Der Kreisel Seine Theorie und seine Anwendungen Von l)r.Fl. {jrarnnnel o.Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart Zweite, neubearbeitete Auflage Zweiter Band: Die Anwendungen des Kreisels Mit 133 Abbildungen Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1950 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Copyright Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1950 Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag, OHG., Berlin, göttingen and Heidelberg. 1950 Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1950 ISBN 978-3-662-30590-4 ISBN 978-3-662-30589-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-30589-8 Vorwort zur zweiten Aufiage. Dieser zweite Band behandelt die Anwendungen des Kreise1s. Man kann sie zwanglos in drei ganz verschiedene Gruppen gliedern: die beabsichtigten oder ungewolIten, niitzlichen oder schadlichen KreiseI wirkungen bei Radsatzen alIer Art (einschlieBlich Fahrzeugen, Schiffen und Flugzeugen), dann die groBe und weit entwickelte Mannigfaltig keit der eigentlichen Kreiselgerate, und schlieBlich die meist sehr wuchtigen unmittelbaren Kreiselstabilisatoren, die teils fiir die Ge schichte der Technik bedeutsam sind, teils der Astronomie angehoren. Beim Zusammenstellen aller Anwendungen des Kreise1s habe ich eine Vollstandigkeit nicht im wortlichen, wohl aber im grundsatzlichen Sinne angestrebt: es ware zum Beispiel nicht moglich gewesen, all e gebauten oder geplanten Kreiselgerate einzeln aufzuzahlen; aber ich giaube kein wesentliches Anwendungsgebiet des Kreiseis auBer acht ge1assen zu haben. Wenn vielleicht einige geheim gebliebene KreiseI gerate in diesem Buche fehlen, so bitte ich diesen Mangel nicht dem Verfasser anzurechnen, sondern denen, deren vernunftlose "Staats fiihrung" das Geheimhalten technischer Gedanken notig gemacht hat. (Die in der ersten Auflage behandelten Kreiselwirkungen der Atome habe ich jetzt weggelassen, wei! die damalige Vorstellung der Physik von jenen Wirkungen heute iiberholt ist und die an ihre Stelle ge tretenen des Elektronenspins kaum in ein Buch tiber die Mechanik des Kreise1s gehoren.) Da die AuBenansichten von Geriiten und Maschinen, wie man sie so oft in Btichern findet, fast immer ziemlich wertlos, wei! nichts er klarend sind, so habe ich dem Buche auch in der neuen Auflage wie der durchweg schematische, nur das Wesentliche darstellende Bilder, zumeist vereinfachte Schnittzeichnungen beigegeben und nur in wenigen Fallen eigentliche Konstruktionszeichnungen. Denn es ist IV Vorwort zur zweiten Auflage. nieht die Aufgabe dieses Buehes, die wirkliehe Einzelkonstruktion etwa von Kreiselgeraten zu lehren, sondern viehnehr aufzuzeigen, wie der Kreisel in Masehinen und Geraten oder a 1s Masehine, Rad satz usw. wirkt, und worin der tragende Gedanke eines Kreiselgerates besteht. Besonderes Gewieht habe ieh daher iibera1l auf eine ausfiihr Hehe Storungstheorie der Gerate, Stabilisatoren usw. gelegt; nur so kann die Giite so1cher Vorriehtungen sieher beurteilt werden. Wertvolle Mitarbeit verdanke ieh Herrn Dr.-Ing. C. A. Traenkle, der mir belangreiehe Aufzeichnungen iiber viele der Kreiselapparate von § 7 und 8 zur Verfiigung gestellt hat, sowie den Herren Dr. K.Zoller,F.Jindra,Dr.H.Kauderer undProfessorDr.-lng. P.Riekert, die mir bei diesem zweiten Bande in der gleichen Weise geholfen haben, wie ich das schon im Vorwort der zweiten Aufiage des ersten Bandes dankbar erwiihnt habe. Stuttgart, im Ju li 1950. R. Grammel. Inhaltsverzeichnis. Die Anwendungen des Kreisels. Seite Erster Abschnitt: Kreiselwirkungen bei Radsatzen § 1. Kollermilhlen . . . . . 2 1. Der Kollergang. . . 2 2. Drei Verbesserungen 5 3. Die Pendelmilhle . . 11 § 2. Kritische Drehzahlen von Rotoren . 13 1. Die einfach besetzte Welle . . 13 2. Die EinfluBzahlen. . . . . . 19 3. Die kritischen Drehzahlen des Gegenlaufes 21 4. Die mehrfach besetzte Welle 23 5. Die dicht besetzte Welle 28 § 3. Fahrzeuge . . . . . . . . 34 1. Die Zweischienenbahn . 34 2. Die Hangebahn. . 39 3. Die Schwebebahn . 41 4. Das Kraftfahrzeug 43 5. Das Schiff . . . . 44 6. Kreiselkoppelung der Schiffsschwingungen 47 7. Das Zweirad 53 § 4. Flugzeuge . . . 58 1. Die Kreiselmomente . 58 2. Die Grundlagen der Kinetik des Flugzeuges 61 3. Die stationaren Kreiselwirkungen . . . . . 67 4. Die Kreiselkoppelung der Flugzeugschwingungen 72 5. Das Trudeln des Flugzeuges 79 6. Der Hubschrauber . . 80 Zweiter Abschnitt: Kreiselgerate . 81 § 5. Gerate mit KompaBkreiseln 82 1. Das Gyroskop 82 2. Der Inklinationskreisel und das Barygyroskop . 87 3. Der Deklinationskreisel . . . . . . . . . . 91 4. Kreiselversuche zum Nachweis der Erddrehung 92 5. Elastische Bindung eines Freiheitsgrades . . . 97 VI Inhaltsverzeichnis. Seite § 6. Der KreiselkompaB . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Die technische Entwicklung des Kreiselkompasses 99 2. Der ortsfeste EinkreiselkompaB . . . . 106 3. Die Fahrtfehler des Einkreiselkompasses 114 4. Die quasihydrostatische Dampfung . 122 5. Der Schlingerfehler . . . . . . . . 126 6. Die Beseitigung des Schlingerfehlers . 129 7. Kreiselkompasse ohne Schlingerfehler 137 § 7. Kunstliche Horizonte mit Pendelkreiseln 145 1. Das Kreiselpendel ohne Dampfung 145 2. Die Dampfung des Kreiselpendels 158 3. Der Pendelkreisel mit Dusensteuerung 164 4. Der Pendelkreisel mit Stutzmotoren 175 5. Weitere Pendelkreisel . . 178 § 8. Wendekreisel und Lagekreisel 182 1. Der Wendezeiger 182 2. Der Kurskreisel. 189 3. Der Richtkreisel 195 4. Der Stutzkreisel 196 § 9. Sonstige Kreiselgerate 203 1. Differentiier-und Integrierkreisel 203 2. Reglerkreisel . . . . . . . . . 210 Dritter Abschnitt: Unmittelbare Stabilisatoren 213 § 10. Richtkreisel . . . . . 213 1. Die Erde 213· 2. Geworfene K6rper 224 § ll. Stutzkreisel . . . . . 230 1. Die Einschienenbahn mit Lotkreisel 230 2. Kurvenfahrt und beschleunigte Fahrt 235 3. Die Einschienenbahn mit Querkreisel 239 4. Der Geradlaufer 244 § 12. Dampfkreisel . . . 248 1. Der gebremste Schiffskreise1 248 2. Gunstigste Wahl von Bremszahl und Drehimpuls 250 3. Der gesteuerte Schiffskreisel 262 Namenverzeichnis . 266 Sachverzeichnis. . 267 Erster Abschnitt. Kreiselwirkungen bei Radsatzen. Die Drehung ist unter allen Bewegungsarten dadurch ausge zeichnet, daB ein Korper sie gleichformig ausfiihren kann, ohne seinen Ort als Ganzes zu verlassen; sie wird deswegen dazu verwendet, be deutende Energiemengen auf beschranktem Raum als Wucht von Schwungradem und sonstigen Radsatzen aufzuspeichern. Weil die Drehung immer wieder die einzelnen Teile eines Korpers in ihre friihere Lage, und zwar mit gleichbleibendem Takte, zuriickzubringen vermag, so wird sie auBerdem vielfaItig zu Energieumwandlungen beniitzt, so bei den sogenannten Kreiselmaschinen (Dampf-, Gas und Wasserturbinen, Kreiselpumpen, Kompressoren, Geblasen, elek trischen Generatoren und Motoren usw.) und bei vielen Trieb werken (Wasser-und Luftschrauben) und dergleichen mehr. Endlich aber dient die Drehbewegung seit den altesten Zeiten als hiiufigster Vermittler bei Schiebebewegungen iiberall, wo Fahrzeuge auf Radem laufen. In allen diesen Fallen haben wir es mit Kreiseln als Tragern von oft sehr groBen Drehimpulsen zu tun, und sobald die Achsen der artiger Radsatze geschwenkt werden, d. h. ihre Richtung im Raume andem, entstehen Kreiselmomente, die zumeist unerwiinscht, zu weilen sogar gefahrlich sind, mitunter aber auch eine an sich gewollte Wirkung unterstiitzen. Wir beginnen mit einer technisch sehr niitzlichen Kreiselerschei nung bedeutenden Ausmafies, die bei sogenannten Kollergangen und Pende1miihlen auftritt. Dann behande~ wir die manchmal schiidlichen, zum mindesten nicht auBer acht zu lassenden Kreiselwirkungen bei stationar laufenden Radsatzen, insbesondere ihren EinfluB auf die kritischen Drehzahlen von Rotoren. Zuletzt zahlen wir die Kreisel effekte auf, die bei Fahrzeugen, Schifi'en und Flugzeugen vorkommen konnen. Das hierbei in Rechnung zu setzende Kreiselmoment se ist fUr p den symmetrischen Kreisel in § 5, Ziff.2, fUr den unsymmetrischen Kreisel in § 9, Ziff. 11 des ersten Bandes angegeben worden. Grammel, Der Kreisel II. 2. Auft. 1 2 Kreiselwirkungen bei Radsiitzen. § 1. Kollermiihlen. 1. Der Kollergang. Eine sehr merkwiirdige, jedoch wenig be kannte und deswegen auch zurneist nicht voll ausgeniitzte Kreisel wirkung kommt bei Kollermiihlen vor, die entweder als Kollerglinge oder als Pendelmiihlen gebaut werden. Der Kollergang zunachst, hiiufig zweilliufig (Abb. 1 und 2), seltener einliiufig (Abb. 3 und 4), besteht im wesentlichen aus ein oder zwei zylindrischen oder schwach kegeligen Walzen, den sogenannten Abb. 1. Zweiliiufiger Kollergang Abb. 2. Zweiliiufiger Kollergang mit Mitnehmer. mit Schleppkurbeln. Abb. 3. Einliiufiger Kollergang Abb. 4. Einliiufiger Kollergang mit Mimehmer. mit Gelenk. Lllufern (I), die, urn die Mittelwelle (m) drehbar, von der Triebwelle (t) auf der als Teller ausgebildeten Mahlplatte (P) im Kreise herum gefiihrt werden, wobei sie das untergeschobene Mahlgut durch Zer reibung und ZermaImung zerkleinern. Damit die Laufer harten Brocken des Mahlgutes ausweichen konnen, miissen die Mittelwellen auf der Triebwelle beweglich aufsitzen. Dies wird erreicht entweder durch einen sogenannten Mitnehmer (n in Abb. 1 und 3) oder durch Schleppkurbeln (s in Abb.2) oder endlich durch ein Gelenk (g in Abb.4). (Von AusfUh.rungen, bei denen die Mittelwelle feststeht und dafm die Mahlplatte unter den Lllufern gedreht wird, sprechen wir hier nicht, weil sie zu Kreiselwirkungen keinen AnlaB geben.) § 1. Kollermiihlen. 3 Der Kollergang kann geradezu als das Muster eines technischen symmetrischen Kreisels angesehen werden, der eine erzwungene regu~ Hire Prazession urn die lotrechte Triebwelle ausfiihren muB. Es ist an Hand der Regel yom gleichstimmigen Parallelismus (Satz I von § 5, Ziff. 2 des ersten Bandes, Seite 61) ersichtlich, we1che Wirkung das hier bei geweckte Kreiselmoment st'p als Ausdruck der Massentragheit des Laufers bei den verschiedenen Ausfiihrungen des Kollergangs haben wird. Es sucht bei zweilaufigen Kollergangen mit Mitnehmer oder Schleppkurbeln die Mittelwelle zu biegen und sollte als Biegemoment bei deren Entwurf in Rechnung gestellt werden; es macht sich be sonders beim einlaufigen Kollergang mit Mitnehmer auBerdem als storende Beanspruchung des Mitnehmerlagers geltend; und lediglich bei der gelenkigen Ausfiihrung (Abb. 4) gewinnt es die Bedeutung, die ihm eigentlich zukommen solI, insofern es als Kraftepaar (~, ~') zwar die Triebwelle und deren Lager an- strengt, zugleich aber die Pres sung des Laufers gegen die Mahlplatte erhOht, unter U mstanden auf ein Mehrfaches des Ruhebetrages. In der Tat werden H r Kollergange mit gelenkiger Achsen verbindung, mit denen wir uns weiter hin hauptsachlich befassen, als beson ders wirksam geschildert, ohne daB der eigentliche Grund dafiir, das Kreisel- moment st'p, immer klar erkannt wird 1. Pfff 1st A die Drehmasse des Laufers urn die Achse der Mittelwelle (Figuren- achse), B diejenige urn eine dazu senk- Abb. 5. Kinematik und Kriiftespiel rechteAchse durch den Schnittpunkt 0 am Kollergang. der Achsen der Mittelwelle und der Triebwelle (Abb. 5), und sind ferner und wp die Eigendrehgeschwin We digkeit des Laufers urn seine Mittelwelle und seine Prazessions geschwindigkeit urn die Triebwelle, so ist bei einem beliebigen Winkel 15 der Achsen der Mittelwelle und der Triebwelle das Kreiselmoment nach § 5, Ziff.2, Formel (5) des ersten Bandes (Seite 61) + Kp = [A w (A -B) wp cos 15] wp sin 15, (1) e und zwar positiv gerechnet im Sinne einer Verkleinerungdes Winkels 15. Beim gewohnlichen Kollergang ist 15=90°. Weiter ist die Prazes sionsgeschwindigkeit wp identisch mit der Betriebsgeschwindigkeit Wt 1 Die Kreise1theorie der Kollermiihlen ist erstmals entwickelt worden von R. Grammel, Z. VOL 1917, S. 572. 1*