DER MENSCHENSOHN IN DEN BILDERREDEN DES HENOCH VON NILS MESSEL DR. THEOL., KRISTIANIA VERLAG VON ALFRED TÖPELMANN IN GIESSEN 1922 BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DIE ALT.TESTAMENTLICHE WISSENSCHAFT 35 Alle. Rechte. insbesondere das Recht der Übersetzung, vorbehalten COPYRIGHT 1922 BY ALFRED TÖPELMANN Herr Professor D. Karl Marti hat die Güte gehabt, mein Manuskript und die erste Korrektur durchzusehen, um sprach- liche Fehler zu beseitigen. Ein hiesiges Universitäts-Fond („Universitetets Jubilseums- fond av 1911") hat mir zur Bestreitung eines Teiles der Druck- kosten einen Beitrag bewilligt. Für diese Hilfe bringe ich hier meinen ergebenen Dank. Kristiania, Dezember 1921. N. Messel. Inhaltsverzeichnis. Seite Einleitung . i—2 1. Kapitel: In welcher Ausdehnung sind die Bezeich- nungen „Der Merischensohn", „Der Auserwählte", „Der Gerechte", „Der Gesalbte" in den Bilder- reden ursprünglich? 3—32 § 1. Die Bezeichnung „der Menschensohn' ist nur in Kap. 46aff. 48s ursprünglich, an den übrigen Stellen erst von äthio- pischer Hand in den Text eingetragen 3 § 2. Exegetische Untersuchung der „Menschensohn"-Stellen der Kap. 62 und 63 9 § 3. Die Stellen der Kap. 69—71, die den Ausdruck „Menschen- sohn" (oder 7 Mannessohn") enthalten 15 § 4. Die Bezeichnung „der Auserwählte" ist vor Kap. 46 unecht 18 §5. Die Bezeichnung „der Gerechte" ist unecht 28 § 6. Die Bezeichnung „mein Gesalbter" ist unecht . . .. 31 2. Kapitel: Begründung der Deutungdes „Auserwählten" (des „Menschensohnes") als einer Personifikation des jüdischen Volks 33—70 § 7. Überblick über die Aussagen über den Auserwählten . . 33 § 8. Die gemeinsame Bezeichnung 34 § 9. Die Gleichheit der Aussagen, die über den Auserwählten und über das Volk gemacht werden 85 § 10. Es fehlen im Bilde des Auserwählten die für einen Messias und im Besonderen die für ein himmlisches Wesen charakteristischen Züge 39 §11. Die grundlegende Erklärung über den Menschensohn in Kap. 46. — Die ihm hier beigelegte Gerechtigkeit . . 43 § 12. Die Präexistenz des Menschen sohnes (48a-«) 49 § 13. Die Verborgenheit und das Offenbarwerden des Auserwählten. Das „Erscheinen" des Auserwählten und der Gemeinde . 55 § 14. Das „Aufstehen" („Sich Erheben") der Gemeinde und des Auserwählten 62 § 15. „Der Auserwählte wird den Azazel und seine Scharen richten" 66 § 16. Der Wechsel zwischen der Personifikation („der Aus- erwählte") und den pluralischen Bezeichnungen des Volkes 68 § 17. Zusammenfassung 69 Anhang I: Die Verborgenheit des Messias (bei Justin, 4 Esra und Evang Joh) 71—76 Anhang II: Über den Messias der Esra-Apokalypse 76—78 Anhang III: Die Abfassungszeit der Bilderreden . 78—85 Verzeichnis der Textkorrekturen 85—86 Stellenregister .87 Einleitung. Seit dem Bekanntwerden des Henochbuches hat man es immer als selbstverständlich angenommen, daß die in den Bilderreden auftretende Gestalt des Menschensohnes oder des Auserwählten eine wirkliche Einzelpersönlichkeit, nämlich der sogenannte Messias, sei, und zwar haben jedenfalls die Meisten gemeint, der Messias sei hier als eine himmlische, real prä- existierende Person vorgestellt. Den Vorbehalt, den DILLMANN dieser letzteren Annahme gegenüber äußerte1), scheint man vergessen zu haben. Es ist m. W. nie die Frage aufgeworfen, ob nicht die Gestalt des Menschensohnes vielleicht auch hier, wie bei Daniel, von dem der Verfasser der Bilderreden sie ge- nommen hat, eine Personifikation des jüdischen Volkes wäre, so daß man die Stellen, die jetzt von einem persönlichen Messias zu handeln scheinen, als verderbt, bearbeitet oder falsch übersetzt anzusehen hätte. Bekanntlich hat der äthiopische Übersetzer in 11—32« „etwa ein Fünftel seiner griechischen Vorlage falsch oder ungenau wiedergegeben" (BEER). Der Entstellung oder Bearbeitung waren die Bilderreden besonders ausgesetzt, weil die christliche Kirche den Menschensohn natürlich sehr leicht in individuellem Sinne verstand. — Schon längst habe ich mich von der Unrichtigkeit der individuellen Deutung des Menschensohnes überzeugt. Was zuerst meine Aufmerksamkeit auf diese Frage lenkte, war der Umstand, daß der Menschensohn der Bilderreden so wenig individuelle Züge aufweist. Das fiel mir vielleicht deswegen um so eher auf, weil ich mich eben mit dem sehr scharf umrissenen „Davids- sohn" des 17. Salomopsalms beschäftigt hatte"). Der Menschen- sohn der Bilderreden unterscheidet sich, was die entscheidenden Stellen angeht, unmerklich von der Gemeinde der Gerechten, selbst den Namen („der Auserwählte") hat er mit ihnen ge- >) Das Buch Henoch. 1856. S. XXIV. 160. 5) S. Norsk teologisk Tidsskriit 1909, S. 105 ff. Beihefte z. ZAW 85. 1 2 Einleitung. meinsam. Die Stellen, die für seinen individuellen Charakter sprechen, sind zudem merkwürdig, alleinstehend, oder von einer leicht nachweisbaren Unechtheit. Die Gemeinschaft der Gerechten, die der Menschensohn personifiziert, ist die Volksgemeinschaft selbst, nicht eine engere, sich selbst vom Volk unterscheidende Gemeinde. Sie nennt sich zwar „die Gemeinde der Gerechten (Heiligen, Auserwählten)" 881 53» (s. u.) 62s, und gewöhnlich „die Gerechten, Heiligen, Auserwähltfen"; „Israel" oder „Volk" kommt nicht vor. Darauf kommt es aber nicht an. Die Beziehungen sollen die religiöse und sittliche Art des Volkes hervorheben. Den Heiden gegen- über, die hier die Gegner der Frommen sind, fühlen die Ge- rechten sich als Volk, als das Volk Gottes. Mochte das Volk auch unwürdige Glieder umfassen, es war dennoch das aus- erwählte, heilige und gerechte Volk. Ebenso Dan. 7„: „das Volk der Heiligen des Höchsten". Über die Handschriften sei folgendes bemerkt1): Von den 28 Hss. vertreten 5 (GMQTU == Gruppe I) einen alteren und gewöhnlich besseren Texttypus. Einen späteren, von den äthiopischen Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts revidierten und gewöhnlich verschlechterten Text bieten die übrigen Hss. •(= Gr. II), von denen N die beste ist. Jedoch ist es selten, daß Gr. I als ganzes einen von II verschiedenen Text vertritt. Die aufzunehmende Lesart findet sich oft nur in einer einzigen Hs. oder in einigen Hss. der Gr. I (denen dann Gr. II oder eine Untergruppe derselben oft beitritt). Bisweilen hat auch Gr. II gegen Gr. I die richtige Lesart bewahrt. In Kap. 1—82, wo wir neben dem äthiopischen auch den griechischen Text besitzen, zählt CHARLES 17 solche Lesarten, die nicht zufällig sein können, auf. Es folgt hieraus, daß in zweifelhaften Fällen die inneren Gründe großes Gewicht erhalten. J) Nach E. H. CHARLES, The Ethiopic Version of the Book of Enoch, Oxford 1906 (= Anecdota Oxoniensia, Semitic Series Part XI) p. XXIs. — Ich zitiere dies Werk als: CHARLES 1906. 1. Kapitel. In welcher Ausdehnung sind die Bezeichnungen „Der Menschensohn", „Der Auserwählte", „Der Gerechte", „Der Gesalbte" in den Bilderreden ursprünglich? §1. Die Bezeichnung „der Menschensohn" ist nur in Kap. 462ff. 482 ursprünglich, an den übrigen Stellen erst von äthiopischer Hand in den Text eingetragen. Nachdem der Menschensohn in Kap. 46 eingeführt ist, wird nur noch 48 a mit derselben Bezeichnung auf ihn zurück- gewiesen. Dann aber verschwindet dieser Name und bleibt auf einer weiten Strecke weg; es heißt jetzt vielmehr immer „der Auserwählte" (49. 51 52«» 53« 55 61 o 62i). SB 4 68l Gegen den Schluß der Schrift taucht aber der Name „Menschen- sohn" wieder auf: 62 1»t* 63 n [69 9« >7 28 70, 71.4 11]'). — 5 Daß die Kap. 46 eingeführte Gestalt weiterhin als der „Aus- erwählte" bezeichnet werden soll, bereitet der Verfasser in 46* durch die Aussage vor, daß Gott den Menschensohn auserwählt habe. Wenn er nun aber viele Kapitel hindurch immer „der Auserwählte" sagt, muß es sehr auffallen, daß er in den letzten paar Kapiteln, von 62 an, plötzlich jene andere Bezeichnung 5 vorzieht. Es liegt hierzu kein sachlicher Grund vor. Der Wechsel ist willkürlich. Diese Erscheinung ist um so auf- fallender, als das Wort „Menschensohn" wegen seiner Be- deutung sehr wenig geeignet war, als Bezeichnung einer be- stimmten Person gebraucht zu werden. Denn daß dies Wort nur „Mensch" bedeutet, ist sicher, wenn auch seine Form in der Muttersprache des Verfassers vielleicht keine alltägliche, sondern nur eine poetische gewesen ist. Als poetische Form würde der Ausdruck „der Menschensohn" mit der gehobenen ') Die eingeklammerten Stellen gehören den Bilderreden nicht an; b n. § 3. 1* 4 1. Kapitel § 1. Sprache der Apokalypse überhaupt aufs Beste zusammenklingen und also nur in seiner gewöhnlichen Bedeutung „Mensch" auf- gefaßt werden'). Das gewöhnlich beigefügte Demonstrativum („jener Menschensohn") kann sehr gut äthiopische Wieder- gabe des griechischen Artikels sein (s. GHABLES 1912 zu 46s)*). Es ist begreiflich, daß der auffallende Wechsel der Be- zeichnungen die Vermutung einer Quellenmischung hervor- gerufen hat. Die Hypothese von einer solchen wurde zuerst von BEER3) angedeutet, dann von APPEL4) und CHARLES 1912 ausgearbeitet. Diese Lösung ist indessen zu verwerfen. Die „Menschensohn"-Stiicke Kap. 46 62 63 sind den Stücken der vermuteten anderen Quelle so verwandt, daß nur starke Gründe eine Verschiedenheit des Ursprungs beweisen könnten. Solche liegen aber nicht vor. Der Unterschied der Bezeichnungen des angelus interpres — dies das zweite Indizium der Komposition — ist ganz unbedeutend (s. u. § 6), und das Auftreten der Be- zeichnung „Menschensohn" in Kap. 62ff. läßt sich in anderer Weise einfach erklären. Die Erklärung davon ist, daß die Bezeichnung „der Menschensohn " an sämtlichen Stellen von 62 an dem ur- B sprünglichen Text der Bilderreden nicht gehört. Diese Stellen zerfallen in zwei Gruppen: a) die in Kap. 62f.; b) die in 69.6—71i7. In Kap. 62 und 63 ist „der Mensch ensohnx durch fremde, und zwar natürlich christliche, Hand in den echten Text der Bilderreden eingetragen worden. Kap. 69 A«— 71 IT dagegen gehören den Bilderreden überhaupt nicht an (diese schließen vielmehr mit 63m), sondern bilden verschiedene An- 1) Anders liegt die Sache, wenn eine poetische Form in der prosaischen Sprache des Alltagslehens auftritt. Da erregt sie Aufmerksamkeit. Des- halb ist „der Menschensohn" — wenn dies eine poetische Form ist — im Munde Jesu oder vielmehr der Evangelisten als Messiasbezeichnung möglich. 2) CHARLES 1912 = R. H. CHARLES, The Book of Enoch translated usw. Oxford 1912. In der großen englischen Übersetzung der Apokryphen und Pseudepigraphen hat CHARLES den äth. Henoch übersetzt und erklärt. Das ist eine etwas verkürzte Wiederholung des Werkes von 1912. s) Bei KAUTZSCH, Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testament». 1900. II 227. *) Die Komposition des äthiop. Henochbuches (Beiträge z. Forderung christl. Theologie X 3. 1906). 1. Kapitel § 1. 5 hänge dazu; im Text dieser Anhänge kann „der Menschen- sohn" ursprünglich sein. Die hier gegebene Auffassung unterscheidet sich in Prä- missen und Konklusion von der früher nicht seltenen, jetzt ziemlich allgemein verlassenen Anschauung von der christ- lichen Herkunft der Bilderreden überhaupt, oder doch der „messianischen" Stellen oder wenigstens der „Menschensohn- Stellen". Ich gehe nicht von Realien, sondern von Formalien aus. Ich behaupte also nicht zum Voraus, daß die Anschauung der Bilderreden vom vermeintlichen Messias unjüdisch sei, und ich folgere deshalb auch nicht, daß die Gestalt des Menschen- sohnes oder des Auserwählten aus dem Christentum stamme. Im Gegenteil, sowohl „der Menschensohn" des Kap. 46 als „der Auserwählte" der folgenden Kapitel gehören den Bilderreden, einer echt jüdischen Apokalypse, an. Ich gehe vielmehr von der formalen Tatsache aus, daß die Bezeichnung „Menschen- sohn" von 62B an plötzlich und ohne inneren Grund auftaucht, und schließe daraus, daß diese Bezeichnung in diesen letzten Kapiteln (und nur in diesen) nicht ursprünglich sei. Dieser Schluß erhält nun eine unumstößliche Bestätigung durch die Beobachtung, daß die äthiopische Übersetzung ge- rade in Kap. 62—71 in der Wiedergabe des Ausdrucks „Menschen- sohn" von ihrer sonst zu beobachtenden sehr festen Gewohn- heit bedeutsam abweicht. Daß es sich hier nicht um Zufall handelt, wird gleich einleuchtend werden. Es finden sich in Hen. 37—71 drei verschiedene äthiopische Ausdrücke für „Menschensohn": 1. walda sabe' 46«-* 48*; 2. walda 'eguala 'emma-hejaw; 8 Stellen in Kap. 62—71; 3. walda be'esi (= „Sohn des Mannes")1) 626 69.» be 7.11*. 'Eguala 'emma-frejaw bedeutet wörtlich „Nachkommen der Mutter des Lebens" (d. h. nach der Eva). Sowohl DILI.MANN dieser Ausdruck als das Wort sabe' sind in der Bibel häufige Bezeichnungen für „Mensch" und „Menschen"f). Walda ') Die Variante walda be'esit (= „Sohn des Weibes") ist 62» durch 1( and die ganze Gr. II, in 69 2» e durch GN bezeugt. ®) Warum ist der schwerfällige Ausdruck 'eguala 'emma-hejaw in der Bibel bevorzugt worden (statt sabe')? Offenbar hat er der Umgangssprache 6 1. Kapitel § 1. eguala 'emma-hejaw ist die ausnahmslose Wiedergabe von ö uiös in den Evangelien, ebenso nach TOÜ DVD-PÜTTOU DILLMANNS Lexikon bei Hesekiel, in Dan 7m Ps 79i ; einigemal im A. T. S wird der Singular (6) uiös (TOÜ) ocvfrpiöTrou durch 'eguala 'emma- tjejaw (also ohne walda) ausgedrückt, und sehr oft der Plural (ol) ofoi durch dasselbe. Dagegen wird die Ver- (TÜV) DV^PTÄTTUV bindung walda sabe' in Lexikon nicht einmal ge- DILLMANNS nannt. Der Wechsel zwischen den als 1. und 2. bezeichneten Aus- drücken kann auf das Griechische nicht zurückgehen, und daß der griech. Text irgendwo ein ö uiös rou ävSpös geboten hätte, ist ganz unwahrscheinlich. Der Unterschied in der Ausdrucka- weise ist rein inner-äthiopisch. Wie ist er zu erklären? (zu 46») führt ihn auf eine Sorglosigkeit des Über- CHARLES setzers zurück; das läßt sich aber bei näherem Zusehen nicht annehmen. In der Wiedergabe von „Mensch" und „Menschen- sohn " schwankt der Übersetzer des Henoch nur in äußerst ge- ringem Maße. Ich gebe zunächst die Resultate für die 32 ersten Kapiteln, wo wir seine griechische Vorlage besitzen: 1. Für ol äv&ponroi setzt er 22 mal sabe*, 4 mal weluda sabe' (Plural von walda sabe'): 6« 12i 22. . 5 2. Für o! uioi TWV dv&pujrtov setzt er immer weluda sabe' (6, 10, Iii 15n). 3. Für äv&punos im Sing, setzt er be'esi (1 15i, beidemal 3 von einem bestimmten Menschen). 4. 'eguala 'emma-hejaw, walda 'eguala 'emma-tiejaw und walda be'esi kommen nicht vor. Hiermit stimmt die Übersetzungsweise im Rest des Henoch- buches genau überein: nicht angehört. Vielleicht war er schon in vorchristlicher Zeit in der dichterischen Sprache vorhanden; denkbar ist aber auch, daß er erst fiir die Übersetzung der Evangelien gebildet wurde (und von da in die später er- folgende Übersetzung des A. T. überging). Es ist schwer glaublich, daß die Evangelienübersetzer ihn allein um seiner Feierlichkeit willen bevorzugt hätten. Ich möchte vermuten, daß sabe' etymologisch dem hebr. iOH ent- T T spricht, was lautlich angeht (s. DILLMANNS Gram § 31), und für das äthiopische Sprachbewußtsein eigentlich die Männer bezeichnete. In diesem Falle wird das christliche Gefühl sich am Ausdruck walda sabe' für Jesus gestoßen und sich nach einer anderen Wiedergabe des uiös TOÜ äv&pcönou umgesehen haben