-1- Aus der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/ Plastische Operationen am Dietrich Bonhoeffer Klinikum Neubrandenburg Akademisches Lehrkrankenhaus der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Chefarzt: Priv. Doz. Dr. med. Dr. med. dent. B. Liebermann) Thema: „Der Einfluß einer präoperativen Antibiotikaprophylaxe bei operativen Weisheitszahnentfernungen auf die postoperative Wundinfektion- eine prospektive, randomisierte klinische Studie zur Effektivität einer präoperativen oralen one- shot- Prophylaxe mit 600 mg Clindamycin (Sobelin®)“ Inaugural- Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Medizin (Dr. med.) der Medizinischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2006 -2- vorgelegt von: Carsten Dittes, Arzt und Zahnarzt, Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie geb. am: 3. Mai 1968 in: Nordhausen gewidmet meinen Eltern Dekan: Prof. Dr. rer. nat. Heyo K. Kroemer 1. Gutachter: Priv.- Doz. Dr. med. Dr. med. dent. B. Liebermann (Neubrandenburg) 2. Gutachter: Prof. Dr. med. W. Sümnig (Greifswald) 3. Gutachter: Prof. Dr. med. Dr. med. dent. K.- O. Henkel (Hamburg) Ort, Raum: Hörsaal des Zentrums für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Ernst- Moritz- Arndt- Universität Greifswald Disputation : 23.08.2006 -3- 1. Einleitung 5 1.1. Besonderheiten der Mundhöhle als Operationsgebiet 5 1.2. Aufgabenstellung und Ziel 6 2. Zahnentwicklung und Zahndurchbruch 7 2.1. Häufigkeit der Retention 10 2.2. Schwierigkeitsindex für untere Weisheitszähne nach Pedersen 11 3. Die chirurgische Weisheitszahnentfernung (Alter, Zeitpunkt, Indikationen) 12 3.1. Alter des Patienten und Zeitpunkt der Operation 12 3.2. Indikationen zur operativen Weisheitszahnentfernung 13 3.2.1. Therapeutische Indikation 13 3.2.2. Prophylaktische Indikation 16 3.3. Prophylaktische Indikation aus kieferorthopädischer Sicht 18 4. Operatives Vorgehen und Schnittführungen bei der Weisheitszahnentfernung 21 4.1. Die Schnittführung im Unterkiefer 22 4.2. Die Schnittführung im Oberkiefer 24 5. Die natürliche und gestörte Wundheilung nach der Weisheitszahnentfernung 25 5.1. Wundheilungsformen und allgemeine Grundlagen 25 5.1.1. Die primäre Wundheilung 25 5.1.2. Die sekundäre Wundheilung 25 5.1.3. Schorfige Wundheilung 25 5.2. Wundheilungsphasen 26 5.3. Die natürliche Heilung nach der Zahnentfernung 26 5.4. Die gestörte Wundheilung nach der Zahnentfernung 27 6. Komplikationen bei Weisheitszahnentfernungen 28 6.1. Intraoperative Komplikationen 28 6.1.1. Luxationen und Zahnfrakturen 28 6.1.2. Verschlucken und Aspiration 29 6.1.3. Weichteilverletzungen 30 6.1.4. Blutungen 31 6.1.5. Prolaps des BICHAT´schen Wangenfettpfropfes 32 6.1.6. Emphysem 32 6.1.7. Nervkomplikationen (N. alveolaris inf. und N. lingualis) 32 6.1.8. Unterkieferfraktur 34 6.1.9. Tuberabriß und Tuberfraktur 35 6.1.10. Gelenkluxationen 36 6.1.11. Kieferhöhleneröffnungen 36 6.1.12. Instrumentenfrakturen und Verletzung benachbarter Zähne 37 6.2. Postoperative Komplikationen 38 6.2.1. Infektiöse Komplikationen 38 6.2.2. Nachblutungen und Hämatome 41 6.2.3. Postoperative Fraktur 42 -4- 7. Die antimikrobielle Chemoprophylaxe in der Zahnheilkunde unter besonderer Berücksichtigung von Clindamycin (Sobelin®) 43 7.1. Wirkungsweise und Wirkmechanismus von Antibiotika 43 7.2. Antibiotikaprophylaxe in der zahnärztlichen und Kieferchirurgie 45 7.3. Keimarten in der Mundhöhle 47 7.4. Keimspektrum bei Wundinfektionen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich 48 7.5. Infektionsfördernde Faktoren 49 7.6. Wundeinteilung nach zu erwartendem Infektionsrisiko 50 7.7. Verfahren der Antibiotikaprophylaxe 51 7.8. Antibiotikaprophylaxe mit Clindamycin (Sobelin®) 52 8. Material und Methode 53 8.1. Darstellung des Patientenerfassungsbogens 53 8.1.1. Präoperative Kriterien 53 8.1.2. Anästhesieverfahren in beiden Gruppen 55 8.1.3. Intraoperativer Verlauf 56 8.1.4. Postoperativer Verlauf 59 8.2. Patientenerfassungsbogen 60 9. Ergebnisse 64 9.1. Präoperativer Hygienestatus 64 9.2 OP- Indikationen in der prophylaxefreien Gruppe 65 9.3. Postoperative Wundinfektionen in der prophylaxefreien Gruppe 66 9.4. OP- Indikationen in der Prophylaxegruppe 68 9.5. Postoperative Wundinfektionen in der Prophylaxegruppe 68 9.6. Vergleich von prophylaxefreier und Prophylaxegruppe 70 9.6.1. Postoperative Schmerzintensität nach Weisheitszahnentfernungen 71 9.6.2. Schwellung nach Weisheitszahnentfernung 72 9.6.3. Nervkomplikationen 73 9.6.4. Postoperative Nachblutungen 73 9.6.5. Kieferhöhleneröffnungen 74 10. Diskussion der Ergebnisse 75 11. Statistische Erhebung zur Signifikanz 76 12. Zusammenfassung 77 13. Thesen 78 Literaturverzeichnis 79 Abbildungsverzeichnis 84 Tabellen und Diagramme 87 Eidesstattliche Erklärung 89 Lebenslauf 90 Danksagung 91 -5- 1. Einleitung 1.1. Besonderheiten der Mundhöhle als Operationsgebiet Weisheitszahnentfernungen sind die häufigsten Eingriffe in der zahnärztlichen Chirurgie. Die Mundhöhle stellt aufgrund ihrer bakteriellen Besiedelung als endogene Infektionsquelle eine topographische Besonderheit dar. Damit geht jeder operative Eingriff in der Mundhöhle mit einer Kontamination der Operationswunde einher. Eine Kontamination der Operationswunde in der Mundhöhle führt jedoch nicht unausweichlich zu einer Infektion. Im Allgemeinen besteht ein Gleichgewicht zwischen der Mundhöhlenflora und dem Immunsystem. Bei einer Kontamination der Operationswunde der Mundschleimhaut ist jedoch eine Eintrittspforte für Mikroorganismen gegeben. Bei Störungen des Gleichgewichts zwischen der Virulenz der endogenen Mundhöhlenkeime und des Immunstatus des Patienten kann eine postoperative Wundinfektion die Folge sein. Ob man durch eine antimikrobielle Chemoprophylaxe bei diesen operativen Routineeingriffen in der Zahnheilkunde eine mögliche postoperative Wundinfektion verhindern kann, soll durch eine prospektive klinische Studie objektiviert werden. Antibiotika haben seit ihrer Erfindung bei der Behandlung von erregerbedingten Erkrankungen in der Medizin einen hohen Stellenwert. Ihre Bedeutung für einen prophylaktischen Einsatz von Antibiotika zur Vermeidung einer Wundinfektion bei sauberen und kontaminierten Operationswunden wird in der Praxis noch kontrovers diskutiert. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus allen chirurgischen Fachdisziplinen haben in den letzten Jahren grundlegende Prinzipien einer antimikrobiellen Chemoprophylaxe bei kontaminierten Operationswunden erarbeitet. Einigkeit besteht darüber, dass eine Infektionsprophylaxe der Operationswunde mit antimikrobiellen Chemotherapeutika präoperativ beginnen muss und sich auf eine kurzzeitige prä- oder perioperative Applikation antimikrobiell wirksamer Substanzen zu beschränken hat. Die Indikation einer antimikrobiellen Chemoprophylaxe ist vor allem von dem zu erwartenden Infektionsrisiko und seinen eventuellen Folgen abhängig. Das postoperative Infektionsrisiko wird hauptsächlich mitbestimmt von der Qualität und Quantität sowie der Virulenz der die Operationswunde kontaminierenden Erreger, dem Zustand der Operationswunde nach Beendigung der Operation, der körpereigenen Abwehrlage des Patienten und nicht zuletzt vom Wissen und Können des Operateurs selbst. -6- Die Kenntnis der individuellen Mischflora der Mundhöhle sowie das Resistenzverhalten vorhandener fakultativ pathogener Keime sind für eine antimikrobielle Chemoprophylaxe von Bedeutung. Die Probleme bei der Entwicklung von antibiotikaresistenten Erregern, die Gefährdung des Patienten durch mögliche Antibiotikanebenwirkungen und nicht zuletzt ökonomische und ökologische Gesichtspunkte machen einen gezielten und kritischen Einsatz von antimikrobiellen Chemotherapeutika in der prophylaktischen Anwendung erforderlich. Umstritten ist in der medizinischen Literatur nach wie vor, ob eine präoperative antimikrobielle Chemoprophylaxe bei operativen Weisheitszahnentfernungen das Risiko des Auftretens einer postoperativen Wundinfektion beeinflusst. Durch eine prospektive, randominisierte Studie bei operativen Weisheitszahnentfernungen soll der Wert einer präoperativen oralen Einmalgabe von 600 mg Clindamycin (Sobelin®) gegenüber einem Verzicht auf eine Antibiotikaprophylaxe bei diesen Operationen objektiviert werden. 1.2. Aufgabenstellung und Ziel Postoperative Wundinfektionen stellen die häufigste Komplikation bei operativen Eingriffen in der Mundhöhle dar. Damit verbunden sind Verzögerungen des Heilverlaufes, zusätzliche Belastungen für den Patienten, Verlängerung der Behandlungsdauer und höhere medikamentöse Kosten. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die Inzidenz und Verteilung postoperativer Wundinfektionen in Abhängigkeit von einer oralen präoperativen Einmalgabe von 600 mg Clindamycin (Sobelin®) bei operativen Weisheitszahnentfernungen in Narkose und auch in Lokalanästhesie festzustellen. Ziel ist herauszufinden, ob eine generelle einmalige präoperative Antibiotikaprophylaxe die Häufigkeit von postoperativen Wundheilungsstörungen vermindern oder sogar vermeiden kann. -7- 2. Zahnentwicklung und Zahndurchbruch Im Röntgenbild lässt sich die Weisheitszahnanlage erstmalig ungefähr zwischen dem 7. und 10. Lebensjahr nachweisen. Auch können schon erste Mineralisationen in diesem Alter auftreten. Der mittlere Durchbruchszeitpunkt wird ca. um das 20. Lebensjahr angegeben, variiert aber doch individuell erheblich. Die späte Entwicklung und der späte Durchbruch der Weisheitszähne ist die Ursache für ihre häufige Retention. Beim Zahndurchbruch verschmilzt das Epithel des Zahnsäckchens mit dem Epithel der Mundschleimhaut. Es entsteht ein perikoronarer Spaltraum, der innen durch den Schmelz und außen durch das Zahnsäckchen mit dem Schmelzepithel begrenzt ist. Während des Durchbruches entsteht dabei ein idealer Schlupfwinkel für Bakterien, Speisereste und Zelldetriten, der sich erst mit zunehmendem Durchbruch des Zahnes zurückbildet und nach Einstellung in der Mundhöhle vollständig verschwindet. Der Zahndurchbruch kann jedoch nur dann ungestört ablaufen, wenn die Zahnkrone auf eine fest mit dem Periost verbundene Gingiva trifft. Vor allem bei unteren Weisheitszähnen bricht wegen häufigem Platzmangel nur der mesiale Höcker durch, während der distale Höcker auf die bewegliche Alveolarmukosa des aufsteigenden Unterkieferastes auftrifft. Dadurch wird diese nur angehoben und bleibt über der Zahnkrone liegen. Meistens kommt der Zahndurchbruch im Unterkiefer über dieses Stadium nicht oder nur langsam hinaus, so dass der distale perikoronarer Spaltraum als Schlupfwinkel dauernd bestehen bleibt. Wenn ein Zahn nach Abschluss seines Wachstums nicht die Okklusionsebene erreicht, spricht man von einer Retention. Ist der Zahn im Kiefer verblieben und vollständig von Knochengewebe umgeben, liegt eine komplette Retention mit Impaktion vor. Die Impaktion ist hierbei eine besondere Form der Retention und der Zahn kann auch durch benachbarte Gebilde (Zähne, Tumoren) am Durchbruch gehindert werden. In der Literatur werden jedoch die Begriffe Retention und Impaktion als Synonym verwendet. Hiervon abzugrenzen sind Zähne, die nur mit einem Kronenteil die Schleimhaut perforieren und die Okklusionsebene noch nicht erreicht haben. Hierbei spricht man von einer Teilretention oder partiellen Retention. Als Ursache der Retentionen werden zahlreiche Möglichkeiten diskutiert. Oftmals ist jedoch die Klärung im Einzelfall gar nicht möglich. Der häufigste Grund ist allerdings der Platzmangel als Ausdruck einer Diskrepanz zwischen Zahl oder Größe der Zähne und der Kiefergröße. Bereits RICKETTS (1980) gab eine Möglichkeit an, das Missverhältnis relativ einfach zu bestimmen. Dies sei bereits in einem Alter von 9- 11 Jahren durchführbar. Durch Kephalometrische Untersuchungen soll mit einer Genauigkeit von 95 % eine Vorhersage über Größe und Form des Unterkiefers gemacht werden können. -8- Abb. 1:Wachstumskurve des Unterkiefers (RICKETTS in „Impaktierte Zähne-okklusale Artikulation“) Aufsteigender Unterkieferast und Gelenkfortsätze wachsen in erster Linie in kranialer und dorsaler Richtung, wobei sich die Vorderkante des Ramus mandibulae nur wenig verändert. Bei einer Distanz vom Zentrum des aufsteigenden Astes eines ausgewachsenen Menschen zur distalen Begrenzung des 2. Molaren von 30 mm ist die Prognose für eine regelrechte Einstellung gut. Kritisch wird es ab Werten unter 25 mm. Abb. 2: A: impaktierter dritter Molar mit Abstand Xi- Ramuspunkt zur Distalseite des 2. Molaren von nur 20 mm B: im normalen Unterkiefer liegt der 3. Molar zur Hälfte hinter der Linea obliqua C: Platzangebot mesial der Linea obliqua beträgt 100 % bei einem 20 jährigen Mann und der Abstand Xi/ 2. Molar 30mm (RICKETTS in „Impaktierte Zähne-okklusale Artikulation“) -9- Die Ursache des Platzmangels liegt in der entwicklungsgeschichtlichen Rückbildung der Kiefer. Die Weiterentwicklung des Hirnschädels bedingt eine Verkleinerung des Gesichtsschädels. Dadurch ist die Summe der Zahnbreiten größer als die tatsächlich vorhandene Kiefergröße. Weil die Weisheitszähne sich als letztes entwickeln, finden sie dann keinen Platz mehr für ihre regelrechte Einstellung in den Kiefer. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer leicht erkennbarer Ursachen, die meist als mechanisches Hindernis auftreten. Hier sind Zahnverwachsungen, Zysten, Tumore und umschriebene Infektionen zu nennen. Zudem kommen noch traumatische Einflüsse, Vitaminmangel sowie endokrine Faktoren und bestimmte Syndrome (z.B. Dysostosis cleidocranialis) als Ursache für die Retention in Frage. Abb. 3: Ausgedehnte follikuläre Unterkieferzyste li. ausgehend von disloziertem Zahn 38 und Spontanfraktur bei V. a. GORLIN-GOLTZ-Syndrom (multiple Gesichtshautbasaliome) -10- 2.1. Häufigkeit der Retention Wenn man von der natürlichen Zahnentwicklung ausgeht, dann sind die Weisheitszähne, bedingt durch ihre späte Entwicklung, am häufigsten von Retentionen betroffen. DACHI und HOWELL (1961) fanden in einer Untersuchung von 3874 Patienten heraus, dass jenseits des 20. Lebensjahres 17 % der Patienten mindestens einen retinierten Zahn hatten. MEAD (1930) berichtet, dass es sich bei 581 retinierten Zähnen um 461 Weisheitszähne handelte (79,3 %). Im Sprachgebrauch werden verschiedene Begriffe verwendet. Die Begriffe „retiniert“, „verlagert“ und „impaktiert“ werden meistens voneinander abgegrenzt, häufig werden sie jedoch auch als Synonym gebraucht. Im deutschen Schrifttum kommen „retiniert“ und „verlagert“ am häufigsten vor. Zur Diagnostik retinierter und verlagerter Weisheitszähne ist das Orthopantomogramm am besten geeignet seine Beziehungen zu Nachbarstrukturen wie dem zweiten Molaren, Mandibularkanal, Unterkieferrand und der Kieferhöhle aufzuzeigen. Der Zahnfilm bietet zwar gegenüber dem OPG eine originalgetreue Wiedergabe des betreffenden Gebietes, ist allerdings oftmals wegen seiner unzureichenden Abbildung der Nachbarstrukturen nicht ausreichend verlässlich. In manchen Fällen kann auch eine Schädel- posterior- anterior- Aufnahme erforderlich sein. Hiermit lässt sich die zweite Ebene darstellen und die linguale bzw. vestibuläre Lage unterer Weisheitszähne erfassen. Wir ziehen gelegentlich auch eine Abbildung mittels DENTA- CT in Erwägung, falls der Mandibularkanal weit oberhalb der Wurzelspitzen des unteren Weisheitszahnes verläuft, um einen interradikulären Nervverlauf erkennen zu können. Abb. 4: röntgenologischer Verdacht auf interradikulären Nervenverlauf