BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON PROF. DR. GUSTAV GRÖBER f FORTGEFÜHRT UND HERAUSGEGEBEN VON DR. ALFONS HILKA PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT GÖTTINGEN LXXIX. HEFT NELLIE NICOLET DER DIALEKT DES ANTRONATALES MAX NIEMEYER VERLAG HALLE (SAALE) 1929 DER DIALEKT DES ANTRONATALES LAUTLEHRE, FORMENLEHRE, TEXTE, GLOSSAR VON NELLIE NICOLET MAX NIEMEYER VERLAG HALLE (SAALE) 1929 Alle Rechte, auch das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale), 1929 Printed in Germany Laut- und Formenlehre wurden als Bemer Dissertation gedruckt Druck von Karras, Kröber & Nietschmann, Halle (Saale) MEINEN LIEBEN ELTERN, MEINEM LIEBEN MANN ZUGEEIGNET Inhaltsverzeichnis. Seite Einleitung i I. Lage des Tales und Lebensbedingungen seiner Bewohner . . I 3. Geschichte des Antronatales 4 3. Sammlung des Materials 6 4. Phonetische Transkription 9 5. Abkürzungen der zitierten Werke 10 Betonte Vokale 12 A §§ I—5 J2 K §§6-15 IS I §§ 16, 17 23 0 §§ 18 — 24 22 U §§25, 26 25 Unbetonte Vokale 27 Vortonvokale 27 A §§27 — 29 27 E §§ 30-33 28 1 §§ 34 — 36 29 O §§ 37 — 39 30 U §§ 40, 41 31 Nachnebeutonvokale § 42 31 in der Ultima §§43 — 47 31 in der Paenultima §§48—50 33 Umlaut §§ Sl—56 35 Konsonanten 38 J und J-Verbindungen §§ 57—65 38 L §§66—73 40 R §§ 73-75 • • • 4« V §§76-83 43 F §84 46 W §85 • 46 QU §§ 86, 87 46 S und S-Verbindungen §§88 — 94 47 N §§95—»06 49 M §§107—110 53 VIII Seite C«, G» und C, G-Verbindungen §§ III—122 54 CL, GL, CT §§ 123—127 59 C«.¡, G«,¡ §§ 128 — 133 61 T, D §§ 134-137 64 P, B §§ 138, 139 66 Allgemeine lautliche Erscheinungen §§ 140—154 67 Formenlehre §§ 155—199 73 Zusammenfassung: Die Mundarten des Antronatales in ihrer Eigenart und in ihrer Stellung innerhalb der westoberitalienischen und bünd- nerischen Spracbgruppen. § 200 86 Texte 93 Glossar—Index 99 Karte der Ossola. Einleitung. i. Lage des Tales und Lebensbedingungen seiner Bewohner. Das Antronatal ist eines der westlichen Täler der Landschaft Ossola, dessen Gewässer in den Schneebergen an der Grenze zwischen Italien und Wallis entspringen und sich bei Villa- dossola, etwa anderthalb Stunden unterhalb Domodossola, in der Talsohle in den Hauptflufs Toce (la l$s) ergiefsen. Das bis Antro- napiana nur 16 km lange Tal öffnet sich in Villadossola (vila, 260 m). In einigen steilen Schlingen erhebt sich die Fahrstrafse von hier zum ersten Dorf des Tales, Montescheno (muntuikfrj oder muntalkty; die unterste Fraktion, Cresti krfit, liegt auf ca. 500 m), und steigt dann allmählich an den Dörfern Seppiana, Viganella (vigan{la), Schieranco (si'frärjk) vorbei, bis sie nach einigen neuen Windungen in starker Steigung Antronapiana (anlryna, 902 m) erreicht, das mit seinen 590 Seelen (1924) die gröfste und zugleich letzte ständig bewohnte Ortschaft des Tales ist. Es liegt in einem weiten Talkessel, in dem sich die beiden obersten Zweigtäler zum Antronatal vereinigen. Diese mehrere Stunden langen Täler mit den Bächen Loranco (fyfm da c/d) im Norden und Troncone {fyfm da-ju lac) im Südwesten, die zusammen die Ovesca (la fyfm) bilden, bestehen in ausgedehnten Weiden und Alpen, die meist der Gemeinde Antrona gehören und im Sommer von den Antronesen bewirtschaftet werden. Eine Reihe von Pässen fuhrt von Antrona in den Kanton Wallis; dazu kommt der Fornalino (furnalfft, 2356 m), über den man im Norden ins V. Bognanco (biüanc), das nördliche Paralleltal des Antronatales, gelangt. Westlich des Fornalino verbinden der Passo del Busin (pas dul bizjil, 2501 m) und der Passo d' Andolla (pas d andfla, 2425 m) Antrona mit dem Zwischbeigental. Vom Tal des Troncone am Antronasee (1083 m) vorbei gelangt man über den Passo di Camposecco (pas ' camsfk, ca. 3000 m) und den Antronapafs (pas dla sd, 2844 m) ins Furggtal, über den Cingino (tingiil, ca. 3050 m) und den Ofentalpafs (antiSna, 2838 m) ins Ofental, die beiden öst- lichen Seitentäler des Saastales. Im Gegensatz zu diesen Pässen sind die nach dem Anzascatal (val andzdica) fuhrenden unwegsam und wenig begangen. Beiluft iur Zeitschi. I rom. Phil. LXXIX l 2 Die Gemeinde Antrona hat vier Fraktionen: um die Kirche herum ant al cd, azn$, kuriläüca und eine Viertelstunde talabwärts rufika Rovesca. Die ärmlichen, eng ineinander gebauten, rohen Steinhäuschen,1 die nicht selten einen hölzernen Oberbau mit offenem Dachraum haben, beherbergen eine einfache, bedürfnislose Bevölkerung, deren Haupterwerbsquelle die Viehzucht und die Landwirtschaft ist, die jedoch nur im kleinen von den Frauen betrieben wird. Der gröfste Teil der Männer war von jeher ge- zwungen auszuwandern; die einen zogen im Winter als Schuster ins Novarese und Vercellese und gingen im Sommer als Köhler nach Frankreich oder blieben als Sennen in den heimatlichen Bergen; andere zogen für längere Zeit nach Frankreich und seit einigen Jahren vor dem Weltkriege auch nach Amerika, wo sie sich meistens als Melker verdingten. Gegenwärtig sind viele von ihnen bei den Arbeiten für das im Bau befindliche groise Elektri- zitätswerk beschäftigt. Während die älteren Frauen und die Kinder auf den Alpen ihre Kühe, Ziegen und Schafe hüten und Butter, Käse und Zieger bereiten, ist die wichtigste Beschäftigung vor allem der jungen Mädchen, während der kurzen Sommermonate möglichst viel Wildheu zu sammeln (attdd a la ¡¿¿et), das sie in schweren Lasten von den unzugänglichsten Orten ins Tal tragen. Abgesehen von ganz wenig Gemüse, hauptsächlich Kartoffeln und Bohnen, liefert der karge Boden nur Hanf, der in verhältnismäfsig grofsen Mengen angebaut wird und noch vor wenig Jahren bis zum fertigen Kleid in Antrona selbst von den Frauen verarbeitet wurde. Nun wird er allgemein in Cresti gestampft und häufig zum Weben und Färben nach Villa gebracht. Ihren ganzen Stolz legen die Antroneser Frauen in die eigen- artige Tracht, die bis vor wenig Jahren ganz allgemein getragen wurde. Über ein grob gewobenes, hänfenes Hemd {la camtza) mit langen Ärmeln {la mättga), das am Ärmelansatz und am Hand- gelenk mit „puncetto" Stickereien {aw rizfl, camiza a rizel) reich verziert ist und einen Kragen {ulpUs) aus gefältelten Klöppel- oder Häkelspitzen hat, tragen sie einen ärmellosen, vorn weit aus- geschnittenen Rock (/ awsti) aus dickem, braunem Woll- und Hanf- stoff {la madzaläri), der aus 14 Längsstreifen so zusammengesetzt ist, dafs hinten ein halbes Dutzend grofse Falten {al fgwl) steif herausstehen; auf den Saum wird ein schmales, schwefelgelbes wollenes Band {u rayy.m) genäht und um die Hüfte ein anderes buntes {bindel, kurtfga) gebunden, die auf einem besonderen kleinen Bandwebstuhl (« tralös dul bindel) gewoben werden. Direkt unter den Armen wird die kurze, kaum über den Schofs reichende Schürze {u ikusäl) aus rotem oder geblümtem Baumwollstoff um- gebunden. Beim Tragen von Lasten ziehen die Antronesinnen über den Rock eine lange, ärmellose Jacke (a iakaryfii) aus Woll- 1 In Rovesca steht noch ein altes Holzhaus auf Mäuseplatten nach Art der Walliser Stadel (t&rbla).