Hartmut Kaelble (Hrsg.) Der Boom 1948-1973 Schriften des Zentralinstituts rur sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universitat Berlin ehemals Schriften des Instituts fUr politische Wissenschaft Band 64 Hartmut Kaelble (Hrsg.) Der Boom 1948-1973 Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa Westdeutscher Verlag Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Boom 1948-1973: gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa/ Hartmut Kaelble (Hrsg.). - Opladen: Westdt. VerI., 1992 (Schriften des Zentralinstituts fiir Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universitat Berlin; Bd. 64) NE: Kaelble, Hartmut [Hrsg.]; Zentralinstitut fiir Sozialwissenschaftliche Forschung <Berlin>: Schriften des Zentralinstituts ... Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Aile Rechte vorbehalten ISBN 978-3-531-12291-5 ISBN 978-3-322-90631-1 (eBook) DOl 10.1007/978-3-322-90631-1 © 1992 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschlielSlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielf:iltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf saurefreiem Papier Inhalt Gerold AmbrosiuslHartmut Kaelble Einleitung: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 1950er und 1960er Jahre .................................................................. 7 I. Theoretische und historische Einordnung des Booms 1948-1973 Burkart Lutz Die Singularitiit der europiiischen Prosperitiit nach dem Zweiten Weltkrieg .... 35 ll. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen des Booms in der Bundesrepublik Hubert Kiesewetter Amerikanische Untemehmen in der Bundesrepublik Deutschland 1950-1974 .. 63 Harm G. Schroter Au6enwirtschaft im Boom: Direktinvestitionen bundesdeutscher Unter- oehmen im Ausland 1950-1975 ......................................................... 82 Klaus Megerle Die Radikalisierung blieb aus. Zur Integration gesellschaftlicher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland wiihrend des Nachkriegsbooms ............ 107 6 lnhall ID. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen in Westeuropa Gerold Ambrosius Wirtschaftswachstum und Konvergenz der Industriestrukturen in Westeuropa .............................................................................. 129 Bo Strath Der Nacbkriegsboom in Schweden: Zur Frage von Kontinuitiit und Bruch im Gesellschaftswandel ........................................................ 169 Walther L. Bernecker Das spanische Wirtschaftswunder. Okonomisches Wachstum und sonaler Wandel in der Franco-Ara ................................................... 190 Hartmut Kaelble Boom und gesellschaftlicher Wandel 1948-1973: Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich ..................................... 219 Gerold AmbrosiuslHartmut Kaelble Einleitung: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 19SOer und 1960er Jahre Was veranlaBt Historiker und historisch interessierte Soziologen, einen Band fiber den Boom der 1950er und 1960er Jahre herauszugeben? Ein neues Beispiel fUr die Nostalgie nach der harmonischen Welt der Prosperitiitsjahre der Bundesrepu blik, der Zeit des Wirtschaftswunders und des ungebrochenen Wachstumsopti mismus? Die clevere Plazierung eines Themas in Erwartung eines Booms in den 1990er Jahren? Oder ist es die Abrechnung mit einer Epoche, an deren Irrtiimem, Fehlplanungen und dauerhaften Schielen wir immer noch leiden? Erster und augenfiilligster Grund: Mit der Geschichte dieses Booms befaBt sich fast niemand. Nicht Historiker, sondem ein Soziologe, Burkart Lutz, und ein Okonom, Jean Fourastie, haben die bisher wichtigsten Bficher fiber diese Epoche geschrieben1• Neben diesen beiden Banden liegt zwar viel zur Geschichte jener Zeit, aber wenig zur Geschichte des Booms vor. Weder die Wirtschaftsgeschichte noch die Sozialgeschichte des Booms und seine vielfiiltigen Folgen sind bisher gut erforscht. Das ist erstaunlich, denn·der Boom hat die heute Lebenden zutiefst gepriigt: Die jetzt Sechzig- und Siebzigjahrigen haben den Boom als eine Periode der Sorglosigkeit und des Aufatmens nach einer Zeit der leidensvollen Jugend oder des jungen Erwachsenendaseins wahrend der Weltwirtschaftskrise, der NS Machtergreifimg, der Kriegs-und der Nachkriegsjahre erlebt. Die heute Vierzig und Ffinfzigjahrigen sind in ihrer Kindheit und Jugend von dem Prosperitiitsop timismus des Booms zutiefst gepragt worden. Ffir die heute Zwanzig- und Drei J3igjahrigen war der Umbruch vom Boom in die wirtschaftliche Krisenhaftigkeit ein Schliisselerlebnis und eine oft schwer zu verarbeitende Korrektur von Erfah rungen und Erwartungen. Zweiter und wichtigerer Grund fUr diesen Band fiber den Boom der 1950er und 1960er Jahre: In dieser Zeit fanden fundamentale historische Weichenstel lungen statt, die die Wirtschaften und Gesellschaften Europas bis heute priigen 1 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwllhrender Prosperitllt. Eine neue Interpretation industrieller wie kapitalistischer Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1984; Jean Fourasti6, Les trentes gwrieuses ou /a revolution invisible, Paris 1979. - 1m folgenden stammen die Teile fiber wirtschaftliche Folgen von Gerold Ambrosius, fiber sozialhistorische Folgen von Hartmut Kaelble. 8 Gerold Ambrosius/Hartlnut Kaelble und bestimmen. Sie sind fUr die Geschichte der Bundesrepublik besonders offen kundig, weil der Boom mit den Griinderjahren der Bundesrepublik zusammenfiillt und schon allein deshalb viele bundesdeutsche Institutionen und Grundorientie rungen aus den Prosperitiitsjahren stammen: die grundsitzlichen wirtschaftlichen Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft ebenso wie der modeme bundesdeutsche Soziaistaat, die Tarifautonomie und die Schlichtungsregeln im Arbeitskonflikt ebenso wie die grundsitzlichen Organisationsformen der Tarifpartner, die Ein heitsgewerkschaft wie die Arbeitgeberverbiinde; die Durchsetzung der Dienstlei stungsarbeit als groBter Erwerbssektor, der Angestellten als groBte Berufsgruppe ebenso wie die Berufstiitigkeit von Ehefrauen und Miittem; das Parteiensystem in der Bundesrepublik ebenso wie die europaische Integration und die Westorientie rung der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Politik; die modemen, von langlebigen Konsumgiitem gepriigten Konsumformen ebenso wie die modeme Bildungsexpansion; die Energie- und Umweltkrise ebenso wie die Krise der Stadt- und Bildungsplanung. Das sind nur Beispiele. Es lieBe sich eine lange Liste von Weichenstellungen aufstellen, die in der Prosperitiitsphase der 1950er und 1960er Jahre ihren Ausgang nahmen. Die meisten fanden auch in an deren westeuropaischenLiindem statt, in denen nieht gleichzeitig ein neuer Staat gegriindet wurde. Der Boom war deshalb europaweit eine Epoche fundamentaler Weichenstellungen und Umbriiche, die bisher unterschatzt, ja sogar vergessen sind, wohl weil sie nicht mit spektakularen Ereignissen wie Kriegen oder Revo lutionen einhergingen. Den Boom als eine Epoche grundsatzlicher Weiehenstel lungen wiederzuentdecken, die bis heute unsere Gesellschaft pragen, ist deshalb eine wichtige Autklarungsaufgabe des Historikers. Ein dritter Grund, der das Interesse einer ganzen Reihe von Historikem und historischen Sozialwissenschaftlem am Boom der fiinfziger und sechziger Jahre erkliirt, sind die Krisen und die wirtschaftlichen und gesellschaftliehen Probleme, die der Boom hervorbrachte und die teilweise bis heute die westeuropaisehen und auch die osteuropaischen Gesellsehaften pragen. Zu diesen Krisen und Problemen gehoren die Wachstumsgrenzen, die durch Energie und Umweltbelastung gesetzt sind und an die die europaischen Wirtschaften und Gesellsehaften wiihrend des Booms zum ersten Mal in aller Harte stieBen. Zu diesem Problem gehort auch die Entscheidungstragheit vieler europaiseher Regierungen und Verwaltungen, die vielfach erheblich langsamer und unzureichender reagierten als die japanischen und nordamerikanischen Regierungen und Verwaltungen. Ein krisenhaftes Erbe der Prosperitiitsjahre ist auch der Stiidtebau, die vielfach ungestaltete Stadtexpan sion, die fehlende Vorausschau bei der Versorgung und mit Dienstleistungen, mit Verkehrsverbindungen, Stadtteilplanungen, die das mensehliche Zusammenleben nicht beriicksichtigen, im schlimmsten Fall die Last verslumter Neubaugettos. Zu den negativen Folgen der Prosperitiitsphase wird vielfach auch die Krise des Wohlfahrtsstaates gerechnet, der urspriinglich auf einem kontinuierlich hohen Wirtschaftswaehstum und damit auch auf einem hohen Wachstum der Offentli chen Finanzen aufbaute, der die Selbsthilfeflihigkeiten in der BevOikerung Einleitung 9 austrocknete und ElWartungen an Offentliche soziale Sicherungen entstehen lie6, die an die Grenzen der Finanzierbarkeit und der Leistungsfibigkeit von Biirokra tien stie6en. In den Prosperititsjahren wurde auch die Bildungskrise erzeugt, eine iiber die Aufnabmefibigkeiten des Marktes hinausgeschossene Expansion des Hochschulsektors, die in den Universititsabsolventen iibersteigerte ElWartungen an Berufschancen weckte und in eine rasch steigende Akademikerarbeitslosigkeit hineinfiihrte. Burkart Lutz hat auf eine weitere negative Auswirkung der Prospe rititsjahre aufmerksam gemacht: Der traditioneUe, familienwirtschaftliche und nicht lohnorientierte Sektor der europiiischen Wirtschaften wurde wiihrend der Prosperitiitsjahre aufgesaugt, womit eine Wirtschaftsweise verschwand, die in friiheren Prosperi tits- und Depressionsjabren als Reservoir fiir wirtschaftliche Erholung und als Polster fiir wirtschaftlichen Niedergang gedient hatte. Eine weitere folgenschwere Konsequenz des Booms: Die Erfabrungen dieser Prospe rititsjabre, vor aHem der inflationiiren Spiitphase des Booms, haben die wirt schaftswissenschaftliche Konjunkturtheorie in eine tiefe Krise gestiirzt, die opti mistische Hoffnung auf eine theoriebegriindete Steuerharkeit der Konjunktur zer stort - eine Krise von der sich die Wirtschaftswissenschaften bis heute nicht er holt haben. Schlie61ich eine direkt nach dem Boom besonders viel diskutierte, krisenhafte Folge: Wie schon friihere Boomperioden fiihrte auch diese Prosperi titszeit in ihrer Endphase zu iiberhOhten sozialen und wirtschaftlichen ElWartun gen, zu einer zunehmenden Inflexibilitit der politischen Strukturen und Entschei dungstriiger und daher notwendigelWeise in eine Wirtschaftskrise. Der Nachweis, daB diese vielfiiltigen, teilweise his heute andauernden Krisenerscheinungen be reits in den Prosperititsjahren angelegt waren und nicht einfach Folgen der wirt schaftlichen Wachstumsstorungen seit 1973 sind, ist ein wesentlicher Grund fiir die Beschiiftigung mit der Geschichte des Booms2• Ein vierter, auf das Fach Sozialgeschichte heschriinkter, eher akademischer Grund fUr die historische Beschiiftigung mit dem Boom: Seit der Entstehung der modernen Sozialgeschichte hat sich diese Disziplin zumindest in Frankreich und der Bundesrepublik in besonders starkem Ma6e fUr die Auswirkungen von wirt schaftlichen Konjunkturen interessiert. In Frankreich hat vor aHem Ernest Lab- 2 Einige zusammenfassende Arbeiten aus einer riesigen Literatur: Lutz, ProsperillJt (Anm.1); Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. Das "Modell Deutschland" im Vergleich, Frankfurt a.M. 1987; Peter Flora, Krisenbewiiltigung oder Krisenerzeugung. Der Wohlfahrtsstaat in historischer Perspektive, in: W.J. Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung des WohlJahrtsstaats in Grofibritannien und Deutschland, 1850-1950, Stuttgart 1982; ders. (Hrsg.), Growth to Limits, 5 Bde., Berlin 1986 ff.; Hansjoerg Siegenthaler, Ansiitze zu einer generalisierenden Interpretation langwelliger Wachstumsschwankungen und ihrer sozialen Implikationen im 19. und fruhen 20. Jahrhundert, in: H. Kellenbenz (Hrsg.), Wachstumsschwankungen, Stuttgart 1981; ders., The Structure of Economic Fluctuations, Individual Choice and Organizational Behavior, in: J. Kocka/G. Ranki (Hrsg.), Economic Theory and History, Budapest 1985; M. Olson, The Rise and Decline of Nations. Economic Growth, Stagflation and Social Rigidities, New Haven 1982. 10 Gerold AmbrosiuslHartmut Kaelble rousse immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die franzOsische Revolution auch durch wirtschaftliche Krisenerscheinungen erzeugt worden ist. In der Bundesre publik hat das Buch von Hans Rosenberg iiber die GroBe Depression der 1870er und 1880er Jahre und ihre Auswirkungen auf die sozialen Mentalititen und die Politik eine ganze Generation von Sozialhistorikem gepriigt. Die wirtschaftli chen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Foigen von wirtschaftlichen Wechsellagen sind deshalb ein Standardthema der Sozialgeschichte. Freilich ha ben sich die Sozialhistoriker bisher vor allem fUr Epochen wirtschaftlicher Wachstumsstorungen interessiert. Uber die vielfiiltigen Folgen von wirtschaftli chen Prosperititsphasen haben sie dagegen sehr viel weniger nachgedacht. Der vorliegende Band nimmt vor aHem die zweite Frage, die nach den langfri stigen Weichenstellungen wiihrend des Booms, auf. Der Band beginnt mit einem grundlegenden Aufsatz von Burkart Lutz, der den Grundgedanken seines einfluB reichen Buches folgt und die zahlreichen Diskussionen iiber dieses Buch auf nimmt. 1m zweiten Teil des Bandes werden grundlegende Einzelaspekte der wirt schaftlichen und sozialen Folgen des Booms in der Bundesrepublik erortert. Un ter den wirtschaftliche Folgen steht vor aHem das auBergewahnliche Wachstum der Auslandsinvestitionen im Mittelpunkt: Harm Schroter untersucht das Wachs tum der bundesdeutschen Investitionen im Ausland, Hubert Kiesewetter das Wachstum der amerikanischen Investitionen in der Bundesrepublik. Danach be handelt Klaus Megerle als wichtige geseHschaftliche Foige des Booms die au8er gewohnliche, heute wieder aktueH gewordene Integration von Millionen von Fliichtlingen und Vertriebenen in der Friihphase des Wirtschaftsbooms der Bun desrepublik. 1m dritten Teil des Bandes werden schlie81ich die vielfliltigen wirt sehaftliehen und gesellschaftliehen Folgen des Booms in mehreren europiiischen Liindem dargelegt. Mit einer wesentliehen wirtschaftlichen Folge des Booms, dem Wandel und der Konvergenz in der Struktur der europiiischen Industrien, be schiiftigt sich Gerold Ambrosius. Bo Strath wirft die Frage auf, ob nieht die Wei chenstellungen, die in anderen europiiischen Landem wiihrend des letzten Booms erfolgten, in Schweden bereits in den 1930er Jahren gestellt wurden. Walther L. Bemecker untersucht, wie weit das Franco-Regime im Boom verfiel und damit der Boom in Spanien zu einem politischen Systemumbruch beitrug. Hartmut Kaelble schlie81ich versucht zu zeigen, daB das Tempo der Strukturwandlungen wiihrend des Booms in Frankreich auf der einen Seite erheblich unterschiitzt wurde, auf der anderen Seite erheblich haher war als in der Bundesrepublik und sich aus diesem Grunde die franzOsische und die bundesdeutsche Gesellschaft be triichtlich einander anniiherten. Boom ist ein stark akonomisch gepriigter Begriff: als ein Ausdruck von Auf schwung, Hochkonjunktur, Bliitezeit, Hausse, als das Gegenteil von Rezession, Depression, Krise oder Baisse. Eine allgemein akzeptierte, priizise Definition gibt es nicht. Selbst eine genaue Zeitbestimmung des hier behandelten Booms ist nur hinsichtlich seines Endes maglich. Sieht man einmal von dem europaweiten Ein bruch der Konjunktur 1966/67 ab, so war 1973 das letzte Jahr, in dem das Sozi-