Christian Klein / Franz-Josef Deiters (Hg.) Der Erste Welt- krieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven ABHANDLUNGEN ZUR LITERATURWISSENSCHAFT Abhandlungen zur Literaturwissenschaft Christian Klein / Franz-Josef Deiters (Hg.) Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und austra lische Perspektiven / The First World War in Drama – German and Australian Perspectives J. B. Metzler Verlag Die Herausgeber Dr. Christian Klein ist Akademischer Rat (a. Z.) und Privatdozent für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Dr. Franz-Josef Deiters ist Professor für Germanistik an der Monash University, Melbourne, und Mitglied der Australian Academy of the Humanities. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-04671-0 ISBN 978-3-476-04672-7 (eBook) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz: Dörlemann Satz, Lemförde J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 Inhalt Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven. Einleitende Bemerkungen ................................... 1 Christian Klein Die Weltkriegsdramatik der Weimarer Republik – Präsenz, Typen, Themen .... 7 Andreas Dorrer »Fluch allen, die den grausen Völkermord entfesselten!« – Der Legitimationsdiskurs in Weltkriegsdramen bis 1918 ..................... 21 Alexander Honold Die Geburt der Ehekomödie aus dem Ernstfall des Krieges – Hofmannsthals Der Schwierige ............................................. 39 Grażyna Krupińska Ein neues Geschlechterverhältnis? – Bertolt Brechts Trommeln in der Nacht ... 59 Stefan Neuhaus Der Große Krieg und die große Verunsicherung – Diskurse über Freiheit in Dramen Ernst Tollers, Ödön von Horváths und Bertolt Brechts .............. 69 Franziska Thiel Die letzten Tage der Menschheit – Karl Kraus’ Weltkriegsdramatik ............. 85 Franz-Josef Deiters »Gegossen in den Schmelztiegeln der GroßIndustrie, gehärtet und geschweißt in der Esse des Krieges« – Erwin Piscator oder Die Geburt der Theateravantgarde in den Gräben des Ersten Weltkriegs ................. 101 Antonius Weixler »Der Feind ist immer – hinten, vorn immer nur – der Gegner« – Schlacht beschreibungen in der deutschsprachigen Dramatik zum Ersten Weltkrieg .... 119 VI Inhalt Friederike B. Emonds Inszenierungen weiblicher Erinnerungen im Weimarer Nachkriegsdiskurs – Ilse Langners Theaterstück Frau Emma kämpft im Hinterland ................. 141 Dagmar Heißler »Das erste Kriegsdrama der Gefallenen« – Hans Chlumbergs Wunder um Verdun ............................................................... 157 Daniel Becker »you who sleep in silence and without one protest« – World War One Commemoration and the ›Invisible‹ Soldier in the Plays of Sydney Tomholt .... 171 Christian Klein »Das ist nicht ein Kriegsstück: das ist der Krieg« – Die Weltkriegsdramatik in der Theaterkritik der Weimarer Republik ................................. 187 Christiane Weller Weltkriegsdrama und Nationalsozialismus ................................. 201 Beate Neumeier und David Kern Remembrance and Memorialisation – Tom Wright’s Black Diggers (2015) and the Anzac Myth ....................................................... 223 Andreas Dorrer Verzeichnis der deutschen Weltkriegsdramen ............................... 237 Beiträgerinnen und Beiträger ........................................... 259 Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven 1 Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven Einleitende Bemerkungen Der Erste Weltkrieg, dessen Verarbeitung in Drama und Theater den Fokus dieses Bandes bildet, war mit vorangegangenen Kriegen nicht zu vergleichen. Siege und Niederlagen wurden weniger durch ›soldatisches Handwerk‹ entschieden, sondern waren primär zu technischen Problemen geworden. Überlegenes Material tötete ano- nym und massenhaft: Gasgranaten, Flugzeuge, Maschinengewehre, Flammenwerfer, U-Boote, Torpedos, Panzerfahrzeuge – all diese neuartigen Kriegsgeräte gelangten im Ersten Weltkrieg zur Anwendung. Der Bruch mit dem Konzept des »gehegten Krieges«1 und die Radikalisierung der Kriegsführung, die 1916/17 im Rahmen des Seekriegs begann, nahmen nach und nach Züge des ›totalen Krieges‹ an.2 Es blieb nur noch wenig Raum für die Vorstellung vom hehren, edlen Kampf um eine gerech- te Sache, Soldaten-Leben gegen Soldaten-Leben, vom reinigenden Krieg und dem großen Neuanfang. Was blieb, waren unerbittliche Materialschlachten, bei denen Hunderttausende ihr Leben für wenige Meter Landgewinn ließen – umstürzende Erfahrungen, die in keiner Beziehung zu vorgängigem Wissen und Empfinden zu stehen schienen. Walter Benjamin hat diesen Eindruck in seinem 1933 erschienenen Essay Erfahrung und Armut aufgegriffen. In früheren Zeiten, so Benjamin, seien Erfahrungen eine zuverlässige und omnipräsente Orientierungshilfe gewesen: Man wußte genau, was Erfahrung war: immer hatten es die älteren Leute an die jünge- ren gegeben. In Kürze, mit der Autorität des Alters, in Sprichwörtern; weitschweifig mit seiner Redseligkeit, in Geschichten; manchmal als Erzählung aus fremden Ländern, am Kamin, vor Söhnen und Enkeln.3 Doch diese Zeiten seien vorbei, denn: Die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914–1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Er- fahrung. [...] Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden [...]. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule 1 Vgl. Dieter Langewiesche/Nikolaus Buschmann: »›Dem Vertilgungskriege Grenzen set- zen‹. Kriegstypen des 19. Jahrhunderts und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Gehegter Krieg – Volks- und Nationalkrieg – Revolutionskrieg – Dschihad«. In: Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender, Dieter Langewiesche (Hg.): Formen des Krieges von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2007, 163–195. 2 Vgl. Hans-Peter Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Frankfurt/M. 1995, 231. 3 Walter Benjamin: »Erfahrung und Armut« [1933]. In: Ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge (= Gesammelte Schriften Bd. II.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäu- ser). Frankfurt/M. 1991, 213–219, hier: 214. 2 Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.4 Dem Theater als zentraler Institution des öffentlichen Diskurses nach 1918 und der Dramatik als eminent wirkmächtiger Gattung, die ein besonders großes Publikum erreichte, kamen in diesem Kontext ganz zentrale Funktionen zu.5 Die Bühnen ver- handelten die Themen, die die Menschen bewegten, sie präsentierten Ereignisse, Konstellationen und deren Konsequenzen, mit denen sich die Zuschauer identifizie- ren konnten, weil sie darin ihre eigene Wirklichkeit gespiegelt fanden. In diesem Sin- ne sind die Weltkriegsdramen wesentliche Bestandteile eines Erinnerungsdiskurses, die jeweils unterschiedliche Angebote zur Deutung der Kriegserlebnisse machten und diese aufgrund der kollektiven Rezeptionssituation im Theater effektiver ver- breiten konnten als etwa die auf eine individuelle Rezeption angelegten Gattungen des Romans oder der Lyrik. Indem die Dramen auf diese Weise das Geschehen und Erleben in einen übergeordneten Deutungszusammenhang einpassten, halfen sie dabei, ›dem Ganzen‹ einen Sinn zu geben (wie auch immer der im Einzelnen aus- sehen mochte) und übernahmen eine wichtige identitätspolitische Funktion. Ange- sichts der besonderen Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Kultur und Gesellschaft ab 1914 und des Dramas für den öffentlichen Diskurs überrascht es, wie wenig sich die Forschung bisher dieses Themas angenommen hat. Vor diesem Hintergrund liegt dem Band ein doppelter Fokus zugrunde: Zum einen wird die Dramatik zum Ersten Weltkrieg erstmals in ihrer Vielgestaltigkeit in den Blick genommen, werden zentrale Stücke in einen übergreifenden Diskus- sionszusammenhang gestellt, die Auswirkungen der Kriegserfahrung auf die Kon- zeptionalisierung von Theater erkundet und die Bewältigung der Kriegsthematik auf der Bühne im Fokus der Theaterkritik ausgeleuchtet. In der Zusammenschau lassen sich idealerweise erste Ansätze zur Kartographierung und Ausgangspunkte zur systematischen Diskussion – etwa im Hinblick auf Textstrukturen, Performativi- tätsfragen oder spezifische Diskurse – der Weltkriegsdramen sowie der einschnei- denden Konsequenzen der Kriegserfahrung auf die Rolle des Theaters ausmachen. Zum anderen untersucht der Band eben nicht nur Repräsentationen des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Drama, sondern auch im australischen. Zugrunde liegt diesem Zugriff die Idee, dass die Dramen als zentrale Medien national-kul- tureller Erinnerungsdiskurse verstanden werden können. In diesem Sinne sind die literarischen Verarbeitungen der Erlebnisse des Ersten Weltkriegs zentral für das Verständnis historisch unterschiedlicher gesellschaftlich dominanter Vorstellungen von nationaler und kultureller Identität. 4 Benjamin: »Erfahrung und Armut« (wie Anm. 3), 214. 5 Hierzu und zum Folgenden: Christian Klein: »Die Weltkriegsdramatik der Weimarer Repu- blik – Präsenz, Typen, Themen« (in diesem Band); vgl. ferner Martin Baumeister: »Kampf ohne Front? Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik«. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007, 357–376. Zur Bedeutung des Theater in den Kriegsjahren vgl. Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur. Essen 2004. Der Erste Weltkrieg in der Dramatik – deutsche und australische Perspektiven 3 Nicht erst seit den diversen Erinnerungsveranstaltungen im Frühjahr 2014 ist der Erste Weltkrieg in Deutschland und Australien allgegenwärtig. In beiden Ländern kommt der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg eine wesentliche Bedeutung im kollektiven Gedächtnis zu – wenn auch unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen. Während er in Deutschland als erster Höhepunkt einer Folge katastrophischer Ent- wicklungen gedeutet wird, die in der Folge das ganze 20. Jahrhundert in Europa prägten, wird er in Australien (Stichwort: Gallipoli-Mythos) zumeist als eine Art Geburtsstunde der Nation interpretiert. Die vergleichbar große Relevanz des Ersten Weltkriegs im deutschen und australischen Erinnerungsdiskurs bei gleichzeitig ganz unterschiedlicher Bewertung lässt vor dem Hintergrund der Wirkmächtigkeit des Theaters jedenfalls die Dramatik zum Ersten Weltkrieg als idealen Forschungsgegen- stand transnationaler komparatistischer Forschung erscheinen. Das Spektrum der Zugänge zum literarischen Feld des Weltkriegsdramas ist dabei in einer Weise breit gestreut, die eine Zuordnung der einzelnen Beiträge zu Sektio- nen nicht sinnvoll erscheinen lässt. Die Herausgeber haben sich daher entschieden, die Aufsätze in cum grano salis chronologischer Weise zu präsentieren, die zudem auf eine Separierung der Untersuchungen zum australischen und deutschen Drama verzichtet. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Feld des Weltkriegsdra- mas bislang weitgehend unerschlossen ist, wird den einzelnen Fallstudien der Ver- such Christian Kleins (Bergische Universität Wuppertal) vorangeschickt, das Feld der Weltkriegsdramatik aus systematischer Perspektive in den Blick zu bekommen. Dafür schärft er die Begrifflichkeiten, mit denen im Hinblick auf die Weltkriegs- dramen operiert wird, entwirft eine Typologie der Weltkriegsdramatik und skizziert deren zentrale Themen. Einen diskursanalytischen Zugang zur Ordnung des Feldes wählt Andreas Dorrer (Monash University, Melbourne), wenn er die Verschiebun- gen sichtbar macht, die sich im dramatischen Legitimationsdiskurs zwischen 1915 und 1918 abzeichnen. Während es den bis 1915 entstandenen deutschen Weltkriegs- stücken vornehmlich um die Darstellung des Krieges als eines dem Deutschen Reich von seinen Feinden aufgezwungenen Verteidigungskrieges geht, propagieren die ab 1916 entstandenen Bühnentexte die Opferbereitschaft der sogenannten Heimatfront. Den Fokus auf die Nachkriegsdramatik erweitert der Aufsatz von Alexander Honold (Universität Basel). Honold liest Hugo von Hofmannsthals 1921 erstpublizierte Ko- mödie Der Schwierige als das Drama eines Kriegsheimkehrers, den die erlittenen Traumata auf eine bestimmte Weise von seiner sozialen Umwelt isolieren und der unter den für seine nervliche Anspannung verständnislosen Anhängern des Status quo seine eigene Rolle in der Nachkriegsgesellschaft erst finden muss. Demgegen- über geht Grażyna Krupińska (Universität Kattowitz) in ihrem Beitrag dem sich verschiebenden Geschlechterverhältnis in einem anderen Kriegsheimkehrerdrama nach: Bertolt Brechts Trommeln in der Nacht (1922). Von seinem Ende her liest sie das Stück als Absage an das tradierte romantische Geschlechterverhältnis, das im Lichte der Kriegserfahrungen einer Neudefinition im Sinne einer partnerschaftli- chen Ausgestaltung der Mann-Frau-Beziehungen bedarf. Einen wiederum anderen Akzent setzt Stefan Neuhaus (Universität Koblenz-Landau). Er geht in seinem Bei- trag an Beispieldramen von Ernst Toller, Bertolt Brecht und Ödön von Horváth der Frage nach, wie es nach der großen Verunsicherung des Weltkriegs in der Weimarer Republik zu einer Umkodierung des Freiheitsbegriffs kommt. Überwiege in Tollers