrendorfvon einer»Modernisierungwider Willen«.10 Seitdem haben Soziologen und Historiker immer wieder darauf hinge wiesen, daB die Nationalsozialisten geradezu »zwangslaufig -Moderniza tion- praktizierenmuliten, urn ihre im Grunde fortschrittsfeindlichen Ziele verfolgenzu konnen.«" DetlevPeukertschreibt,daBdie»Nfi-Ideologieviel zuuneinheitlichwar,urn[...Jdiearchaischen-Endziele-vonden modernen -Mitteln- sauber scheiden zu konnen«12, und Jost Hermand erklart: »Die Grundlage« aller Traume vom Tausendjahrigen Reich »konnte in letzter Instanz nur die Uberlegenheit der deutschen Technik sein.c':' Kennzeich nend furdieNS-Gesellschaftisteine Gemengelageaus fundamentalistisch regressiven und technisch-avancierten, modernistischen Tendenzen: Zu Recht fordertdaherAxelSchildt, »eine Begriffiichkeitzu entwickeln,inder das Konglomerat rassistischer, technokratischer, militaristisch-autoritarer, 8 Vgl.Wlodzimierz Brus: DerSowjetblock nach Breschnjew- die okonomische Per spektive, in:ders.u.a.:DiesowjetischenSystemenachBreschnjew.K61n1984,S.5-16, hier S.10. 9 Vgl.IljaSrubar:UilrderrealeSozialismusmodem?VersucheinerstrukturellenBestim mung, in:Kolner Zeitschriftfiir Soziologie und Sozialpsychologie, 1991,S.415-432, hier S.427. 10Vgl.zu Ralf DahrendorfAxel Schildt: NS-Regime, Modemisierung und Modeme. Anmerkungen zurHochkonjunktureinerandauemdenDiskussion, in: TelAviverJahr buchfiirdeutscheGeschichte,S.3-22,hier S.7. 11 Henry A.Turner zitiert nach A. Schildt: NS-Regime,Modemisierung undModeme (vgl.Anm. 10),S.7. I2 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde.Anpassung, Ausmerze und AujbegehrenimNationalsozialismus.K61n1982,S.44. 13lost Hermand:Deralte Traumvom neuen Reich. Volkische Utopien und National sozialismus.Frankfurt/M.1988,S.311. Vgl. zum Themenkomplex Technik und Nationalsozialismus u.a. Karl-Heinz LudwigsStudie Technikundlngenieure,DUsseldorf1974,undzurModernisierungs debatte im Zusarnmenhang mit dem Nationalsozialismus die Darstellung des aktuellen Forschungsstands imNachwort zu der von Michael Prinz und Rainer Zitelmannherausgegebenen2.AuflagedesSarnmelbandsNationalsozialismusund Modemisierung,Darmstadt1994,S.335-361. 4 Ein/eilung antiliberaler, antirnarxistischer, irrationalistischer,pseudoreligios-charisrna tischer und vor allem zutiefst amoralischer Elemente der -Modernitat-im NS-Regirne [...J seinen Ausdruck zu finden hatte.«!" Schildt weist mit seiner Forderung nach einer »noch zu entwickelnden Begrifflichkeit« auf ein DefizitbisherigerTheoriebildunghin. Dietrich Beyrau hat jiingst in einer vergleichenden Studie zum Dritten Reich und zum »realen Sozialismus« festgestellt, daBin beiden Systemen »dieTendenzzur Verrnachtungvon Forschungund Technik unubersehbar« sei." DerTechnikdiskurs in den totalitiiren Systemen weist zumindest auf struktureller Ebene eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf. Sowohl der Nationalsozialismusalsauchder Stalinismuskonnennichtzuletztaufgrund ihres kompromiBIosen Glaubensan die Beherrschbarkeitgesellschaftlicher Prozesse als totalitar bezeichnet werden. Sakularisierter Heilsplan und rational-instrumentelle Machbarkeitsphantasien gehen hier wie dort eine unheilvolleVerbindungein. Urn das Chaosabzuwenden, indas die offenen Systemefortwiihrend zu versinken drohen (Wirtschaftskrise, Liberalismus, iibersteigerter Individualismus), wird dem Gesetz bzw. der historischen GesetzmiiBigkeit(dialektischerMaterialismus),demeinheitIichenTypus(E. Jimger) und ebenauch- inbesonderemMaBe- der Technik eine stabilisie rende, ordnungsstiftende Funktion beigemessen. InVerbindung mit den jeweiligen Siegem der Geschichte (den Ariem bzw.den Proletariem - in beiden Fallen dem »faustischen Menschen«) wird sich die Technik als WohItat und Segen erweisen, in Verbindung mit dem sog. WeItjudentum bzw.dem KapitalismusdagegenalsFluch. Im Rahmen des vorliegenden Bandes wird es kaum moglich sein, den komplexen Themenbereich »Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ara« in einem umfassenden Sinne aufzuarbeiten. Jedoch konnen die hier publi zierten Aufsatzedazu beitragen, den Blick fiirdie Probleme zu scharfen. Neben konvergierenden Tendenzen - homologen Denkfiguren und Argu mentationsstrategien- lassen sich selbstverstandlichaucherheblicheDiffe renzen zwischen dem Technikdiskurs im Dritten Reich und im »realen Sozialismus« feststellen. Generell ist zu fragen, ob der Technikdiskurs in den totalitaren Systemen einen anderen Verlaufgenommen hat als in den offenen Gesellschaften. Welche grundlegenden Unterschiede und spezifi sche Auspragungensind erkennbar? - Inwelcher Weise werden die Beziehungen zwischen Mensch und Ma- 14 A.Schildt:NS-Regime.ModemlsierungundModeme(vgl.Anm.10),S.22. 15 D.Beyrau:BildungsschichtenuntertotalitdrenBedingungen(vgl.Anm.2),S.54.