Oliver Seibt Der Sinn des Augenblicks Studien zur Popularmusik 2010-04-07 11-12-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238420086666|(S. 1 ) T00_01 schmutztitel - 1396.p 238420086674 Oliver Seibt ist Post-Doctoral Researcher am Cluster of Excellence »Asia and EuropeinaGlobalContext«derUniversitätHeidelberg.NebenderFach-und Ideengeschichte der Musikethnologie und Popularmusikforschung stellt die japanische Popularmusik seinen derzeitigen Forschungsschwerpunkt dar. 2010-04-07 11-12-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238420086666|(S. 2 ) T00_02 seite 2 - 1396.p 238420086682 Oliver Seibt Der Sinn des Augenblicks. Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 2010-04-07 11-12-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238420086666|(S. 3 ) T00_03 titel - 1396.p 238420086690 Diese Arbeit wurde 2009 von der Hochschule für Musik und Theater Hannover als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlaggestaltung auf Grundlage eines Gemäldes von Sbiti Abdel Hay, Bern 2009 Lektorat & Satz: Oliver Seibt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1396-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] 2010-04-07 11-12-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b8238420086666|(S. 4 ) T00_04 impressum - 1396.p 238420086698 Für Rüdiger Schumacher Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Du diese Arbeit hättest lesen können. Inhalt Prolog 11 Die Musikwissenschaft und das Alltägliche 23 Auf der Suche nach dem Alltäglichen 31 DIE ENTDECKUNG DES ALLTÄGLICHEN Sigmund Freud und das Unbewusste im Alltagsleben 47 Der Surrealismus und das Wunderbare im Alltagsleben 63 Documents, das Collège de Sociologie, Michel Leiris und das Persönliche am Alltagsleben 81 KRITIK UND REHABILITIERUNG DES ALLTÄGLICHEN Henri Lefebvre: Entfremdung und Momente 111 Roland Barthes: Das A/alltägliche l/Lesen 135 Michel de Certeau: Praktiken des Augenblicks 157 ENTWURF EINER MUSIKWISSENSCHAFT DES ALLTÄGLICHEN Der Sinn des Augenblicks: Gegenstand einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 179 Idiographien, Flaneure und Idiologie: Methoden einer Musikwissenschaft des Alltäglichen 199 Literatur 227 Prolog 1 Der Regen hatte plötzlich eingesetzt. Bis eben hatte zwar nicht die Sonne geschienen – wann tut sie das schon mal in Köln – aber zumindest war es der Jahreszeit entsprechend trocken und warm gewesen. Jetzt flüchteten die Menschen in Scharen vor dem Re- gen in die Straßenbahn, bis auf die Haut durchnässt, mit Kin- derwagen und mit Fahrrädern, bis vor einer Minute noch das ideale Fortbewegungsmittel, jetzt, bei dem Wetter, völlig ungeeig- net. Ein älterer Herr, gekleidet, wie ältere Herren im Sommer oft- mals gekleidet zu sein pflegen, im leichten Anzug, wenn auch in keinem sehr teuren, versuchte seinem Unmut über die etwa fünf- zig Jahre alte Frau, die auf der Flucht vor dem Regen ihr Fahrrad in den ohnehin schon überfüllten Raum am Eingang zu buchsie- ren versuchte, in älteren-Herren-gemäßer Manier Ausdruck zu verleihen. Aber auch wenn er es vermied, sie persönlich anzugrei- fen und ganz allgemein über „die Leute“ schimpfte, die, nur um selbst nicht nass zu werden, in Kauf nähmen, mit „ihren nassen und verdreckten Fahrradreifen die Kleidung ihrer Mitmenschen zu verschmutzen“, war klar, wen er meinte, und auch sein freundliches Lächeln und die zumindest in Köln für ältere Herren typische vertraulich-versöhnliche Art, auf die er die Frau an- sprach, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sie gera- de vor allen anderen Mitfahrenden der Rücksichtslosigkeit und fahrlässigen Sachbeschädigung bezichtigte. Dementsprechend unterkühlt fiel ihre Reaktion aus, höflich zwar, beschwichtigend, aber man konnte ihr leicht anmerken, dass sie ebenso verärgert wie verunsichert war. Als der Mann seinen Redeschwall kurz un- terbrach und sich wegdrehte, schaute sie sich hilfesuchend unter den umsitzenden Fahrgästen um. Ihr Blick traf den der älteren Dame, die neben mir saß und die ihr mit einem Augenrollen still- schweigend ihre Solidarität versicherte. Es goss noch immer in Strömen, und an der nächsten Halte- stelle sollte sich die ohnehin schon aufgeheizte Stimmung unter den Fahrgästen sogar noch verschärfen, als immer mehr Men- 11 Überlegungen zu einer Musikwissenschaft des Alltäglichen schen in die Bahn drängten, darunter eine junge Frau, die nun offenkundig große Mühe hatte, auch ihr Fahrrad noch in den überfüllten Wagen zu zwängen. Die missbilligenden Blicke des älteren Herren kündigten die nächste Tirade an, aber bevor er anheben konnte, verwickelte die ältere Frau mit Rad die jüngere in ein komplizenhaftes Gespräch über das Fahrradfahren im All- gemeinen, plötzliche Wetterumschwünge und verständnislose Mitmenschen in Straßenbahnen. Das war nun endgültig zu viel, der ältere Herr ließ das maskenhaft freundliche Lächeln fahren und drängte sich erbost und die im Weg stehenden Mitpassagiere harsch anraunzend – „Entschuldigung, darf ich mal bitte!“ – durch den verstopften Mittelgang der Bahn davon. Kurzfristig ih- ren Sieg genießend lächelte die ältere Frau erst der Dame neben mir verschwörerisch zu, dann der jungen Frau mit Rad, die das Verschwörerische gar nicht so recht verstand, weil sie die Be- schwerden des älteren Herren zuvor ja gar nicht miterlebt hatte. Allmählich ließ der Regen nach, je weiter sich die Bahn von Stadtzentrum entfernte, desto mehr Fahrgäste stiegen aus, der erboste ältere Herr schien unter ihnen gewesen zu sein, zumin- dest war nichts mehr von ihm zu sehen oder zu hören, und auch die jüngere Frau mit Rad verließ an einer der nächsten Haltestel- len den Wagen. Aber auch, wenn sich die Lage nun entspannt zu haben schien, hatte ich, wenn ich sie ansah, doch den Eindruck, dass die ältere Frau mit Rad immer noch damit zu kämpfen hatte, dass ihr der ältere Herr zwar indirekt, aber in aller Öffentlichkeit vorgeworfen hatte, rücksichtslos zu sein. Plötzlich kündigte etwas weiter hinten im Wagen ein Mobiltelefon einen eingehenden Anruf an, indem es „Viva Colonia“ von De Höhner als Realtone zum Be- sten gab: „Ja da simmer dabei, dat is prima“ – den Kopf im Takt hin und herwippend schaut die ältere Frau mit Rad auf, um die Quelle der Musik, von der sie sich in diesem Moment offenkundig angesprochen fühlt, auch wenn sie etwas blechern aus einem Handylautsprecher tönt, zu orten – „Viva Colonia“ – da bricht es aus ihr heraus, und die folgenden Takte des Liedes singt sie so lauthals wie textsicher mit – „Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust / Wir glauben an den lieben Gott und ha’m noch immer Durst“. Dabei sucht sie triumphierend den Blick der alten Dame neben mir, die ihr, ebenfalls mit dem Kopf im Takt wippend, be- stätigend zulächelt. Nachdem die Frau mit Rad ihr noch einmal scheinbar dankbar zugenickt hat, nimmt die etwas verdutzt dreinblickende Besitzerin des Handys den Anruf entgegen und die Musik verstummt. 12