Christoph G. Paulus Der Prozess Jesu – aus römisch-rechtlicher Perspektive Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin | Heft 194 Christoph G. Paulus Der Prozess Jesu – aus römisch-rechtlicher Perspektive | Prof. Dr. Christoph G. Paulus Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität Berlin ISBN 978-3-11-047938-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047983-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047943-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibli- ografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com Inhalt I. Die Bibel als historische Quelle 1 . Historische Informationen 2 . Rechtshistorische Informationen 4 II. Das Umfeld des Prozesses 6 . Pilatus 6 . Messiaserwartung in Jerusalem 8 . Zwischenresultat 11 III. Der Prozess 12 . Die vier Berichte 12 . Gerichtssprache 17 . Kompetenzfragen 19 . Verfahrensleitung 23 . Jesus als Geständiger? 24 IV. Ergebnis 35 I. Die Bibel als historische Quelle DieBibelalseinhistorischesAuskunftsmittelfürspezifischrechtlicheFragenzu nutzen, ist ein Wagnis, das wenigstens einiger einleitender Worte der Rechtfer- tigungbedarf.ZunächsteinmalistabermitallemNachdruckdaraufzuverweisen, dassesindennachfolgendenAusführungennichtumeinereligiös-theologische Aussagegeht.Glaubensfragenbleibenexplizitunbeantwortet;zumindestistdas dieAbsichtdesVerfassersdieserZeilen. Gleichwohl bleibt das Wagnis, dass dann, wenn man die Bibel dazu her- nimmt,um an sie rechtshistorische Fragen zu stellen, man sich an ein Medium wendet,dasdaraufansichgarkeineAntwortenliefernwill.Denndieeigentlichen Intentionen der Verfasser sind auf ganz andere Dinge als eine akkurate Infor- mation der nachfolgenden Epochen über Fakten und Geschehensverläufe ge- richtet.InfolgedessenmussmanalsFragender,wennmansichdennschonnicht vonvornhereinzurückhaltenwill,zumindestvorsichtigseinundsichvorAugen führen,inwelcheFallenmandabeitappenkann. Gemessen an der Knappheit des hier zu untersuchenden Texts – also der BerichtvornehmlichdesMarkusvongerademalfünfVersen,15.1–5(beiMatthäus sind es sogar nur vier, 27.11–14),bestehtdie immense Gefahr,dass kleinste Ab- weichungenzuimmergrößerwerdendenMissverständnissenundMissdeutungen führen können. Dies umso mehr, als beispielsweise Egon Friedell in seiner mo- numentalen„KulturgeschichtederNeuzeit“gleicheinleitendinbeeindruckender Manier aufgezeigt hat, dass die Rekonstruktion des Vergangenen – wie es also „wirklichgewesenist“–unmöglichist.¹DieselberesignierendeAussagehaterst kürzlichJuliaKüppersinihrerDissertationpräzisenachgewiesen–dabeigarauf eineFragestellungrekurrierend,zuderessogarauchheutenochZeitzeugengibt.² Umso vermessener ist es also, sich einen Text von vor 2000 Jahren vorzu- nehmen und ihn daraufhin zu untersuchen, ob bzw.was sich in dem Beschrie- benen an römisch-rechtlichen Anhaltspunkten finden lässt. Markus hatte wie auchseinedrei,diekanonischenEvangelienverfassendenMitautorendieAbsicht, einenTextzuschreiben,derWirkenundWunderdesMessias,desSohnesGottes auf Erden, festhalten sollte. Auch wenn die Evangelien das Leben Jesu in bio- graphischer Gestalt präsentieren, beabsichtigen sie doch mit ihren Werken in allererster Linie, die ihnen vorschwebende Glaubensaussage zu vermitteln. Da- gegenkommtesihnenbeimSchreibennichtdaraufan,einlexikalischabrufbares EgonFriedell,KulturgeschichtederNeuzeit,Sonderausgabe,S.–. Küppers,DiewahreWahrheitüberdieBodenreform–TheoretischeBetrachtungenrechtsge- schichtswissenschaftlicherPraxis,. 2 I. DieBibelalshistorischeQuelle Register, gleichsam ein Curriculum Vitae, der einzelnen Lebensetappen Jesu zu erstellen. Steinwenter betont daher zu Recht, dass die Evangelien keine Proto- kollliteratur sind,³ d.h.der Evangelist bezweckt mit seiner Schrift primär etwas anderesalsdieexakteDarstellungdeshistorischenAblaufs. Als weitere Schwierigkeit kommt zu dieser zweckorientierten Darstellungs- weise der Autoren noch hinzu,dass diese Texte eine welthistorisch einzigartige Wirkungsgeschichte vorzuweisen haben. Seit buchstäblich zwei Jahrtausenden haben sich die Evangelien in die Bewusstseinsgehalte praktisch der gesamten westlichen Welteingeprägt, so dass zusätzlich zu der Tendenzberichterstattung der Evangelisten sich noch die theologische Tendenzinterpretation⁴ von Millen- niengeselltunddieTextemiteinerBedeutungsfülleanreichert,diedieSpuren- suchenachdenFaktennocheinmalumEinigeserschwert.UmnureinBeispielaus demnachfolgendbehandeltenTextzunennen:WersichdenBerichtdesMarkus durchliest,findetdortnichtdengeringstenAnhaltspunktfürdasallseitsberühmte Händewaschen des Pilatus; das bringt erst Matthäus (27.24), in abgewandelter Form und ausführlicher dann auch Lukas (23.13) und Johannes (19.4).Unddoch schwingtdiesesWissenvonderangeblichenAussagedesrömischenPräfektenbei jedemGesprächüberdiesenTeilderLeidensgeschichteJesumit–obwirwollen odernicht.Umsoschwereristesdann,denTextdesMarkussozunehmen,wieer nuneinmaldasteht. 1. Historische Informationen NatürlichsinddiehierbeschriebenenProblemekeineBesonderheitengeradenur der Bibel. Zu weiten Teilen ist zumindest die ältere, ganz besonders die antike Geschichteangewiesen auf literarische Darstellungen, fürdie mutatis mutandis dieselbenSchwierigkeitenbestehen.NiemandemderantikenAutorenkannauch nuransatzweiseuntergeschobenwerden,dasserseineTexte–undseiensievom Steinwenter,Rez.vonBlinzler,DerProzeßJesu,.Aufl.,Rivistainternazionaledidirittoromano eantico(IURA),,S.;s.auchMarxen,DasNeueTestamentalsBuchderKirche,, S.ff. Soetwaskannnatürlichauchunbeabsichtigterfolgen–mitderFolge,dassmöglicherweiseso mancherBerichtüberChristenverfolgungen(etwadervonEuseb,E.H.V..ff.)diewahrenUr- sachendieserVerfolgungenverkennt;derBedarfnachOpfernfürdieimganzenReichstattfin- dendeSpieleundTheateraufführungen(höchsteindrucksvollhierzunachwievorFellinisVer- filmungdesSatyrikonvonPetronius)mussimmensgewesensein,vgl.Paulus,Rez.vonHopkins, DeathandRenewal,,ZRG,rom.Abt.,,S.,f. 1. HistorischeInformationen 3 Autor auch noch so als authentisch deklariert⁵ – mit der Ahnung geschrieben habe,dempräzisenInformationsbedürfnismodernenWissenschaftsbetriebsGe- nügetunzuwollen.DieSprachwissenschafthatunsüberdiesdafürhinreichend empfindsamgemacht,dassjederBerichtsubjektivangereichertist. Und doch ist es legitim, sich unbeschadet dieses äußerst schwankenden Bodensaufihmbewegenzuwollen.WieimmerdieArcheNoahausgesehenhaben mag,TsunamishatesvielfachinderWeltgeschichtegegeben.Folglichisteszu- lässig,dieBibeldaraufhinzuuntersuchen,obsienichtvielleichteinenvonihnen in dieser Geschichte thematisiert. Genauso gerechtfertigt ist es dann auch, mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen,was es denn mit derTeilungdesRotenMeeresaufsichhabenmag,diedieletzteRettungfürMoses unddasvonihmgeführteVolkIsraelvorderVerfolgungdesägyptischenHeeres gewesenist.Nichtminder legitimistes,dieGeschichteJosephs in Ägyptendar- aufhin zu überprüfen, ob sie mit der monotheistischen Ausrichtung der be- rühmtenEl-Amarna-ZeitdesPharaoAch-en-aton(Echnaton)inÜbereinstimmung gebrachtwerdenkann.UndausdemNeuenTestamentmagalsBeleggenügen,die alleinschongeographischenormeReisespannedesApostelPaulusalsBelegfür die Effizienz der römischen Herrschaftsmacht – und hier insbesondere der Pax Augusta–zunehmen. MankanndieseFragestellungennichtnurbeliebigerweitern,mankannsie auch noch feiner einstellen, indem man sich etwa bei der Frage nach den da- maligenOpferritualendieallbekannteSzenederJonas-Geschichteansieht,bevor ervomWalfischaufgefangenundanLandgebrachtwird.AufderFluchtvorGottes Auftrag,alsProphetzuwirken,versuchter,aufdemSchiffeinigerFischerüberdas Meerzufliehen.Erweißsofort,was„Sache“ist,alseinheftigerSturmausbricht und wendet sich an Bord reumütig zu den verängstigten Fischern und enthüllt ihnen, dass er die Schuld an diesem Unwetter trage. Um Gott zu besänftigen, müsse er zurück. Das freilich tut er nicht etwa, indem er selbst überdie Reling springtunddamitdieDingeklärt;nein–ersagtzudenFischern,dasssieihnüber Bord werfen sollen. Sie tun das und verschwinden damit aus der weiteren Ge- schichte.Unser heutiges psychologisches Empfinden provoziert aber die Frage, wasdennJonasmotivierthabenmag,denanderendieTötungshandlungaufzu- bürden. EinspannenderBeleghierfüristderberühmteBriefdesjüngerenPlinius,indemerseinem Onkel, Plinius dem Älteren, ein Monument reinen Forschergeistes errichtet, das die Nachwelt nahezudurchgängigsoakzeptierthat.InderDekonstruktiondiesesBriefesdurchUmbertoEco erweistsichdieser„Forscher“jedochalseinsehrnaiverundgeradezuignoranterTölpel;vgl. UmbertoEco,ÜberSpiegelundanderePhänomene,,S.ff. 4 I. DieBibelalshistorischeQuelle Meine Antwort darauf ist, dass es bei einem Opfer für Gott nicht angeht, gleichsamalsFreiwilligervorzutretenundsichselbstdarzubieten;dasgehtver- mutlich erst seit dem Protestantismus. Dem rituellen Duktus einer Opferung entsprichtesvielmehr,dassdasbzw.derzuOpferndeGottdargereichtwird.Und dafürsinddieHändeanderererforderlich.MeinLehrerDavidDaubesiehtdem- gegenüberdieseSzenealseinenBelegfürdieVerpöntheitvonSelbstmordinder Antike.⁶WasauchimmerhierdierichtigeInterpretationist,diemitvollkommen andererMotivationgeschriebeneGeschichtegibtzumindestFingerzeigefürFra- gestellungen,diedenmodernenHistorikerzumForscheneinladen. 2. Rechtshistorische Informationen Nichtvielandersverhältessich,wennmanmitspezifischerenrechtshistorischen FragenandieBibelherantritt.Vielleichthatmaneshiersogareinfacheralsdort. Denn die jüdische Tradition, in der die Evangelisten groß geworden sind,⁷ be- inhaltete,dassdieGlaubenslehrepraktischidentischmitderRechtslehreist.Und das Alte Testament ist ein Buch des Rechts, wie bekanntlich allein schon das GesamtwerkderfünfBücherMosediejüdischeTorahausmacht.⁸ Aus der Apostelgeschichte (22.23) erfahren wir, dass der Apostel Paulus in Jerusalem(wiedereinmal)einenAufruhrbeidenLeutenausgelösthat,indessen weiteren Verlauf er wiederholt geschlagen werden soll und schließlichvor dem römischenOberstlandet.⁹DemstellterdieberühmteFrage,obesihmerlaubtsei, einen römischen Bürger zu schlagen. Eine rhetorische Frage, weil dies ohne vorherigen rechtgültigen Bescheid auf Grund der provocatio ad populumgerade untersagtwar.DiesgehörtezudenPrivilegien,dieesgeradeinjenerZeitfürdie Daube,Jonah:AReminiscence,J.ofJewishStudies,,hierzitiertnach:BiblicalLawand Literature,CollectedWorksofDavidDaube,hrsgg.vonCarmichael,Vol.,S.,Fn.. Eindrucksvoll dazu Daube, Das Alte Testament im Neuen: aus jüdischer Sicht, Xenia (Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen) , S. ff.: s. auch Gunneweg,Vom VerstehendesAltenTestaments,,passim.SpeziellzudemVerleugnungsberichtdesPetrus beiMarkus,.ff.,Daube,LimitationsonSelf-SacrificeinJewishLawandTradition,Theology ,,S.,. ZumGanzenCarmichael,TheSpiritofBiblicalLaw,;Otto,RechtimantikenIsrael,in: Manthe (Hrsg.) Die Rechtskulturen der Antike, , S. , ff. S. auch die einleitenden BemerkungenvonNörr,DieEvangeliendesNeuenTestamentsunddiesogenanntehellenistische Rechtskoine,in:Historiaeiurisantiqui(=ges.Schriften)Bd.,,S.f.;Ders.,CivilLawin theGospels,ebd.(H.i.a.)S.ff. EineanschaulicheBeschreibungderSzenefindetsichetwabeiBradford,DieReisendesPaulus, ,S.f.,oderauchbeiPrinz,DerersteChrist,,S.ff.