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Der Schein des Seins: Zur Symbolik des Schleiers in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« PDF

236 Pages·2005·5.811 MB·German
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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER BAND 106 HEE-JU KIM Der Schein des Seins Zur Symbolik des Schleiers in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2005 Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Jahrespreis 2003 der Wissenschaftlichen Gesell- schaft Freiburg ausgezeichnet. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15106-4 ISSN 0440-7164 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro- nischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch Inhalt Einleitung ι I. Aus der Welt der Herkunft 21 1. Die Familiendynamik 21 2. »Jüngling am Scheideweg« 27 3. Theatralisierte Liebe aus Theaterliebe 35 4. Parallelwelt der Liebe: Die Melina-Episode 50 5. Das Bild vom kranken Königssohn 55 II. In der Zeichenwelt der Vorsehung 67 1. Die Schleiersymbolik 67 2. Der mystische Schleier 70 3. Der goldene Schleier 72 4. Auch ein Schleier für Philine im Moratorium der Identität.... 78 5. Der Schleier der Amazone 90 6. »Epoche ohne Epoche« 99 7. Die >Hamlet<-Inszenierung 108 8. Der graue Schleier 113 9. Der weiße Schleier 127 III. In die Welt der Zukunft: 145 1. Initiationsritus 145 2. Die entschleierte Muse — Mignon 148 3. »Hier ist das Rätsel« 169 4. Revisionen des Selbstbildes 190 IV. Schlußbetrachtung 207 Siglen 221 Literaturverzeichnis 223 1. Goethe-Ausgaben 223 2. Primärtexte, Quellen und Dokumente 223 3. Forschungsliteratur 224 V Einleitung >Wilhelm Meister und kein Ende< - der Titel von Goethes 1813 und 1816 entstandenem dreiteiligem Essay >Shakespeare und kein Endes in dem er in Anspielung auf seine frühere Rede >Zum Shäkespears Tag< (1771) auf eine umfassende Würdigung seines großen Vorbilds zu sprechen kommt, läßt sich mit einem gewissen Recht auch auf Goethe selbst und insbesondere auf sei- nen Roman >Wilhelm Meisters Lehrjahre< übertragen. Goethes Roman erfreut sich bis heute des anhaltenden Interesses literaturwissenschaftlicher Forschung. Diese Wirkungskonstanz verdankt sich nicht nur der Stellung, die das für lange Zeit zum Prototyp des sog. Bildungsromans erklärte Werk traditionsbildend in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt.1 Auch sein komplexes Sinn- potential hat immer wieder Interpretationsanstrengungen provoziert. So zeich- nete sich in den vergangenen Jahren neben den auf die Bildungsproblematik fokussierten Untersuchungen eine Forschungstendenz ab, mit unterschiedli- chen methodischen Ansätzen neue Deutungszugänge zum Roman zu eröff- nen. Soziokulturelle, ideengeschichtliche, mythologische, intertextuelle, psy- choanalytische, ikonographische, aber auch diskursanalytische Studien haben - verschränkt mit thematischen Akzentverschiebungen - beachtliche Ergeb- nisse vorgelegt. Gleichwohl stellt der so häufig interpretierte Roman immer noch eine Herausforderung für Goethe-Philologen dar. Die prinzipielle Unabschließbarkeit der Deutungen, welche die >Lehrjahre< zu einer Art Experimentierfeld ambitionierter Interpreten macht, ist vom Roman selbst intendiert. Zwar scheint er angesichts seiner eingängigen Handlung auf den ersten Blick im Horizont der Allgemeinverständlichkeit zu operieren - die- sen Eindruck vermittelt schon ein kursorischer Vergleich der >Lehrjahre< mit 1 Die Bezeichnung >Bildungsroman< wird erstmals von Karl Morgenstern um 1820 den »Lehrjah- ren« zugewiesen. Zu einem literarhistorischen Gattungsbegriff etabliert sie Wilhelm Dilthey, der die grundlegende Handlungsstruktur des Bildungsromans in der Darstellung eines jungen Mannes sieht, »wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten See- len sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.« W. Dilthey: Das Erlebnis und die Dich- tung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 327. Zur Begriffs- geschichte des >Bildungsromans< siehe Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Gei- stesgeschichte 35 (1961), S. 44—63; Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Unter- suchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 9—23; Rolf Selbmann (Hrsg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Darmstadt 1988. I anderen Werken des Weimarer Dichters wie den >Wahlverwandtschaften, dem >Faust II< und vor allem >Wilhelm Meisters Wanderjahren<. Doch trotz all der von einer interessanten Geschehensvielfalt hervorgerufenen Offensichtlichkeit als Sozialisationsgeschichte, in der ein junger Mann sich augenscheinlich vom Theaterenthusiasten zum fürsorglichen Vater wandelt, gibt es eine Bedeutsam- keit, die den planen Handlungsverlauf übersteigt; darauf verweist auch eine Äußerung des alten Goethe, der 1825 in einem Gespräch mit Eckermann auf sein drei Jahrzehnte zuvor verfaßtes Werk zurückblickt. Den anscheinenden Geringfügigkeiten des Wilhelm Meister liegt immer etwas Höhe- res zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkenntnis und Ubersicht genug besitze, um im Kleinen das Größere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genügen.2 Goethes Versprechen eines höheren Sinns, das auf seine Konzeption einer sym- bolischen Poesie3 anspielt, ist allerdings nicht primär gegenstands-, sondern adressatenbezogen: Das im fiktional dargestellten Leben konservierte Sinnpo- tential läßt sich nur von Lesern aktualisieren, die aufgrund ihrer »Augen, Welt- erkenntnis und Ubersicht« in der Lage sind, aus scheinbar Geringfügigem auf höhere Bedeutungszusammenhänge zu schließen. Die Kluft zwischen oberflächlichen und profunden Textverständnissen war bereits in der Entstehungszeit des Romans Thema einer kontroversen Diskus- sion zwischen Goethe und Schiller. In einem Brief an Goethe vom 8. Juli 1796 äußert Schiller den Wunsch, daß »die Beziehung aller einzelnen Glieder des Romans auf jenen philosophischen Begriff [d.i. den der >Lehrjahre< und der >Meisterschaft<] noch etwas klärer gemacht würde«.4 Aus Schillers Sicht ist es Goethe nicht hinreichend gelungen, aufzuzeigen, wie die einzelnen Teile des Romans bezüglich der vom Romantitel vorgegebenen Grundidee miteinander zusammenhängen. Auf Schillers Kritik, daß man bei der Fülle der einzelnen Zähler (sprich: Handlungselemente) den diesen zugrundeliegenden gemein- samen Nenner (sprich: philosophische Idee) nicht erkennen könne, antwortet Goethe zunächst mit dem gespielten Gestus der Bescheidenheit und gesteht den »Fehler« ein. Dann aber begründet er den vermeintlichen Mangel mit einem Hinweis auf seine eigene Person. Dabei bedient er sich einer >uneigent- lichen Sprachen um sein Dichtungsverfahren zu profilieren, ohne den freund- lichen Ratgeber in Verlegenheit zu bringen: 2 Eckermann: Gespräche mit Goethe (FA 39, S. 165). 3 Goethes bekannte Bestimmung der allegorischen und der symbolischen Poesie in den Maxi- men und Reflexionen* lautet: »Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemei- nen das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.« (FA 13, S. 368) 4 Schiller: Briefe 1795-1805 (SFA 12, S. 195). 2 Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlun- gen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gerne incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wäh- len, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten, den unbedeuten- dem Gegenstand, oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigne Erscheinung stellen.5 Mit dem Verweis auf seinen »realistischen Tic« erklärt Goethe, daß der von Schiller beanstandete Mangel nicht etwa auf ein Versehen, sondern auf seine überlegte Absicht und letztlich auf seine poetologische Grundkonzeption zurückzuführen ist. Was der sog. »realistische Tic« impliziert, kann in zwei- erlei Hinsicht erörtert werden: Zum einen setzt Goethe das realistische Dar- stellungsverfahren, wie er es versteht, einem eher >idealistisch< geprägten ent- gegen, das dem alternativen Konzept von Schiller entsprochen hätte; er legt dabei nahe, daß sich die Wirklichkeit des Lebens, wie er sie an der fiktionalen Biographie eines Wilhelm Meister exemplarisch reflektiert, nicht ohne weiteres unter philosophischen Begriffen fassen läßt. Denn die Wirklichkeit, und sei sie auch nur eine literarisch generierte oder reflektierte, sperrt sich aufgrund ihrer Komplexität gegen schlichte Subsumierung unter philosophische Begriffe und gegen eine Darstellung, in der »das Besondere nur als Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt«6 — so Goethes Verdikt gegen die allegorische Dichtung. Die >Lehrjahre< dürfen in ihrer Konzeption also nicht als bloße Instantiierung philosophischer Begriffe verstanden werden. Indem Goethe der Wirklichkeit in ihrer heterogenen, zufälligen und widersprüchlichen Konstitution gerecht zu werden sucht, entspricht er weniger dem vorgegebenen Verständnisrahmen derjenigen, die Wirklichkeit als durch Ideen geprägt begreifen. Das durch Goe- thes »realistischen Tic« erzeugte Verständnisproblem verunsichert also Leser, die dem Rationalismus begrifflicher Wirklichkeitsfixierung folgen. Verstärkt wird diese Irritation zum anderen durch den Umstand, daß der Romanautor bewußt die Unbestimmtheit zwischen Offenkundigem und Ver- borgenem inszeniert. Wie in Goethes späterer Äußerung gegenüber Ecker- mann, so erhebt er schon in seiner früheren gegenüber Schiller die Sein- Schein-Dichotomie zum grundlegenden Darstellungsprinzip der >Lehrjahre<. Die Unterscheidung zwischen den »anscheinenden Geringfügigkeiten« des Romans und dem in ihm angelegten »Höhere [n]« veranschaulicht er im Bild: Goethe vergleicht seinen Roman mit sich als einem anonymen Reisenden, der sich an der Differenz zwischen seiner Person und seiner äußeren Erscheinung ergötzt: Er inszeniert sich als eine Erscheinung, geringer als er in Wirklich- keit ist. Überträgt man dies Bild auf das Verhältnis der >Lehrjahre< zu ihrem 5 Goethe: Mit Schiller I. Briefe, Tagebücher, Gespräche 1794-1799 (FA 31, S. 208). 6 Goethe: Maximen und Reflexionen! (FA 13, S. 368). 3 Leser, so bedeutet dies, daß Goethe den Interpreten mit Hilfe der in seinem Roman bewußt eingesetzten Täuschungsmanöver einen großen Deutungs- spielraum eröffnet. Er schickt sie auf die Suche, hinter der Darstellung des augenscheinlich Unbedeutenden einen bedeutenden Sinn zu finden. Wie der Reisende angesichts der »Fremden oder Halbbekannten« hinter seiner äuße- ren Erscheinung seine wahre Person versteckt, so verbirgt Goethe in analoger Weise hinter dem oberflächlichen Anschein des Romans — mit Blick auf den impliziten Leser - dessen >eigentlichen< Gehalt. Die Irritation des Lesers, der sich in seinem Erkenntnisstreben auf das Begriffliche oder das Offenkundige ausrichtet, beides aber nicht durch Reflexion zu vermitteln weiß, ist daher nichts anderes als die notwendige Wirkung, die ein Roman hervorrufen muß, in dem die Dialektik von Sinnverhüllung und Sinnverheißung als Konstruk- tionsprinzip strukturell angelegt ist. Auf raffinierte Weise bringt Goethe seinem Kritiker bei, daß das schein- bar Fehlerhafte gerade seine eigene Wirkungsintention reflektiert. Die >Lehr- jahre< sollen den Leser stutzig werden lassen und seine — mit Kant zu sprechen - reflektierende Urteilskraft stimulieren. Schiller hat offensichtlich Goethes ironischen Hinweis auf seinen »realistischen Tic« verstanden und reagiert vol- ler Verständnis dafür, daß im Roman nicht begrifflich ausgesagt werden darf, was dieser an ideellem Gehalt enthält: Dem Inhalte nach, muß in dem Werk alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und, der Form nach, muß es nothwendig darinn liegen, der innere Zusammen- hang muß es mit sich bringen — aber wie fest oder locker es zusammenhängen soll, darüber muß Ihre eigenste Natur entscheiden. Dem Leser würde es freilich beque- mer seyn, wenn Sie selbst ihm die Momente worauf es ankommt blank und baar zuzählten, daß er sie nur in Empfang zu nehmen brauchte; sicherlich aber hält es ihn bey dem Buche fester, und führt ihn öfter zu demselben zurück, wenn er sich selber helfen muß. Haben Sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freye, nur nicht willkühr- liche Production des Lesers seyn, es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Theil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet.7 Mit dieser Äußerung nimmt Schiller seinen früheren Einwand hinsichtlich der vom Roman provozierten Verständnisprobleme zurück, zumal Goethe dem Kritiker ja auf subtile Weise zu verstehen zu gegeben hat, daß dieser gerade aufgrund seines Wunsches nach begrifflicher Eindeutigkeit an der Enthüllung der bewußt verhüllten >Botschaft< des Romans gescheitert ist. Jetzt deutet Schil- ler das Verständnisproblem ins Positive um und begreift es als eine Heraus- forderung fur den zu einem souveränen Verständnis zu motivierenden Leser. Schließlich rühmt er sogar das im Roman angewandte Verschlüsselungsverfah- 7 Schiller: Briefe 1795-1805 (SFA 12, S. 196f.). 4

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