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Der Leuchtturm von Alexandria PDF

559 Pages·2016·1.59 MB·German
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In einer aufregenden Zeit des Umbruchs, am Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr., erlebt die junge Charis ein abenteuerliches Schicksal. Als Mann verkleidet macht sie Karriere als Arzt – mitten in den Wirren des untergehenden Römischen Reiches. Ein faszinierender historischer Roman. Der Untergang des Römischen Reiches ist unabwendbar, politische Wirren und Intrigen sind am Ende des 4. Jahrhun- derts nach Christus an der Tagesordnung. In dieser unruhigen Zeit wächst das Mädchen Charis in Ephesus auf. Charis scheint über geheimnisvolle, ja magische Fähigkeiten zu verfügen, die ihr Bewunderung ebenso wie Neid und Miß- trauen eintragen. Dabei ist es nicht Zauberei, sondern ihre fürsorgliche Liebe zur Kreatur, die ihr die wunderbare Kraft des Heilens und Pflegens verleiht. Das friedvolle Leben ihrer angesehenen Familie wird jäh zerstört, als der neue machtgie- rige Statthalter Festinus seine Aufmerksamkeit der zur Frau erblühenden Charis zuwendet. Sie entzieht sich seinen Nachstellungen durch eine tollkühne Flucht nach Alexandria – als Eunuch verkleidet. In dieser Maske gelingt ihr, was einer Frau im Römischen Reich versagt war: sie läßt sich in Alexandria, der damaligen Hochburg der Medizin, zur Heilkundigen ausbilden. Doch die neue Rolle bewirkt eine schicksalhafte Wende in ihrem Leben: Als Charon avanciert sie zum Militärarzt im wilden Thrazien. Wegen ihrer Heil- kunst wird sie von den Goten entführt – bis der Mann, den sie seit langem liebt, sie errettet und ihre wahre Identität erkennt. Ein hinreißend erzählter historischer Roman, der eine turbulente Epoche farbenprächtig und abenteuerlich spannend vergegenwärtigt. Gillian Bradshaw wurde in Falls Church, Virginia, geboren, wuchs auf in Chile und studierte englische Literatur- geschichte an den Universitäten von Michigan und Cambridge. Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Mit ihrer großartigen Trilogie um König Artus hat sich Gillian Bradshaw auch beim deutschen Leserpublikum einen Namen gemacht. Gillian Bradshaw Der Leuchtturm von Alexandria Roman Deutsch von Nils-Henning von Hugo EGON Verlag Düsseldorf • Wien • New York Die englische Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »The Beacon at Alexandria« bei Methuen London Ltd., London CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bradshaw, Gillian: Der Leuchtturm von Alexandria: Roman/Gillian Bradshaw. Dt. von Nils-Henning von Hugo. – 2. Aufl. – Düsseldorf; Wien; New York: EGON Verl., 1988 Einheitssacht.: The beacon at Alexandria ‹ dt. › ISBN 3-430-11496-9 2. Auflage 1988 Copyright © by EGON Verlag GmbH, Düsseldorf, Wien und New York Copyright © 1986 für die englische Originalausgabe »The Beacon at Alexandria« by Gillian Bradshaw Alle deutschen Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Aldus Buchschrift der Linotype AG Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm Printed in Germany ISBN 3-430-11496-9 Erster Teil EPHESUS 1 Der Vogel war verendet. Er war zur Seite gefallen und lag auf dem Boden des Weidenkorbs, seine Augen blickten glasig und wie eingeschrumpft. Als ich ihn anfaßte, fühlten sich seine Federn noch warm an. Aber es war auch ein warmer Tag. Ich hatte den Vogel am Fuß der Gartenmauer gefunden. Sein einer Flügel war gebrochen, und er hockte dort mit weit aufgerissenem Schnabel und mühsam nach Luft ringend unter einem ein wenig vorspringenden Stein. Er rührte sich kaum, nicht einmal, als ich ihn aufhob. Irgendein Junge hatte von der hinter der Mauer verlaufenden Straße aus wohl einen Stein nach ihm geworfen. Ich schiente den Flügel mit äußerster Sorgfalt. Zuerst spreizte ich ihn und verband ihn dann kreuzweise mit einem mit Wolle unterlegten Leinenstreifen, wobei ich den Verband am Gelenk etwas fester anzog, genau wie Hippokrates es empfiehlt. Hippo- krates ist der Ansicht, daß Menschen, die sich etwas gebrochen haben, leichte Kost zu sich nehmen und unter Umständen eine Portion Nieswurz einnehmen sollten. Ich hatte jedoch keine Nieswurz, und die richtige Dosis für einen Vogel kannte ich sowieso nicht. So gab ich ihm etwas Wasser und fütterte ihn mit Brot und Milch. Ich legte ihn in einen Korb, stellte noch ein wenig zusätzliches Wasser dazu und brachte das Ganze auf den Heuboden über dem Pferdestall. Ich machte Philoxenos, unserem Pferdeknecht, ein kleines Geschenk, damit er niemandem etwas erzählte. Mein Kindermädchen, Maia, mochte es gar nicht, wenn ich mich als Ärztin aufspielte, vor allem nicht gegenüber ganz gewöhnlichen Vögeln und sonstigen Tieren. »Du bist eine junge 5 Dame, Charis«, pflegte sie zu sagen. »Du bist die Tochter des Claristikus Theodoros von Ephesus, und ich erwarte von dir, daß du dich dementsprechend benimmst!« Sie meinte darissimus. Das ist lateinisch und außerdem ein römischer Titel; ich glaube, er bedeutet so etwas wie »außerordentlich bedeutend«, eine nicht ganz passende Bezeichnung für einen Mann wie meinen Vater, der sich eigentlich für nichts anderes als Pferderennen und Homer interessierte. Doch dieser Titel sollte ja auch nur zum Ausdruck bringen, daß er die Würde eines Konsuls innehatte und damit in unserer Provinz eine Persönlichkeit war. Maia konnte lateinische Worte nie korrekt aussprechen, nicht einmal Titel. Und sie liebte Titel. »Mein Gebieter ist seine Exzellenz Theodoros von Ephesus«, pflegte sie den Leuten auf dem Markt zu erzählen, »ein Claristikus und Konsul. Er war Statthalter von Syrien und Galatien, und in Konstantinopel bekleidete er den Rang eines Konsuls – und du willst mich übers Ohr hauen und mir einen Wucherpreis für eine Elle von diesem schäbigen Wollstoff abverlangen? Scher dich zum Teufel!« Sich wie die Tochter des Theodoros von Ephesus zu benehmen hieß, lange Kleider mit einem purpurfarbenen Streifen am Saum und mit goldenen Stickereien am Umhang zu tragen und beides niemals, nicht ein einziges Mal schmutzig zu machen; es hieß, meine Haare in Locken zu legen und sie hoch aufzutürmen, damit sie vornehm aussahen, und dann auch noch darauf zu achten, daß sie keinesfalls in Unordnung gerieten; es hieß, auf den Fußboden zu blicken, wenn ein fremder Mann zugegen war, und den Mund zu halten. Es hieß außerdem, sich nicht als Ärztin aufzuspielen. Hippokrates aber durfte ich lesen. Nun ja, um genauer zu sein, niemand hatte etwas dagegen gesagt. Maia konnte nicht lesen und hielt es für damenhaft, wenn man überhaupt las! Mein Vater wußte überhaupt nicht, was ich las, und er interessierte sich auch nicht dafür, solange ich nur 6 meinen Homer auswendig lernte! Und Ischyras, mein Hausleh- rer, liebte Hippokrates. Nicht etwa, weil er sich für Medizin interessiert hätte. »Unverfälschter ionischer Dialekt!« pflegte er entzückt auszurufen, wenn wir einen Abschnitt über das Erbrechen lasen. »Das ist genauso hervorragend wie Herodot: er-bre-echen! Diese wundervollen Vokale, diese Musikalität!« Er schien niemals darauf Acht zu geben, was der Autor sagte, nur auf den Stil, in dem dieser etwas sagte. Einmal machte ich den Vorschlag, etwas von Galen zu lesen, aber er war entsetzt. »Galen! Dieser alexandrinische Quacksalber! Also wirklich, er schreibt beinahe in der Umgangssprache, wie ein Händler auf dem Markt, nicht wie ein Gelehrter … Nein, nein, meine Liebe, überlaß die Naturwissenschaften nur den Händlern. Wir lesen lieber etwas Erhabeneres, etwas Wohlklingendes.« Ich hätte ihn darauf aufmerksam machen können, daß auch Hippokrates in der Umgangssprache seiner Zeit geschrieben hatte und daß es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken war, wenn dies ein wundervolles Ionisch war und nicht das uns allen gemeinsame Koine. Aber ich war glücklich, meinen Lieblingsschriftsteller überhaupt lesen zu dürfen, und hielt meinen Mund. So lasen wir dank seiner wundervollen ionischen Vokale also Hippokrates, und ich spielte mit verletzten Singvögeln und kranken Schoß- hunden insgeheim die Ärztin und gab mir Mühe, meine Kleider nicht schmutzig zu machen. Mein Bruder Thorion versprach mir dauernd, in der Bibliothek des Celsus einige Abschnitte aus dem Galen für mich zu kopieren. Aber er tat es nie. Ich hatte meiner Drossel einen kleinen Napf mit Brot und Milch gebracht. Jetzt würde ich beides an den Wachhund verfüttern müssen: Das Ganze wieder ins Haus zurückzubringen hätte nur unnötige Fragen heraufbeschworen. Ich war sehr traurig, daß der Vogel gestorben war. Der Tod ist immer etwas Trauriges, selbst der Tod eines Vogels, und ich hoffte, die arme Kreatur nicht gequält zu haben, als ich ihr zuvor ihren 7 Flügel geschient hatte. Aber ich konnte ja nicht wissen, daß sie sterben würde. Warum sie wohl gestorben war? Es hatte so ausgesehen, als erhole sie sich, als ich sie alleine gelassen hatte. Ich nahm den Vogel in die Hand und untersuchte ihn. Der Flügel war offensichtlich nirgends angeschwollen, also hatte ich den Verband nicht zu fest angelegt – es sei denn, Vögel bekom- men nicht auf die gleiche Art Schwellungen wie Menschen. Es war wohl eher so, daß der Stein den Vogel auch innerlich verletzt hatte. An seinem Schnabel entdeckte ich etwas getrocknetes Blut. Er hatte noch nichts von seinem Futter verdaut, deshalb vermochte ich keine Schlüsse aus irgendwelchen Ausscheidun- gen zu ziehen. Wenn ich ihn sezieren könnte, würde ich erfahren, was mit ihm los war. Aber dafür benötigte ich ein paar ordentliche, scharfe Messer und einen ruhigen Ort, wo ich ungestört arbeiten konnte, ohne daß mich jemand dabei überraschte. Außerdem mußte ich etwas über mein Kleid ziehen. Mit anderen Worten, ich brauchte die Hilfe meines Bruders. Ich legte die tote Drossel in den Korb zurück und kletterte die Leiter vom Heuboden herunter. Außer den Pferden war niemand im Stall. Ich nahm meinen Umhang ab und zupfte das Stroh von ihm herunter, dann warf ich ihn mir wieder über die Schultern und trat in den Hof hinaus. Dort traf ich auf Philoxenos, der ein Paar von den Rennpferden meines Vaters an einer Führungsleine im Kreis laufen ließ. Als ich herauskam, nickte er mir zu. »Hast du deinen kleinen Liebling gefüttert, junge Gebieterin?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Er ist gestorben.« »Oh«, meinte er mitfühlend. Philoxenos liebte Tiere; vor allem Pferde, aber auch Tiere im allgemeinen. Außerdem wußte er allerhand über sie, vor allem kannte er jede Menge Heilmittel für wundgescheuerte Hufe und verstauchte Gelenke. Er fand nichts dabei, den Flügel eines einfachen Vogels zu schienen. Aber er war ein praktisch denkender Mann. »Möchtest 8 du, daß ihn dir jemand kocht?« fragte er. »In Honig gedünstet schmecken Drosseln besonders gut. Meine Frau könnte sie dir zubereiten.« »Nein danke. Im Augenblick jedenfalls nicht. Bitte laß ihn bis heute Abend in Ruhe, ja?« Er lächelte und nickte. Er vermutete sicher, daß ich bloß zu zimperlich war, einen Vogel zu essen, den ich so verhätschelt hatte. Ich mochte ihm nicht erzählen, daß ich ihn sezieren wollte: Er würde kein Verständnis dafür haben, und er wurde immer sehr ärgerlich, wenn sich seine Gebieter unvernünftig aufführten. Die Pferde hatten zu traben aufgehört und standen mit zur Erde gesenkten Köpfen da. Sie schnüffelten in dem Kies nach vereinzelten Strohbüscheln. Philoxenos wandte sich ihnen erneut zu; er knallte mit seiner Peitsche und riß heftig an der Führungsleine. Die beiden setzten sich in Bewegung – allerdings in verschiedene Richtungen. Philoxenos fluchte und zwang sie, wieder gemeinsame Sache zu machen. Er redete ihnen gut zu und lockerte die Zügel, bis sie endlich einträchtig im Kreis herumtrabten. Ich setzte meinen Weg zum Haus fort. Unser Haus lag im nordöstlichen Teil von Ephesus, dort, wo das Land zu der Anhöhe ansteigt, die den Namen Pion trägt. Das Haus drängte sich, wenn man so will, regelrecht an die Stadtmauer, die durch den rückwärtigen Garten lief. Wir hatten eine Pforte in die Mauer brechen lassen, so daß wir in die jenseits der Mauer gelegenen Ställe gelangen konnten. Wenn ich jetzt, nach all diesen Jahren, in denen sich die Welt derart verändert hat, daran zurückdenke, so scheint es mir doch sehr ungewöhn- lich: ein Privatmann, der eine Pforte in die Stadtmauer bricht, um keinen Umweg durch die Straßen machen zu müssen, wenn er zu seinen Rennpferden will. Was, wenn die Stadt belagert worden wäre? Selbst damals mochten der Magistrat und die in Ephesus residierenden Heerführer unsere Schlupftür ganz und 9 gar nicht. Aber wann auch immer sie sie meinem Vater gegen- über zur Sprache brachten, lächelte der bloß und meinte, es sei ihm nicht möglich, sich genügend um seine Pferde zu küm- mern, wenn er nicht direkt von seinem Haus aus zu ihnen könne. »Und nun mal ehrlich, Vortrefflicher«, pflegte er hinzuzufügen, wenn es sich um einen Heerführer handelte, »wozu soll eine Stadtmauer in Ephesus denn überhaupt gut sein? Hier wird es doch wohl keinen Krieg geben oder? Und selbst wenn, solange du Befehlshaber bist, würde der Feind nicht einmal in die Nähe der Stadt kommen. Nein, nein, laß meine kleine Pforte nur in Ruhe!« Das Haus lag am Ende der Straße. Die Vorderfront war mit Marmor verkleidet, doch im übrigen sah es nicht besonders eindrucksvoll aus – jedenfalls nicht, wenn man es von der Straße aus betrachtete. Auf der Rückseite jedoch erstreckte es sich in geradezu prachtvoller Manier den Hang hinauf. Ich blieb einen Augenblick lang in der Ausfallpforte stehen und betrach- tete es. Es war ein strahlender, sonniger Frühlingsmorgen. Hinter mir, in Richtung der Anhöhe, war alles leuchtend grün, und der Himmel hatte etwas von jenem frischen Tiefblau des Frühlings an sich, das die Sommerhitze noch nicht auszublei- chen vermocht hat. Die beiden Pferde, zwei zueinander passende schwarze Stuten, zogen in dem mit Kies ausgelegten Hof hinter mir ihre Kreise, sie gingen jetzt im Schritt, ihr Fell schimmerte in der Sonne, ihre Hufe knirschten in den kleinen Steinchen, während Philoxenos ihnen mit leiser Stimme Befehle zurief. Der Torweg war dunkel und kühl, die steinerne Mauer fühlte sich klamm an. Vor mir schienen der Küchengarten, das weiß ausgewaschene Pflaster und die roten Ziegeldächer der Rückseite des Hauses regelrecht zu leuchten: dunkelgrün, strahlend weiß, blutrot. Dahinter schwang sich die Kuppel, die den mittleren Teil des Hauses überragte, in die Höhe. Sie war in einem hellen Grün angemalt und sah aus wie ein am blauen 10

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