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Der Gehalt der Sprachform: Paradigmen von Bachtin bis Vygotskij PDF

214 Pages·1993·13.43 MB·German
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Janette Friedrich Der Gehalt der Sprachtorm Paradigmen von Bachtin . bis Vygotski) . Lektorat: Peter Heyl Die Deutsche Bibliothek -— CIP-Einheitsaufnahme Friedrich, Janette: Der Gehalt der Sprachform : Paradigmen von Bachtin bis Vygotskij / Janette Friedrich. — Berlin : Akad. Verl., 1993 ISBN 3-05-001938-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1993 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 — 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form — durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren — reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form — by photoprinting, microfilm, or any other means — nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin Einbandgestaltung: Ralf Michaelis, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany Inhaltsverzeichnis Die funktionale Bestimmung des Denkens. Potenzen und Grenzen des Tätigkeitsansatzes A.N. Leont’evsundE.V.IP’enkovs ......... . Leont’evs Kritikam „Unmittelbarkeitspostulat“ ...... 2.2... Exkurs: Jantzens Interpretation des „Abrisses der Entwicklung des Psychischen“ ... 2.2... nee eee ernennen . Der Begriff der „gegenständlichen Tätigkeit“ ..... 22.2200 .. . „Das Denken ist die Tätigkeitsweise des denkenden Körpers“. I’enkov über Spinoza sa. m sa a 8 u m nm a a a aa Den a . Das Zagorsker Experiment zur Genese der Kulturaneignung bei taub- blinden Kindern...» » 2 = 2 nn mm nn . Zeichentheoretisches Sprachverständnis ........... a . GeldmodellcontraSprachmodell....... 222222. . IWenkovs „materialistische* Reformulierung der Idee einer reinen Formtätigkeit .....-- -2cn00e rer een nennen . Objektivierung des Denkens durch „funktionale Gegenständlichkeit“ . Die Ideen als Derivate gesellschaftlicher Interessen. K.R. Megrelidzes „Grundprobleme derSoziologiedesDenkens“ ....... 2.22.20. . Derideatorische Inhalt desmenschlichen Bewußtseins ......... 2. Die biologischen Wurzeln des Bewußtseins: Kommentar zur Gestalt- BSJchOlSEiE „a u zur re ss usa u euer kemgu:::« . „Die Soziogenesis der Ideen“: Das Streben der Wirklichkeit‘ zum Gedanken % 3 3 5 3 WW BI a 5 SE 6 I a ER RT . „Die gesellschaftliche Zirkulation der Ideen“: Die Aneignung von Wirklichkeit inGed2a20n00k Jeemenn .sun. a.aa .5. „DiesozialeVerwirklichungderIdeen“ ..2.... 2..22.220 0. 6 Inhaltsverzeichnis 3. Die Sprache als inhärente Gegenständlichkeit ideeller Erscheinungen. L.S. Vygotskijspsychologische Theorie .. . .. 22222222200. 103 3.1. Das „IhermometerderPsychologie*. . ... 22.222 22. 106 3.2. Die „psychischen Werkzeuge“ als Mittel einer vermittelnden Tätigkeit. 109 3.3. Experimente zur BegriffsbildungbeimKind ........ 2.222... 113 3.4. Das reflexive Denken -ein ForminhaltegenerierenderProzeß ..... 118 3.5. Die Besonderheit des Sprachzeichens: Vygotskijs Interpretation der „innierenSprache* . u 3 x 0 4 3 5 scan SA He 123 4. Die Entdeckung des Wortesim Wort. DerBachtin-Kreis ... ...... 140 4. 1. Das „ideologische Zeichen“ als Material despsychischen Erlebnisses .. 142 4. 2. Die Seinsform des Unbewußten: VoloSinovsKritikanFreud ...... 146 4.3. „Die eigentlicheRealitätderSprachealsRede*..... 2.2222... 151 4. 4. Die Reviston des linguistischen Sprachformbegriffs oder der Gehalt der SPEACHIOEM nurnmronra une raune Tane Srzw aaneenen 159 4.5. DieSprache als Mittel des Verstehens: Die uneigentlich direkteRede .. 166 Anlagen «5 5 wien m DR a ar nr ER rare OR 187 Literaturverzeichnis 2 u oo m ern Eu „BEE SOrBERE 191 Namenverzeichnis ı u u u 0 u 0 a vo a EN ERTERE % 211 Sachverzeichnis 2 2 m oe rn a er aa 214 Vorwort Diese Studie, ursprünglich allein als problemgeschichtlich komparativer Rekurs auf sowjetische Sprach- und Bewußtseinstheorien der 20er und 30er Jahre konzi- piert, erwies sich im Resultat als Vorstoß in die heute noch heftig umstrittene sprach- und kommunikationsorientierte Wende der tradıtionellen Philosophie des Bewußtseins. Die im Zuge dieser Wende entstandenen Thesen und Erklärungspro- bleme führten in den letzten Jahren zu einer Neuentdeckung und Neuinterpreta- tion westeuropäischer und amerikanischer psychologisch, philosophisch oder lin- guistisch ausgerichteter Sprach- und Bewußtseinstheorien aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Dafür stehen u. a. die aktuellen Rezeptionen G.H. Meads und K.Bühlers. Vollzieht man einen derartigen Wechsel der Blickrichtung auch in Hinblick auf die frühe sowjetische geisteswissenschaftliche Diskussion, so können einige damals elaborierte Theorien ebenfalls als Träger einer solchen Wende ent- deckt werden. Die zu dieser Zeit noch lebendige Verbindung zwischen west- und osteuropäischer Wissenschaftsentwicklung hatte es sowjetischen Forschern näm- lich ermöglicht, im Zusammenhang mit einer intensiven Rezeption zeitgenössi- scher Theorien, - insbesondere der deutschen Gestaltpsychologie, der Phänomeno- logie E. Husserls, des französischsprachigen Strukturalismus, der frühen Arbeiten J. Piagets u.a. — originelle eigene Denkansätze auszubilden. So fand ich in den Konzeptionen des Psychologen Lev Semenovie Vygotskij (1896-1934), des georgi- schen Philosophen Konstantin Romanovie Megrelidze (1900-1944) und der Kul- tur- und Literaturtheoretiker Michail Michailovi€ Bachtin (1895-1975), Valentin Nikolaevic Volosinov (1895-1936) sowie Pavel Nikolaevid Medvedev (1892-1938) eine sprachphilosophische Reformulierung des Reflexionsbegriffs, die sich weder in kognitiv-strukturalistische noch intentional-handlungstheoretische Paradigmen einordnet, sondern diese kommunikationstheoretisch erweitert. Die genannten Autoren diskutierten das Bewußtsein als reflexiv erzeugtes Selbstbewußtsein und reaktivierten somit eine Denkfigur, die seit Kants „Koperni- kanischer Wende“ die Bewußtseinsphilosophie bestimmt. Für sie ist jedes Reali- tätsbewußtsein zugleich selbstbezüglich, es enthält die Selbstreflexion als konstitu- 8 Vorwort tives Moment. Die Ergänzung dieses Bewußtseinsbegriffs durch intersubjektivisti- sche, sinnsemantische und semiotische Überlegungen ließ sie in der Sprache dasje- nige Medium entdecken, bei dessen Benutzung der reflexive Selbstbezug der empi- rischen Subjekte objektiviert bzw. generalisiert wird, ohne daß der. jeweilige Stand- punkt des Individuums als extramundaner vorausgesetzt werden muß. Damit schien die in der klassischen Reflexionsphilosophie immer wieder reproduzierte „Zurückführung“ der selbstbezüglichen Objektivierung auf ein hypostasiertes Subjekt umgangen. Die ausgewählten Konzeptionen enthalten die Idee einer Objektivierung der Selbstreflexion, die gerade eine selbstbezogene Unterschei- dung der Individuen von der Selbstreflexion, d.h. einen Perspektivenwechsel ein- schließt. Die Bedingung für diesen Wechsel der Perspektiven in der 1. Person erblickten Vygotskij und die Mitglieder des Bachtin-Kreises in der Sprache. Sie wird als „Material“ oder Mittel der Objektivierung des reflexiven Selbstbezugs diskutiert. Es stellt sich nun die Frage, welche Eigenschaften der Sprache einen solchen Wechsel der Perspektiven im Rahmen des reflexiven Selbstbezugs garantie- ren. VoloSinov entdeckte sie in den sprachlichen Formcharakteristika. Er betrach- tete Intonation, Wortwahl und Wortkomposition als spezifische Formgebilde, insofern diese eine Beziehung der sprachlichen Äußerung des Individuums zu einem Kommunikationskontext herstellen. Im sprachlich vermittelten Selbstbezug entsteht ein Verweis auf einen Kommunikationskontext — auf eine bestimmte Situation (einen gegenständlicher Kontext) oder einen bestimmten Gesprächspart- ner - im Rahmen dessen der jeweilige Selbstbezug Gültigkeit erfährt. Intonation, Wortwahl und Wortkomposition besitzen einen eigenen Inhalt, insofern ihre Ver- wendung angibt, in welchem Kommunikationskontext der ausgedrückte Selbstbe- zug des Individuums möglich ist. Oder anders formuliert, es ist unmöglich, einen reflexiven Selbstbezug sprachlich zu vollziehen, ohne sich dabei auf einen konkre- ten Kommunikationskontext zu beziehen, diesen in bestimmter Hinsicht vorzu- konstruieren. Doch — und dadurch unterscheidet sich die Konzeption des Bachtin- Kreises von referenzsemantischen und kontextualistischen Theorien — dieser Kommunikationskontext ist weder schon in einer Sprachbedeutung kristallisiert und damit vor der Sprachverwendung (der Rede) existent, noch bedarf seine Gene- sis einer unmittelbaren Interaktion. Zum einen kommt es bei der Sprachverwendung zu einer Objektivierung des Bewußstseinsinhalts der Individuen, die ihren Grund nicht in situativen Interak- tionsbeziehungen hat. Der Kommunikationskontext wird nicht auf den Interak- tionskontext einer sprachlichen Äußerung reduziert. Deshalb wurden vom Bach- tin-Kreis und von Vygotskij immer wieder der besondere Zeichencharakter der Sprache betont. Die Sprache besitzt eine „Materialität“, die konstitutiv für die Bedeutung ist, die sie „darstellt“. Sie suchten die Beziehung zwischen Zeichen und Vorwort 9 Bedeutung nicht assoziativ, sondern vielmehr als Entwicklungsverhältnis zu be- schreiben. Zum anderen wird die konstitutive Rolle der Sprache nicht objektivistisch an der Sprache als einer von der Rede des Individuums unabhängigen Realität festge- macht. Die Realität der Sprache wird ın der Rede des Individuums verortet. Denn die Sprache determiniert den Bewußtseinsinhalt, ohne ihn darzustellen, die „Mate- rialität“ des Sprachzeichens ist nicht repräsentativ, es gibt keine materielle Bezie- hung zwischen dem Sprachzeichen und der in ihm „dargestellten“ Bedeutung. Das Verhältnis zwischen beiden entsteht erst durch die Produktion der Bedeutung durch das Individuum und diese ist nicht referenzsemantisch zu erklären, da der Kommunikationskontext nur im Inhalt des sprachlich vermittelten Selbstbezugs auftritt. In den genannten Theorien wird auf diese Weise ein Sprachzeichenbegriff the- matisiert, der das Zeichen für die Bedeutung wie auch die Bedeutung für das Zeichen als. konstitutiv behauptet. Die Sprache wird als Zeichendarstellung des Bewußstseinsinhalts interpretiert, die sich immer erst vermittelt durch den Bewußt- seinsinhalt konstituiert und ihn gleichzeitig in seiner Genesis bedingt. Was für ein Inhalt des reflexiven Selbstbezugs in der Sprache objektiviert wird, hängt also nicht so sehr vom individuellen Selbstbild oder der jeweiligen Interak- tion ab, sondern von dem Inhalt, der bedingt durch die verwendete Sprachform und damit immer in bezug auf einen bestimmten Kommunikationskontext durch das Individuum produziert wird. In dem Sinne kann hier von einem der Sprache eigenen Inhalt gesprochen werden. Die Genesis des Selbstbezugs in Relation zu einem. Kommunikationskontext, die auf der Verwendung der Sprache beruht, zeugt von einem der Sprache eigenen Inhalt. Deshalb spreche ich mit Blick auf die Arbeiten des Bachtin-Kreises von der Entdeckung eines Gehalts der Sprachform. Dieses aus den genannten sowjetischen Theorien rekonstruierte Modell des sprachlich vermittelten reflexiven Selbstbezugs unterscheidet sich von dem der Selbstthematisierung eines sich vergegenständlichenden Subjekts und von dem einer intersubjektiv vermittelten Selbstverständigung. Nach ersterem bezieht sich das Subjekt, um seiner selbst habhaft zu werden, auf sich als Objekt. Es tritt in der 3. Person auf, also vom Standpunkt des Beobachters. Im zweiten Modell entsteht der reflexive Selbstbezug, weil das Subjekt ın eine Beziehung zu einer zweiten Person tritt. Es reflektiert sich in einem anderen, indem es dessen Reaktion in bezug auf sich als Ich-bildend interpretiert. Das Subjekt tritt sich erst in der 2. Person als 1. gegenüber.! Bei Megrelidze, Vygotskij, Bachtin und Volo$inov erweist sich viel- mehr das sich selbst bewußte Subjekt als Glied der jeweiligen Subjekt-Objekt- oder Subjekt-Subjekt-Beziehung. Die Selbstreflexion vollzieht sich nicht durch eine Verdopplung des Subjekts in ein Objekt oder in ein anderes Subjekt, sondern durch 10 Vorwort die selbstbewußte Unterscheidung des Subjekts vom Objekt und vom anderen Subjekt, die die Verwendung der Sprache immer schon impliziert. Der Gehalt der Sprachform sichert eine Objektivierung des reflexiven Selbstbezugs in der 1. Person. Das Modell der sprachlich vermittelten Selbstreflexion findet insbesondere bei VoloSinov und Bachtin seine Ergänzung in einer pragmatisch ausgerichteten Beschreibung menschlicher Kommunikation, in der das „zweistimmige Wort“ als Mittel der Kommunikation entdeckt wird. Die menschliche Sprache ermöglicht es, in der Verwendung eines Wortes ein anderes Wort als fremdes „durchscheinen“ zu lassen. Das heißt, das Wort des anderen kann als fremdes und damit ohne Objekti- vierung und Subsumtion oder Modifikation durch den Sprechenden wiedergege- ben werden. In solch einem Wort sind zwei Stimmen zu hören. In ihm kommt es zu einer Interferenz von fremder und eigener Rede. Volosinov beschreibt dieses „Wort im Wort“ am Beispiel der in der Belletristik oft verwendeten uneigentlichen direkten Rede, Bachtin erörtert es anhand der polyphonen Struktur der Romane Dostoevskijs. Pragmatisch nenne ich diese Beschreibung der Kommunikation nicht deshalb, weil die Genesis einer Sprachbedeutung mit der im Sprachgebrauch entstehenden intersubjektiven Bedeutungszuweisung identifiziert wird, sondern weil das von VoloSinov und Bachtin entdeckte „Wort im Wort“ auf keinerlei Perspektiven- wechsel, gemeinsamen Bedeutungskontext oder Situationsverständnis beruht bzw. ihn hervorbringt. Durch das „Wort im Wort“ wird gerade derjenige Bewußt- seinsinhalt kommuniziert, der sich einem anderen Individuum nicht zuschreiben läßt, der in der Kommunikation weder objektiviert noch generalisiert werden kann und damit nur in bezug auf das Individuum zu erfassen ist. Die mit einem „zwei- stimmigen Wort“ angestrebte Kommunikation wäre demnach immer der Versuch, in die Kommunikation etwas einzuschließen, was inkommunikabel ist und was genau dadurch die Möglichkeit eröffnet, daß in ihr etwas Neues entsteht. Die in jedem Kommunikationsakt erfolgende Generalisierung des Bewußtseinsinhalts wird durch die Verwendung eines zweistimmigen Wortes relativiert, da sie das Wort des jeweils anderen als sein Wort einschließt. Die Besonderheit von VoloSinovs und Bachtins Diskussion einer pragmatischen Verwendung des Wortes besteht gerade in der Annahme eines Bewußtseinsinhalts, der als objektivierter in der Kommunikation nicht objektivierbar ist. Somit findet sich in ihren Konzeptionen eine eigenwillige Antwort auf das zentrale Problem der kommunikationstheoretischen Reformulierung des traditionellen Bewußtseinsbe- griffs, das darin besteht, die Objektivierung eines Bewußtseinsinhalts in der Kom- munikation zu verorten, ohne die Kommunikation in eine Interaktion aufzulösen: Durch die Annahme eines Gehalts der Sprachform wird die Generalisierung des Vorwort 11 Reflexionsinhalts als durch das Individuum realisierter Prozeß erklärt, der herme- neutisch auf das Individuum nicht rückführbar ist. Die vorgeschlagene Reformu- lierung des Reflexionsbegriffs ist insofern kommunikations- oder sprachtheoreti- scher Art, weil ein Bewußtseinsinhalt nachgewiesen wird, der.ausschließlich aus der Sprache - aus dem Gehalt der Sprachform - erklärbar ist und der deshalb in der Kommunikation nur dann auftritt, wenn diese durch zweistimmige Wörter vermit- telt ist. Denn die Wiedergabe des fremden Wortes als fremdes hat gerade nicht die Herausstellung dessen, was beiden gemeinsam ist, zum Resultat und ist somit nicht intersubjektivistisch zu deuten. Infolgedessen suchten sie eine Verständigung zu antizipieren, die den Anderen gerade in seiner Unterschiedenheit einschließt. Zwar scheint diese Betrachtung die Genesis eines Konsenses zu vernachlässigen, doch dafür entwirft sie einen Dialog, der auf einem wirklichen Perspektivenwechsel beruht. Da die Perspektiven als verschiedene nebeneinanderstehen, können sie eine wirkliche Provokation, Beunruhigung oder Bestätigung für den jeweils anderen bilden. Damit wird in den betrachteten Theorien genau diejenige Potenz von Spra- che angesprochen, die einen Diskurs vorstellen läßt, der weder nur auf eine Stimme (Mehrheitsregel) noch auf eine Unzahl individuell autonomer und damit einander gegenüber gleichgültiger Stimmen verkürzt ist. Die Aufdeckung eines derartigen „Vorstoßes“ der sowjetischen Theorien in die kommunikationstheoretischen Diskussionen um eine moderne Bewußtseinsphi- losophie stellte für mich gewissermaßen eine Überraschung dar. Sie war unerwar- tet, weil die vorliegende Arbeit mit einer anderen Zielstellung in Angriff genom- men wurde. Ich hatte vor, einen in den 60er und 70er Jahren in der sowjetischen Bewußtseinstheorie konzipierten Ansatz in die Diskussion zu bringen, der eine Alternative zu den in der Marxismus-Leninismus-Tradition vorherrschenden, auf naiven Abbildtheorien beruhenden und legitimationsideologisch verwendeten Konzeptionen bildete. Für die Vorstellung dieser Alternative wählte ich zwei Theorien aus: den psychologischen Tätigkeitsansatz Aleksej Nikolaevil Leont’evs (1903-1979) und die Konzeption des Ideellen des Philosophen Eval’d Vasil’evic IPenkov (1924-1979).2 Diese Auswahl trug u.a. der Tatsache Rechnung, daß der Paradigmenwechsel von einem naiven Abbildrealismus zu einer evolutionären und sozialen Erklärung des Bewußtseins zuerst in der sowjetischen Psychologie und nicht in der Philosophie angestellt wurde. Außerdem ließ sich mit Leont’ev auf einen Vordenker der „Alternative“ schließen: auf Vygotskij, dessen Theorie gewöhnlich als Quelle des Tätigkeitsansatzes ausgegeben wird. In Ergänzung dazu entfaltete Il’enkovs Theorie des Ideellen konsequent die philosophischen Prämis- sen des Tätigkeitsansatzes, so daß in ihr die Grundideen der „Alternative“ am klarsten sichtbar wurden. Außerdem konnte ich mich durch ein Studium an der philosophischen Fakultät der Universität Rostov am Don, an der sich 1983 ein 12 Vorwort beträchtlicher Teil der Fakultätsmitglieder öffentlich zu Vertretern der Ideen Il’en- kovs erklärte, mit seiner Konzeption und ihrem sozialen und geistigen Um- und Vorfeld vertraut machen. Durch Wissenschaftler dieser Fakultät kam es auch zur Etablierung von Anfängen einer Wissens- oder Erkenntnissoziologie.? Fragen der sozialen Natur von Kategorien standen im Mittelpunkt von Spezialisierungskur- sen, woraus sich der feste Platz erklärte, den die Besprechung von Megrelidzes Monographie „Grundprobleme einer Soziologie des Denkens“ im Studienplan der Fakultät einnahm. In ihm vermutete ich einen weiteren wichtigen Vordenker der zu untersuchenden theoretischen Strömung. Der ursprüngliche Plan der Arbeit - von den Vordenkern zu den heutigen Vertretern der „Alternative“ fortzuschreiten - erfuhr jedoch im Laufe der Beschäf- tigung mit dem Schaffen Vygotskijs und Megrelidzes eine Veränderung. Ich stieß auf Differenzen im grundlagentheoretischen Ansatz sowohl zwischen den Kon- zeptionen Leont’evs und Vygotskijs, als auch zwischen denen von Il’enkov und Megrelidze. Dies stellte die ursprüngliche Hypothese von einem durch die „Alter- nativen“ realisierten Paradigmenwechsel in Frage. Die zusätzliche Einbeziehung der Arbeiten des Bachtin-Kreises bestätigte die Annahme, daß die in den Ansätzen der 20er und 30er Jahre entwickelten Ideen im Vergleich zu den späteren radikaler waren. Die Problemlösungen Leont’evs und Il’enkovs verblieben letztlich im Rah- men der von ihnen kritisierten Korrespondenztheorie und führten zu einer sub- stantialistischen Bewußtseinstheorie, Trotzdem entschied ich, beide Konzeptionen in die vorliegende Untersuchung aufzunehmen, doch es erfolgte im Rahmen einer veränderten Gliederung: ausgehend von den Erklärungsproblemen des Tätigkeits- ansatzes werden die ausgewählten Arbeiten der 20er und 30er Jahren als Alternative diskutiert.* Für dieses Herangehen sprachen folgende Überlegungen: Zum einen fanden die interessierenden Theorien Vygotskijs, Megrelidzes, Bach- uns, VoloSinovs und Medvedevs infolge der in den 30er Jahren einsetzenden admi- nistrativen Isolierung der sowjetischen Wissenschaften zu ihrer Entstehungszeit kaum internationale Beachtung. In der Sowjetunion wurden die genannten Auto- ren repressiert und jahrzehntelang aus dem wissenschaftlichen Diskurs gedrängt. Die in den 60er Jahren in der Sowjetunion beginnende zaghafte Rehabilitierung hob die Verdrängung ihrer Ideen nur formell auf. Denn statt wirklicher Aufarbei- tung der Wissenschaftsgeschichte kam es zunächst ausschließlich zu konjunkturel- len Neubewertungen, die meist nur soweit gingen, wie sich die entsprechenden Theorien im Rahmen der gerade herrschenden Denknormen interpretieren ließen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Subsumtion des Werkes Vygotskijs unter den Tätigkeitsansatz Leont’evs und die immer wieder anzutreffende Behauptung einer einheitlichen Vygotskij-Leont’ev-Lurija-Schule. Diese Art der Rezeption wurde auch international teilweise übernommen.5 Um diese gemeinhin behauptete

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